"Scha-atz! Ich bin da-a!" Noah ließ seinen Rollkoffer stehen und fing an zu lachen. "Du hättest gerade dein Gesicht sehen sollen!"
"Ich ... Ähm ..."
"Das wollte ich hier drin schon immer mal sagen." War nicht gelogen.
"Was ... machst du denn zuhause?"
"Na ja. Ich wohne hier?", schmunzelte der große Brünette. Die Frage hatte er natürlich verstanden. David hatte ihn erst in frühestens einer Woche zurück erwartet. Nicht schon nach vier Tagen. "War keine große Sache. Ging alles viel schneller, als berechnet."
Nicht ganz die Wahrheit. Aber wenn einer einen triftigen Grund gehabt hatte, Essen und Schlaf auf ein Minimum zu reduzieren, um so schnell wie möglich wieder heim zu können, dann war das ja wohl Noah gewesen. Er war vor Ort außerdem auf gute Leute getroffen, die eine Menge von ihrem Job verstanden hatten. Und von seinem. Dass er so schnell zurückkehren konnte, war also auch Glück gewesen.
Und eine Team-Assistentin, die keine Bedenken gehabt hatte, mehrere Mitarbeiter einer Fluglinie zu bedrohen, um einen Platz in einer eigentlich ausgebuchten Maschine für ihn zu ergattern.
Der Rotblonde löste sich aus seiner Schockstarre und begann sofort ziemlich hektisch, alle Kataloge und Prospekte einzusammeln, die auf dem Couchtisch verstreut lagen. Auf den ersten Blick ging es dabei hauptsächlich um Schmuck.
"Nugget?" Der schien ihn gar nicht zu hören. "Was wird denn das?"
"Ich ... lasse hier einfach meine Sachen rumliegen, und ..."
"Und? Lass sie doch!"
"Nein, tut mir leid, das sieht ja aus als ob..."
Mit wenigen, schnellen Schritten war Noah bei ihm und griff nachdrücklich mit beiden Händen nach unten, sodass der Andere nichts mehr wegnehmen konnte. "Ja? Wie sieht es denn aus?"
"Als würde ich mich hier ... breit machen."
"Nein. Ganz anders. Als würde endlich mal jemand hier leben. Lass es liegen. Bitte." Erschöpft ließ der Größere sich auf die Couch fallen. Er wirkte blass und müde, das fiel jetzt deutlich auf.
"Hast du dir weh getan?", fragte David vorsichtig.
"Wieso?"
"Weil ... Gerade hat es ausgesehen, als hättest du das eine Bein nachgezogen. Irgendwie."
"Ach, das. Ja. Aber das ist schon lange her. Das Sitzen im Flugzeug ist nicht so gut. Und ich war ein bisschen nachlässig mit dem Training in letzter Zeit." Noah stand wieder auf und ging zum Sideboard neben dem Esstisch, wo er eine Schublade öffnete, aus der er eine Schachtel Tabletten nahm. Der Mann überlegte es sich dann offenbar, griff nach einer anderen Packung und drückte eine kleine, weiße Pille aus einem Blister. "Die hier, sollte auch genügen." Ein entschuldigendes Schmunzeln streifte seinen Gast. "Ist ja nicht so, dass gar nichts mehr geht. Und bei dir? Irgend etwas Neues?"
"Leider nicht." David war sichtlich nervös. "Die Hausverwaltung hat uns gestern kurz in unsere Wohnungen gelassen. Die Pflanzen gießen. Und so was. Aber sonst? Die ... sagen nicht richtig was."
"Ich meinte auch die wirklich wichtigen Dinge", lächelte der Größere. "Funktioniert das mit dem Nachsenden deiner Post? Hast du es geschafft der SS aus dem Weg zu gehen? Und wie ist Herbert drauf? Wo ist er eigentlich?"
Die Katze war von ihrem Lieblingsplatz auf der Couch verschwunden und hatte sich versteckt, noch bevor David gemerkt hatte, was los war. Oder besser gesagt, bevor Noah die Wohnung betreten hatte. Das hatte sie auch damals gemacht, nachdem der Rotblonde angefangen hatte, sich um sie zu kümmern. Es hatte einige Tage gedauert, bis das Tier genug Zutrauen gefasst hatte, erste Annäherungsversuche zu wagen. Zum Glück war es bestechlich. Ein Umstand der sehr hilfreich gewesen war. Kaum eine halbe Packung strategisch perfekt eingesetzter Leckerlis später, waren sie praktisch unzertrennlich gewesen.
"Ich weiß nicht. Er war gerade noch da."
"Verstehe." Noah tat zutiefst gekränkt. "So ist das also. Da frühstückt man noch zusammen, und kaum ein paar Tage später erinnert er sich nicht mehr an mich."
David konnte sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. "Ist dir das noch nie passiert?"
"Nie! Ich gebe deinem Dosenfutter die Schuld. Damit konnte ich ja keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Hast du schon zu Abend gegessen?"
"Ja. Auf dem Weg. Bin eben vom Sport gekommen. Na ja. Vor über einer halben Stunde."
"Die Treppe genommen?", fragte der Brünette mitleidig.
"Ja."
"Im dritten Stock aufgehalten worden?"
"Ja."
"Hab dich gewarnt."
"Ich weiß."
Noah hatte jeden Abend kurz angerufen. Um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Ob es Probleme mit dem Fernseher gäbe, weil er ihm die Bedienung des Gerätes nicht erklärt hatte.
Es gab keine. David schaltete ihn nicht ein.
Ob er alles fand und hatte, was er brauchte.
Natürlich. Er suchte nichts. Nie hätte er abgesehen von der Küche in irgend einem Raum dieser Wohnung einen der Schränke oder eine Schublade aufgemacht.
Und ja, Noah hatte ihn auch ausdrücklich ermahnt, bei Personenkontakt mit älteren Semestern im dritten Stock, höchstens höflich zu nicken und ansonsten wahnsinnig beschäftigt und sehr in Eile auszusehen. Leider war David dafür zu nett und hatte in einem Augenblick der Unachtsamkeit nicht auf ihn gehört. Nun war es zu spät. Der junge Mann kannte nicht nur Frau Sattler-Stolzes Lebensgeschichte, sondern wusste auch über den gesamten Klatsch und Tratsch im Haus Bescheid. Und darüber, dass die neugierige Dame, die Noah wenig liebevoll mit SS abkürzte, den festen Plan ausheckte, den IT-Spezialist mit ihrer einzigen Nichte zu verkuppeln.
Was durchaus bemerkenswert war, kannte die Alte doch anscheinend jedes Detail aus dem Leben ihrer anderen, zumeist wohl ahnungslosen Nachbarn. Bei dem Junggesellen oben im Penthouse, dürfte ihr allerdings etwas Entscheidendes entgangen sein.
"Wir sehen uns morgen, ja? Ich glaube, ich sollte echt ... ein bisschen schlafen", meinte Noah, nachdem er in der Küche seine Schmerztablette mit einem Glas Wasser hinunter gespült hatte. Dass er fix und fertig war, war auch deutlich zu merken.
"Ja. Gute Nacht."
"David!"
Was war denn jetzt los?! Das war wirklich laut gewesen. Und es klang absolut ernst! Ängstlich folgte der Rotblonde dem Anderen zur Treppe. "Ja?"
Mit der Katze auf dem Arm, Noah hatte sie also gefunden und erwischt, holte er tief Luft. Ganz so, als müsste er erst nach Worten suchen. Das Tier lag verkehrt herum. Auf dem Rücken. "Weißt du, dass Herbert gar kein Kater ist?!"
Gott sei Dank. Nichts passiert. "Ja, klar."
"Ja? Aber wieso heißt sie dann Herbert?"
"Anneliese hat sie nach ihrer ersten großen Liebe genannt."
Der Gesichtsausdruck des großen Brünetten schwankte zwischen Unglauben und Belustigung. "Geht gar nicht."
"Ist aber so. Der echte Herbert ist im Krieg gefallen."
"Zweiter Weltkrieg?"
"Vermutlich. Habe mich nicht getraut, zu fragen."
"Dann hat er sicher genug Schreckliches gesehen. So was hier, braucht er nicht auch noch. Da oben auf seiner Wolke. Ich finde, wir sollten uns was anderes einfallen lassen."
"Sie heißt aber nun mal so. Was stellst du dir denn vor?"
"Weiß Nicht. Wenigstens einen Mädchennamen!"
"Wie zum Beispiel?"
"Ich konnte noch nicht darüber nachdenken, okay? Bin ja auch ein bisschen überrascht, gerade! Kann doch nicht so schwer sein. Zählen wir halt mal ein paar auf."
Es schien ihm verdammt ernst zu sein. David musste sich schon auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen. "Gut. Ähm ... Anne, Barbara, Sabine, ..."
"Barbara nicht. Ich hatte mal eine Freundin, die so hieß."
"O-kay? Noch was, das ... des-wegen nicht geht?"
"Caroline." Der Größere dachte angestrengt nach. "Sofia, ... Chiara und Valerie."
"Ach so?"
"Ja. Und Gioia. Die hätte ich fast vergessen. Habe sie vor einem halben Jahr mal zufällig getroffen. Hat immer noch den gleichen Lockenkopf, wie damals. Um die zu fotografieren, brauchst du echt ein Querformat."
"Das ist ja ... interessant." Die Frisur meinte David eher nicht. Dieses Gespräch im Ganzen war ... na ja. Unerwartet?
Nachdenklich betrachtete Noah das Tierchen in seinen Armen. Es sah vergleichsweise klein darin aus. "Uns wird schon was einfallen." Er setzte es auf der Couch ab. "Bis dahin sage ich einfach Katze."
"Mach das."
"Ja. Gute Nacht, Nugget."
"'Nacht."
"Katze?"
Katze reagierte nicht. Noah ging schmunzelnd die Treppe hoch und ließ David im Wohnzimmer zurück. Mal wieder mit deutlich mehr Fragen als Antworten.
Hatte Frau Sattler-Stolze keine brisanten Infos, weil es ganz einfach keine gab? Brachte Noah nie einen Freund oder Liebhaber, oder was auch immer her, weil der Brünette nicht wollte, dass jemand etwas davon erfuhr?
Eher unwahrscheinlich. Er mochte nicht unbedingt der extrovertierteste Typ sein, aber genug Selbstbewusstsein um sich nicht zu verstellen, hatte er auf jeden Fall. Daran gab es gar keinen Zweifel. Also, wieso war da nichts?
Männer, die hier ein und aus gingen, würden der SS auffallen. Ganz sicher. Frauen vielleicht nicht unbedingt. Aber konnte das sein? Wenn es so war, was war das mit Julian dann gewesen? Eine einmalige Sache? So eine Art Ausrutscher, der halt ein paar Jahre gedauert hatte?
Der Goldschmied wusste auch nicht so recht, warum ihn das gerade so beschäftigte. Ging ihn doch alles nichts an. Nachdem sie sich damals ausgesprochen hatten, auf dieser Bank vor der Autowerkstatt, war das Thema erledigt gewesen. Er hatte ja auch deutlich gemacht, dass er absolut kein Interesse an einer Beziehung hatte. Von all diesen Scheißkerlen, hatte er endgültig genug.
Nur, der Mann, der gerade todmüde da oben in seinem Schlafzimmer verschwunden war, mit Schmerzen die inzwischen offenbar so stark waren, dass er kaum noch auftreten konnte, aber trotzdem mit einem Lächeln im Gesicht, war kein Scheißkerl.
Und, auch wenn das Wort damals vielleicht gefallen war ... Noah war ganz sicher nicht das Allerletzte.