Bestimmt schlief Noah noch. Es war kein Geräusch zu hören, als David aufwachte. Nicht einmal das leiseste. Er beeilte sich im Bad, schlich auf Socken die Treppe nach unten und wandte sich direkt in Richtung Ausgang. Der Plan war, sich auf dem Weg zur Firma ein Gebäck und etwas zu trinken zu besorgen. Vielleicht einen Orangensaft.
"Guten Morgen. Magst du nicht frühstücken?"
Für einen Moment schloss der Rotblonde die Augen. Dann drehte er sich um in Richtung Küche, wo Noah stand und lächelnd mit beiden Händen eine Tasse Kaffee umschlossen hielt. Er war barfuß, trug eine schwarze Pyjamahose zu einem weißen T-Shirt und sah fast wach aus. Zu diesem Eindruck trug maßgeblich bei, dass der Mann irgendwie keine Frisur hatte. Nur Haare. Und die waren um diese Zeit offensichtlich militante Separatisten.
Es war sowieso eine unmögliche Idee gewesen, lautlos verschwinden zu wollen. Zumindest die Katze hätte vorher noch Futter und frisches Wasser gebraucht.
Was hätte David sagen sollen? Dass er ansonsten in der Früh eine ganze Menge essen konnte, sich diesmal aber dagegen entschieden hatte, um ihn nicht zu wecken? Was immerhin die halbe Wahrheit gewesen wäre. Die ganze wäre gewesen, dass er längst nicht mehr hatte hier sein wollen, wenn Noah wieder zurück wäre. Weil er ihm nicht in die Quere kommen wollte. Ihm nicht. Was jetzt aber so war. Allein durch seine Anwesenheit musste der junge Mann das Leben des anderen stören. Weil das noch nie anders gewesen war. Er war im Weg. Schon immer. Jedem.
"Ich wollte keinen Lärm machen. Dachte, du bist noch nicht auf."
"Mir wäre es auch lieber, wenn ich noch ein paar Stunden unter meiner Decke bleiben könnte. So bis Mittag. Oder bis Ostern. Ich bin echt kein Morgenmensch", schüttelte der große Brünette den Kopf. Ganz so, als verstünde er selbst nicht, warum das so war.
Es waren zwei Gedecke vorbereitet. Die Bäckerei hatte ein Körbchen geliefert, dessen Inhalt Noah auf einem großen Teller angerichtet hatte und Herbert putzte sich bereits genüsslich die Pfoten vor dem leeren Futternapf. Sofort begrüßte die Katze David freudig, indem sie ihm schnurrend um die Beine strich.
"Du musst sie wirklich nicht füttern", sagte er und kraulte ihr dabei das Köpfchen. "Ich mach das."
"Stört es dich, wenn ich es tue? Das musst du mir sagen, weil ich nicht möchte, dass du dich über mich ärgerst."
"Was? Nein!" Wie kam er denn darauf? "Du sollst keine Arbeit mit meinem Haustier haben."
"Ist keine. Ich finde es sehr schön, nicht alleine frühstücken zu müssen. Und außerdem macht sie einen unwiderstehlichen Hundeblick, wenn sie etwas will."
"Ja", lächelte der Rotblonde, "ich weiß. Als wäre sie schon ganz nahe am Hungertod."
"Eben. Das kann ich nicht ignorieren. Da bricht mir ja das Herz. Kaffee?"
"Nein. Danke."
"Aha." Noah öffnete die Kühlschranktür, goss Fruchtsaft in ein Glas und stellte es vor David ab. "Ich habe ihn nicht gekauft, also muss es deiner sein. Sag mal, was isst du eigentlich?"
"Ich?"
"Ja. Abgesehen von Orange-Maracuja hier, gibt es nichts, das nicht vor dir schon da gewesen wäre. Und nirgendwo ist weniger drin. Womit kochst du denn?"
"Gar nicht."
"Aber ... wieso denn?"
"Weil das deine Küche ist. Und deine Sachen."
"Aha." Eine nachdenkliche Falte zog sich über die Stirn des Größeren. Das erklärte auch, warum alle Kataloge verschwunden waren, die gestern noch im Wohnzimmer gelegen hatten. "Verstehe."
"Du, ich habe leider auch gar keine Zeit. Ich muss heute ... etwas früher zur Arbeit. Also, dann."
"Bis später."
"Ja. Bis später."
Wenn David sich schon unsichtbar gemacht hatte, obwohl er hier alleine gewesen war, wie würde das erst werden, wenn Noah jetzt wieder zuhause war?
Er würde kurz im Büro vorbeischauen und dann erst mal einkaufen gehen. Es gab nämlich etwas, an das er fest glaubte. Und zwar daran, dass Menschen viel entspannter miteinander umgehen konnten, wenn zwischen ihnen eine ordentliche Mahlzeit stand. Bei ihm daheim blieben Themen, über die man sich bei Greaschtl und Strauben nicht unterhalten konnte, grundsätzlich unter dem Teppich. Abgesehen davon wurde am Tisch über praktisch alles geredet. Das konnte unmöglich Zufall sein.
Als David Abends die Wohnungstür öffnete, lag ein leichter, köstlicher Duft in der Luft. Etwas italienisches. Pasta vielleicht? Egal. Der junge Mann wollte nur schnell nach oben, um die Tasche mit den Sportsachen zu holen. Dann könnte er sofort wieder verschwinden.
"Komm rein, Essen ist fast fertig", kam es fröhlich aus der Küche.
Bei genauerem Hinsehen fielen ihm jetzt auch die beiden Gedecke auf dem Esstisch auf.
"Möchtest du ein Glas Wein dazu?"
"Was? Nein!"
"Nein zum reinkommen, zum Essen, oder zum Wein?"
"Zu ... allen dreien? Anscheinend erwartest du jemand, und ..."
"Ja, dich."
"Mich?"
"Du siehst aus, als würde dich das überraschen, Nugget."
Das traf es nicht mal annähernd. "Danke, aber ich will gar nichts essen, ich ..."
"Setzen." Noah zog einen der Stühle heraus und deutete darauf. "Du hast in einer halben Stunde noch immer genug Zeit, mir aus dem Weg zu gehen."
Bis dahin, würden sie sich unterhalten. Worüber auch immer.
David nahm da Platz, wo es vorgesehen war und sagte nichts.
"Was muss ich tun, damit du meine Lasagne probierst und nicht mehr das Gefühl hast, dass du nicht hier sein solltest?", fragte Noah geradeheraus.
"Das habe ich nicht."
"Nicht mal die Spurensicherung von CSI Miami würde einen Hinweis auf deine Anwesenheit finden." Er setzte sich und schenkte Mineralwasser in beide Gläser ein. "Worüber machst du dir so viele Gedanken?"
Der Rotblonde atmete erst mal tief durch. Was musste der Mann ihm auch immer solche Fragen stellen? Und dann auch noch in dieser ruhigen, aufmerksamen Art. Ganz so, als wäre es wirklich wichtig, was er, David dächte, oder zu sagen hätte.
"Ich will dich nicht stören."
"Bei?"
"Na, bei ... deinem Leben, eben."
Ein leises Klingeln ertönte aus Richtung Küche. "Ja, wie du gerade merkst, ist das auch unheimlich spektakulär." Lächelnd stand Noah auf. "Fertig."
Wenige Minuten später waren zwei Teller auf dem Tisch, die aussahen, als kämen sie direkt aus einer dieser Kochsendungen im Fernsehen. Was Noah einfach Gemüselasagne nannte, war als rundes, vielschichtiges Etwas in der Mitte angerichtet. Drumherum waren rote und weiße Sauce in feinen schwungvollen Kreisen, sowie einige kleine, grüne Blätter verteilt. Es duftete wunderbar. Daneben stellte er ein Schüsselchen mit Salat. "Rucola mit Birnen und Parmesan", erklärte er beiläufig, während er sich setzte.
Fast vorsichtig nahm David Messer und Gabel in die Hände. Er drehte das Ganze etwas, bis er meinte eine Stelle gefunden zu haben, in die er gut in das Türmchen hineinschneiden konnte. Was natürlich Blödsinn war, erstens sah es rundherum praktisch gleich aus und zweitens war es ja überall zum Essen gedacht. Der junge Mann wurde nicht enttäuscht. Es schmeckte wahn-sin-nig lecker!
Noah beobachtete sein Gegenüber gespannt.
"Die ist ... voll gut!", platzte es aus David heraus. "Von welchem Italiener hast du die denn geholt?"
"Von gar keinem. Ich fürchte, du musst dich mit mir alleine zufrieden geben."
Der Goldschmied sah zuerst ihn und dann das Gericht an. Dann wieder ihn. "Du hast die gemacht? Du kannst kochen?"
"Sag du es mir."
Er schüttelte leicht grinsend den Kopf und probierte eine Gabel von dem Grünzeug. Warum überraschte ihn das noch? "Balsamico?"
"Passt zum nussigen Geschmack der Blätter und bringt das Fruchtige der Birne schön zur Geltung."
"Selbstverständlich. Finde ich auch."
"Ja?"
"Keinen Schimmer", meinte David absolut ehrlich. "Es schmeckt toll zusammen, ich habe keine Ahnung, wegen was. Ich kann das nicht. Nicht so. Machst du das oft?"
Der Brünette musste lachen. "Kochen? Doch. Ich mag das gerne."
"Wer hat dir das beigebracht?"
"Lange Geschichte."
"Erzähl sie mir."
"Mein Papa und ich haben es gemeinsam gelernt. Wir mussten. Die Mama war nämlich mit Zwillingen schwanger und durfte Monate nicht aufstehen. Ich war zehn und unsere ersten Versuche waren grundsätzlich die Black-Edition von ... allem."
"Zwillinge? Dann hast du hast Geschwister?"
"Fünf."
David hörte auf zu kauen.
"Ich habe fünf Brüder. Zwei ältere und drei jüngere. Drei von ihnen sind schon verheiratet und haben Kinder. Und du?"
"Ich nicht."
"Verheiratet?"
"Ich meinte ..." Mist. Schon wieder. David konnte nicht mehr zählen, wie oft er wegen diesem Mann schon den Faden verloren hatte. So wie er grinste, war das nicht nur Absicht, es machte ihm Spaß.
"Nun, wir haben unser Bestes gegeben. Mama hat immer alles gegessen und uns sehr gelobt. Auch dann, wenn es furchtbar war. Und das war es! Papa hat uns schließlich ein Kochbuch für Anfänger gekauft. Wir haben uns zusammen durchgekämpft, Seite für Seite. Wir wurden besser."
"Wie man sieht."
"Gott sei Dank, du! Mit Wurstbroten hätten wir es auf Dauer nicht geschafft. Wir wären gestorben! Da wo ich herkomme, wird immer gerne und viel gegessen. Das gehört zum Leben dazu."
"Wo bist du denn aufgewachsen?"
"Auf einem Bergbauernhof im Südtiroler Etschtal."
"Dann bist du Italiener?"
"Ich bin Europäer", zuckte er mit den Schultern. "Ich habe eine Doppelstaatsbürgerschaft, weil meine Mutter Österreicherin ist. Magst du noch was?"
"Hm?"
"Lasagne? Es ist noch was da." Davids Teller war so gut wie leer.
Den Impuls das Angebot höflich abzulehnen, schluckte der junge Mann mit einem Blättchen Basilikum hinunter. "Gerne. Danke."
Noah kam mit einer weiteren Portion zurück. Er selbst blieb bei einer. Außerdem brachte er aus der Küche ein Dessert für David mit. Panna Cotta mit Himbeeren.
"Magst du nichts Süßes?", fragte er sein Gegenüber, nachdem der wieder Platz genommen hatte.
"Mögen schon."
"Aber?"
Etwas verlegen piekte der Brünette sich mit dem Zeigefinger in den Bauch. "Das geht nicht."
"Du spinnst ein bisschen."
Er lächelte. "Mangiare!"