Das erste Wochenende, das sie beide zusammen verbracht hatten, hatte also mit einem Abendessen begonnen. Es hatte sich länger hingezogen als erwartet. Vor allem, weil Noah unglaubliche Geschichten auf Lager hatte. Er erzählte sie alle bereitwillig, was umso bemerkenswerter war, weil er selbst dabei längst nicht immer gut weg kam.
Wie zum Beispiel die eine, als er im Alter von elf, gemeinsam mit seinem besten Kumpel fast eine Villa abgefackelt hätte. Josef hatte sich damals unsterblich in ein Mädchen aus der Nachbarschaft verliebt gehabt. Isabella di Angelo war ganze sechs Jahre älter und daher, milde ausgedrückt, nicht interessiert gewesen. Was ihren Verehrer wiederum veranlasst hatte, sich eine besonders romantische Geste zu überlegen, die seine Angebetete in jedem Fall von der Ernsthaftigkeit seiner Absichten hätte überzeugen müssen.
Die Idee an sich war nicht schlecht gewesen. Sie hatten Nachts um halb drei unter ihrem Fenster ein Herz in den Rasen gegraben und Benzin hineingeschüttet. Die ersten paar Minuten hatte es auch sehr schön formstabil gebrannt. Leider war Hochsommer und das Gras entsprechend trocken gewesen.
Das Haus war Dank des Eingreifens des Vaters der jungen Dame verschont geblieben. Der Mann war wohl ein ziemlich sportlicher Typ gewesen. Noah hatte gemeint, er habe nie wieder jemanden gesehen, der in Hauspantoffeln so schnell mit einem Feuerlöscher über eine Thujen-Hecke springen konnte. Trotzdem war für seine Gartenlaube jede Hilfe zu spät gekommen. Der Mann hatte nie herausgefunden, wer für diese Aktion verantwortlich gewesen war. Aber die Tochter hatte wohl einen Verdacht gehabt. Jedesmal, wenn sie Josef danach begegnet war, hatte sie ein bisschen schmunzeln müssen.
Rückblickend, so hatte Noah überlegt, während David sich vor Lachen kaum noch hatte halten können, wäre ein Umriss aus Teelichtern vielleicht die bessere Alternative gewesen.
Der Goldschmied war nach diesem Essen nicht mehr weggegangen. Es hatte heftig angefangen zu regnen und nach zwei Portionen plus Nachtisch, wäre an Training sowieso nicht mehr zu denken gewesen.
Am Samstag sahen sie sich kaum. David war Vormittags in der Firma, und am Nachmittag dann doch mal wieder im Sportzentrum. Als er von dort zurück kam, begegnete er Noah noch kurz an der Wohnungstür. Er musste gemeinsam mit seinem Chef und einigen seiner Arbeitskollegen zu irgend einer Abend-Pflichtveranstaltung. Den mehr als überraschten Blick seines Gegenübers quittierte der Brünette mit einem knappen, "In einem gut sitzenden Anzug sieht jede Ente aus, wie James Bond."
"Viel Spaß, 007."
"Du mich auch." Genervt nestelte der Mann an seinem Krawattenknoten herum.
"So schlimm wird es schon nicht werden."
"Aha? Warum wolltest du dann nicht mitkommen?"
"Weil so was immer schlimm ist."
"Wem sagst du das?" Desillusioniert schaute er an sich hinunter.
"Du siehst gut aus."
Zu behaupten, das Outfit stand ihm, wäre noch untertrieben gewesen. Nur ... Davids Blick blieb unweigerlich auf den Sportschuhen haften.
"Kannst du vergessen."
"Habe nichts gesagt."
"Ich ziehe keine anderen an."
"Würde ich nie vorschlagen."
"Mach ich nicht!"
"Okay."
Unschlüssig trat der große Brünette von einem Bein auf das andere. "Echt?"
"Nein, lass nur."
Noah ging zurück in den Vorraum, riss einen der Schränke auf, griff sich ein Paar edler schwarzer Schuhe, Oxford, er besaß also doch welche, und schlüpfte hinein. "Zufrieden?"
Grinsend biss David sich auf die Unterlippe. "Hab gar nichts gesagt."
Noah lächelte, als er zügig die Treppe nach unten lief.
Am Sonntag hatten sie viel Besuch. Alles Leute, denen David schon begegnet war. Nicht, dass er nicht versucht hätte, unauffällig zu verschwinden. Schließlich waren das alles Noahs Freunde. Da wollte der Goldschmied nicht dazwischen geraten.
Aber die waren kein bisschen überrascht, ihn hier zu sehen. Keiner von ihnen schien es seltsam zu finden, dass er da war. Eher im Gegenteil, es sah aus, als hätten sie das schon vorher gewusst. Und als freuten sie sich sogar darüber?
Es gab viel zu essen und zu knabbern. Sie sahen sich dabei alle zusammen einen Horror-Schocker an, der irgendwann dann auch in die Kinos kommen sollte. Der Rotblonde fragte lieber nicht, woher sie den jetzt schon hatten.
Wider Erwarten war die Sache sehr lustig. Es wurde viel geredet und noch mehr gelacht. Weil solche Filme am helllichten Tag und in Gesellschaft von kommentierfreudigen, cineastisch abgehärteten Männern und Prosecco-gedopten Frauen natürlich nicht annähernd so wirkten, wie bei Gewitter. Nachts. Alleine zuhause.
Im Laufe der folgenden Arbeitswoche spielte sich fast so etwas wie eine Routine zwischen ihnen ein. Erst als David schon fast auf dem Sprung war, stand Noah auf. Und auch das nur, weil er musste. Er war wirklich kein Morgenmensch. Entsprechend schläfrig saß er dann auch erst mal wahlweise in der Küche oder auf der Couch. Je nachdem, wo die Katze gerade war, deren morgendliche Langsamkeit seinem eigenen Gemütszustand am nächsten kam.
Ab Dienstag bekam der Mann den ersten Kaffee des Tages von David auf den Tisch gestellt, der Gähnen und Augenreiben längst als stummen Schrei nach Koffein identifiziert hatte. Eine lebenserhaltende Maßnahme, die Noah dankbar schmunzelnd, mehr als genoss.
Es waren nur ein paar Minuten, die der Goldschmied von der Arbeit hier her brauchte. Daher hatte er sich angewöhnt, in seiner Mittagspause nach der Katze zu sehen. Außerdem aß er eine Kleinigkeit. Ein einziges Mal begegnete er dabei Fanni. Nach Noahs eigenen Angaben, der wichtigsten Frau in dessen Leben. Die Besitzerin eines hellblauen Opel Corsa, war hier verlässlich zwei mal die Woche um seine Wohnung sauber zu machen.
Er selbst war tagsüber nie da. Dafür kam er Abends als erster nach Hause und immer bereitete er Essen zu. Für sich alleine machte ihm das oft keine Freude. Aber seit David da war, tat er es umso lieber.
"Hey, was machst du?"
"Was Leckeres", antwortete Noah zwinkernd, als der Goldschmied am Freitag Abend die Küche betrat.
"Riecht auch so." Beide Backrohre waren an, auf dem Herd standen mehrere Töpfe. "Soll ich den Tisch decken?"
"Danke, das ist lieb. Emma hat angerufen. Sie wird herkommen und mit uns essen. Du wirst sie ganz bestimmt mögen."
"Oh. Nein, da habt ihr sicher viel zu reden. Ist netter, wenn ihr den Abend zu zweit verbringt. Ich kann ins Kino gehen. Da ist gerade ein Film angelaufen, den ich sowieso gerne sehen wollte."
"Bloß nicht, ich will nicht ohne dich da sitzen. Sie hat nämlich gesagt, sie bringt jemanden mit", verzog Noah das Gesicht. "Wenn es wieder ein Vollidiot ist, muss ich ihn diesmal wenigstens nicht alleine ertragen."
"Aha? Kommt das vor?"
"Mit beeindruckender Treffsicherheit. Verlass mich nicht."
David müsste lächeln, weil Noah wirklich ernst aussah. Kein Zweifel, der Mann meinte das genau so, wie er es gesagt hatte.
"Gut. Vier Gedecke? So schlimm wird es schon nicht werden."
"Das sagst du immer. Warten wir´s ab", grinste er schief. "Darf ich mit ins Kino? Morgen?"
"Du magst französische Filme?"
"Oh, Gott. Nein. Nehmen wir einen anderen."
"Warum denn?"
"Die sind alle eine Katastrophe. Dauern ewig und es passiert genau gar nichts."
"Das ist nicht wahr."
"Ist es wohl! Ich habe mal einen angeschaut , da ging es um einen Doppelmord."
"Na, also."
"Man hat ihn nicht gesehen. Sie haben nur in einem Bistro darüber geredet. Zweieinhalb geschlagene Stunden lang!"
David schüttelte schmunzelnd den Kopf. Das würde wohl nichts werden. Der junge Mann begann das Porzellan und die Gläser aus den Schränken zu räumen.
Keine zehn Minuten darauf klingelte es. Noah machte auf, eine junge Frau mit streichholzkurzen, braunen Haaren und hektisch geröteten Wangen stürmte atemlos in den Vorraum, schlug die Tür hinter sich zu und stellte sich mit ausgebreiteten Armen davor.
"Ich freue mich auch, dich zu sehen, Liebes", meinte der Brünette abwartend. Gewöhnlich umarmte sie ihn überschwänglich und drückte ihn minutenlang. Aber diesmal geschah nichts dergleichen. Sie war überhaupt ... anders. Nicht nur ihr unerklärliches Verhalten, sie sah auch verändert aus. Ein weinig ... fülliger?
Noah ermahnte sich eindringlich, bloß nichts zu sagen! Vor Jahren waren eventuell mal die Worte "mein kleines Pummelchen" gefallen. Es war der Beginn des schlimmsten Semesters seines Lebens gewesen. Emma hatte konsequent aufgehört in seiner Gegenwart zu essen, vor allem dann, wenn er gekocht hatte. Jede Kommunikation war auf ein Minimum beschränkt worden. Was aber für sie sicher schlimmer gewesen war als für ihn. Sogar Lui hatte sich aus Solidarität genötigt gefühlt, ihn mit einer Form von Missachtung zu strafen, wie sie sonst nur Grippeviren und Schimmelbakterien zuteil wurde.
"David, nicht wahr?!", rief Emma ebenso erfreut wie verzweifelt. Eine seltsame Mischung. Er war gerade in ihre Reichweite gekommen, schon fiel sie ihm um den Hals.
"Ja, freut mich sehr. Wie vielter Monat?", fragte er lächelnd.
Noah winkte hinter ihr so panisch, wären sie im Freien gewesen, wäre sicher gleich ein Flugzeug gelandet.
"Fünfter."
Dem Hausherren entgleisten die Gesichtszüge.
"Es tut mir leid. Ich erkläre euch alles, das verspreche ich. Aber nicht jetzt." Draußen waren Stimmen zu hören. Ihr Gesicht glühte regelrecht, als sie zuerst dem Rotblonden und dann ihrem besten Freund einen festen Kuss auf die Wange drückte. "Helft mir. Bitte." Es klingelte. "Sie sind da."
Noah war mehr als irritiert. Von all den Fragen die in diesem Moment durch seine Gehirnwindungen schossen, suchte er sich die kürzeste aus. "Wer ist da?"
Mit einem letzten flehenden Blick in seine Richtung machte Emma auf. "Mama, Papa, darf ich euch Noah vorstellen?"
Unheimlich gerührt gab die Mutter ihm die Hand. "Danke für die Einladung. Es freut uns ganz besonders."
"Ein...la...?", stammelte er. Die junge Frau neben ihm krallte die Finger in seinen Unterarm. Viel zu fest. "Ja? Gerne", riss er sich zusammen. Anscheinend war das richtig, ihr Griff lockerte sich etwas.
Der Vater stand betont aufrecht, schaute ihm streng in die Augen und meinte kurz und knapp: "Das nenne ich eine gelungene Überraschung. Sohn!"