Wie David vermutet hatte, war Noah noch wach. Er saß in der Couchecke des spärlich beleuchteten Wohnzimmers. Die Katze lag eingerollt nicht weit von ihm. Etwa da, wo seine Füße gewesen wären, hätte er die angewinkelten Beine ausgestreckt.
Der Mann hatte Besteck in der Hand und aß etwas aus einer Keramikform.
"Hey."
"Hmmm." Kurz hob der Brünette die Hand. Die, mit dem Löffel.
"Darf ich mich setzen?"
"Kannst du nicht mehr schlafen?"
"Sie schnarcht", schmunzelte der Goldschmied. Das stimmte zwar, aber es fiel in Wahrheit kaum ins Gewicht. Er schlief auch sonst selten gut. "Und du?"
"Habe es noch gar nicht versucht. David, ich ... wenn ich dir vorhin Angst gemacht habe, dann tut mir das leid."
"Hast du nicht."
"Sicher? Weil ich ganz schön zornig war."
Noah konnte sein Gegenüber kaum ansehen. Schämte er sich? Wie süß war das denn?
"Ist mir auch schon passiert."
"Ich hätte das mit Emma alleine regeln müssen. Verzeih mir das."
"Und du?", schmunzelte der Rotblonde. "Verzeihst du mir auch?"
"Dir?" Noah stellte die Schüssel auf dem niedrigeren Couchtisch ab. "Aber, was denn?"
"Dass ich dich im Stich gelassen habe und du Emmas Eltern alleine ertragen musstest?"
"Da verstehe ich dich."
"Ja?"
"Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich auch abgehauen."
"Sie sind gewöhnungsbedürftig."
"An die will ich mich gar nicht gewöhnen."
"So katastrophal?"
"Du hast ja keine Ahnung. Was du zu ihrer Mutter gesagt hast ... Die war fix und fertig. Ich konnte richtig sehen, wie ihre Baldriantropfen aufhörten zu wirken."
"War ich zu unhöflich?"
"Nicht doch. Für deine Verhältnisse warst du fast schon liebevoll. Immerhin", überlegte er, "weiß ich aus eigener Erfahrung, dass du zu verbalen Ohrfeigen in ganz anderen Dimensionen im Stande bist."
"Dafür habe ich mich entschuldigt."
"Nein, ich fand dich schon damals ziemlich cool. Es war ja auch ganz schön frech von mir, einfach zu dir in die Werkstatt zu kommen. Ich hatte es verdient."
"Hattest du nicht", meinte der Rotblonde leise nach einem Moment des Nachdenkens. "Was ist das?"
"Tiramisu."
"Teilst du mit mir?"
"Natürlich. Du musst nicht fragen."
David holte sich einen Löffel aus der Küche und setzte sich neben Noah, der das Gefäß bereitwillig in seine Richtung hielt. Leider schaffte der Goldschmied es nicht, von dem cremigen Dessert zu kosten. Es wurde ihm nämlich wieder weggerissen, während der Andere alarmiert aufsprang. "Nein, warte. Ich habe eines ohne Alkohol für dich gemacht. Das ist im Kühlschrank."
Das war etwas irritierend. "Du, ich bin schon erwachsen."
"Weil, also, ich dachte ... Weil ich dich noch nie was trinken sehen habe, außer Saft und Wasser, da ..."
"Da dachtest du, ich hätte ein Alkoholproblem?"
"Ja. Ich meine, nein. Jetzt nicht mehr?"
"Gib her", schüttelte der junge Mann den Kopf.
Noah war zwar verunsichert, aber er setzte sich wieder. Und rückte endlich den Nachtisch raus.
Glückselig schloss David die Augen, als er davon probierte. "Hättest du gestern Morgen noch gedacht, dass du bald Vater wirst?"
"Hättest du gedacht, dass du mit einer Frau im Bett landest?"
"Touchez." Grinsend stieß der Goldschmied den Größeren mit dem Ellbogen in die Seite.
Der sah ihn einen Moment an und musste dann auch richtig lächeln. "Ich kann es nicht fassen, dass ich mich zu diesem Scheiß habe überreden lassen."
"Sehen wir das Ganze mal realistisch. Im Grunde hattest du keine Wahl." Einen Augenblick blieb es still. "Sie hat ziemlich Angst, weißt du?"
"Was wird denn das?", fragte der Brünette argwöhnisch. "Entschuldigst du dich gerade für meine offensichtlich durchgeknallte Freundin?"
"Weiß nicht. Würde es denn klappen?"
Noah hörte auf zu essen. "Du magst sie wirklich, hm?"
"Ja."
"Okay", räumte er ein, "ich habe sie angeschrien. Das hätte nicht sein müssen. Ich werde mich für die Lautstärke entschuldigen. Aber nicht für den Inhalt!"
"Es tut ihr leid."
"Ja, verdammt, das sollte es auch! Wieso zieht sie denn ausgerechnet mich mit rein?!"
"Dafür käme ja auch kein anderer in Frage", merkte David vorsichtig an.
"Weil ich als einziger blöd genug bin dieses Spielchen mitzumachen, oder was?"
"Nein. Weil du Emma gern genug hast um das für sie zu tun."
"Woher willst du das wissen?"
"Weil das was dir am meisten zu schaffen macht, deine Sorgen um sie sind. Das erste das dir in den Sinn kam war, was ihr hätte passieren können. Und dem Baby, weil du dachtest sie lebt gedankenlos weiter und passt nicht gut darauf auf. Deshalb bist du vorhin laut geworden. Nicht, weil sie dich ein bisschen überrumpelt hat."
"Ein bisschen?! Meine beste Freundin ist schwanger und sagt es mir nicht!"
"Ich meinte gerade die vollendeten Tatsachen, vor die sie dich mit ihrer Notlüge gestellt hat. Du denkst wieder als erstes an das Kind."
"Das kann ja auch nichts dafür. Du, ich weiß nicht, wie ich aus der Sache wieder rauskommen soll. Ich habe den richtigen Zeitpunkt verpasst. Oder gab es keinen? Was, wenn es nie einen gibt?"
"Mach dir da mal keinen Kopf. Das erledigt sich ganz von selbst. Habe da so ein Gefühl."
"Na, Hoffentlich hast du recht."
"Es war nicht deine Schuld."
"Versteht sich wohl von selbst!"
"Das meine ich nicht. Als wir uns zum ersten mal begegnet sind, da war ich echt unmöglich zu dir, ich ..."
"Vergiss es einfach."
"Nein, ich will das sagen. Das war ein beschissener Tag. Zuerst dachte ich, das geht. Ich stecke das weg. Aber es war nicht so. Je mehr Stunden vergingen, umso schwieriger wurde es. Ich kam irgendwann überhaupt nicht mehr klar und am Ende hast du dafür bezahlt."
"Nicht mehr klar womit?"
"Egal", winkte er ab. "Du konntest jedenfalls nichts dafür. Ich möchte, dass du das weißt."
"Wenn dein Tag anders gewesen wäre, wäre ich nicht abgeblitzt?", fragte Noah höchst interessiert.
"Wärst du schon. Aber netter."
Er seufzte traurig. "Dann wären mir viele Tränen erspart geblieben."
"Ja, sicher."
"Ich war bis in die Seele getroffen! Tief verletzt und gedemütigt. Jawohl."
"Natürlich."
"Denkst du, ich lüge?"
"Ich würde dir glauben, wenn du weniger Selbstbewusstsein hättest."
"Also gut. Erwischt. Vielleicht bin ich auch total erwachsen damit umgegangen."
"Abgehakt, noch bevor du zur Tür raus warst?"
"Alleine im Dunkeln getrunken."
"Du bist so blöd!" Sie mussten beide lachen. "Rutsch mal rüber."
"Wieso?"
"Das ist meine Katze. Wenn jemand sich an ihr die Füsse wärmt, bin ich das!"
"Hättest du wohl gerne!"
Der kleine Tiger schlug die Augen auf.
"Wirst du gleich sehen." Gemütlich streckte David sich aus.
"Bis da runter kommst du doch gar nicht!"
"Jetzt geht das wieder los!"
Die Katze wechselte missmutig die Couchseite.
"Siehst du?", meinte Noah, "das hast du jetzt davon."
"Ich? Du hast doch im Moment so gar keinen Lauf mit Frauen."
"Den hattest du ja wohl noch nie."
"Die eindeutige Zweideutigkeit habe ich gehört! Iss weiter, bevor es warm wird."
Noah sah von der Seite auf ihn hinunter und musste sich so zusammennehmen wie selten zuvor in seinem Leben um nicht lauthals loszulachen. Leider klappte es nicht so richtig, ihm kamen schon Tränen, während er verzweifelt versuchte einigermaßen ruhig zu bleiben.
"Was ... Das war keine Zweideutigkeit, ich meinte das Tiramisu!"
"Tschul-di-gung", japste der Brünette. Er bekam kaum noch Luft. "Aber das, das ..."
"Na, warte." Sehr ernst schaute der Goldschmied sich um.
"Kein Kissen zum Werfen in Reichweite?"
"Ich suche die Vase!"
Sehr leise war Emma am Morgen in die Küche geschlichen, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie würde sich wieder hinlegen. Es war noch viel zu früh.
Im Wohnzimmer schliefen Noah und David nebeneinander auf der Couch. Das konnte man definitiv so lassen. Nur die Katze hätte man eventuell bremsen können. Sie saß auf dem Tisch und leckte begeistert etwas aus einer Keramikform. Die junge Frau machte den Fernseher aus, der ohne Ton lief und zuckte mit den Schultern. Sollte das Tierchen doch ruhig auch seine Freude haben.
Einige Stunden später machte Noah die Augen auf. Er entdeckte Emma, die schweigend am Fuße der Treppe stand. Offensichtlich hatte die junge Frau gerade keinen Plan. Sie nestelte nervös am Saum ihres Pyjama-Oberteils herum und sah dabei äußerst schuldbewusst aus.
"Ist David schon zur Arbeit?" fragte sie vorsichtig.
Musste er wohl. Es war nach neun und er war nicht mehr da. Der große Brünette setzte sich auf und antwortete nicht. Das beruhigte sie so gar nicht. Zumal sie ihrem besten Freund jetzt alleine gegenüber stand. War er das noch?
"Hör mal", räusperte sie sich nervös, "ich verstehe total, dass du sauer bist."
Er fixierte sie nach wie vor mit einem durchdringenden Blick. Ein bisschen zappeln würde er sie noch lassen.
"Ich habe dir etwas aufgezwungen, was nicht in Ordnung ist. Von allen Männern in meinem Leben, bist du der einzige, der es über Jahre mit mir ausgehalten hat. Mir ist klar", ihre Augen füllten sich mit Tränen, "dass ich zwischen uns viel kaputt gemacht habe. Und es macht mich fertig, dass ich nicht weiß, ob du mich überhaupt noch in deiner Nähe haben willst."
Noah seufzte hörbar und breitete die Arme aus. "Ach, Pummelchen. Komm her zu mir."
Das Wort musste sie ihm diesmal wohl durchgehen lassen. Aus naheliegenden Gründen.
Zutiefst erleichtert stürzte die junge Frau auf ihn zu, fiel ihm um den Hals und drückte ihm mehrere stürmische Küsse ins Gesicht. "Du bist mein Schatz. Weißt du, wie lieb ich dich habe?"
"Das ist das einzige, das dich rettet, Herzchen."
"Wenn wir uns in ein paar Jahren wieder scheiden lassen, werde ich dir keine Schwierigkeiten machen. Versprochen."
"Also ... Emma, ich werde dich auf keinen Fall heira..."
"Schon gut", kicherte sie. "Reg dich ab, war nur ein Scherz. Und? Was war das heute Früh mit euch beiden? Läuft schon was?"
"Wir sind nur eingeschlafen."
"Wir?"
"Na gut. Er ist eingenickt und ich bin liegen geblieben."
"Hm. Übrigens, könntest du dich ruhig mal bei mir bedanken."
"Weil David deinetwegen die Flucht aus dem Gästezimmer ergriffen hat? Danke."
"Weil er noch da ist."
Der große Brünette stutzte. "Verstehe ich nicht."
"Hab gehört, die Firma, die den Brandschaden an seinem Wohnhaus begutachten soll, hat einen Großteil ihrer Messdaten verloren."
"Bitte, was?!"
"Kompletter Systemabsturz. Ja, die mussten noch mal ganz von vorne anfangen. Ist immer blöd, wenn so was passiert", grinste sie.
Noah hielt die Luft an. "Jetzt sag mir bitte, dass das nicht dein Ernst ist!"
"Gern geschehen", seufzte die junge Frau zufrieden. "Wie wäre es mit Frühstück?"