Wenn Noah nicht von sich aus anfangen würde über letzte Nacht zu reden, der Goldschmied würde es ebenfalls nicht tun. Leider glaubte er nicht daran, dass diese dumme Geschichte nicht zur Sprache kommen würde.
Er atmete tief durch, während er sich im Geiste schon mal auf eine Reaktion gefasst machte. Von einem lockeren Spruch, bis zu peinlichem Schweigen, lag so ziemlich alles im Bereich der Möglichkeiten. Es half ja doch nichts. Der junge Mann gönnte sich keinen weiteren Aufschub mehr, berührte seufzend das elektronische Schloss und öffnete.
Sofort schlug ihm ein Lärmpegel entgegen, der ihn instinktiv einen Schritt zurückweichen ließ. Das Stimmengewirr, das so gar nicht zu seinen Erwartungen, sich mit dem Anderen alleine wiederzufinden passte, schien aus Küche und Wohnzimmer zu kommen. Geklapper von Besteck und Geschirr war zu hören, mehrere lärmende Kinder rannten mit Flugzeugen aus Pappe um ihn herum.
Zwei Burschen, die der junge Mann noch nie gesehen hatte, versuchten vergeblich einem etwa Zweijährigen einen Autoschlüssel abzunehmen. Er piepste so schön, wenn man darauf drückte. Der winzige Bub dachte gar nicht daran, das mega-interessante Ding wieder herzugeben. Er schrie wie am Spieß.
"Keine Sorge, Nugget. Du siehst nicht doppelt." Noah war aufgetaucht, tauschte so schnell dass der Kleine es kaum mitbekam, ein glänzendes Spielzeugauto mit Sirene gegen den Schlüssel und warf diesen einem der Größeren zu. "Das sind meine jüngsten Brüder, Nicola und Matteo."
"Hast du gesehen, du Depp? So geht das! Ich würde mir echt Sorgen machen, wenn ich so blöd wäre, wie du!", blaffte gerade einer der beiden den anderen an.
"Und ich mir, wenn ich so hässlich wäre, wie du!", konterte der zweite und verpasste seinem Gegenüber einen kräftigen Schubs.
Diese jungen Männer sahen für David absolut gleich aus. Nicht nur annähernd, nein, voll-kom-men i-den-tisch!
Noah packte den maßlos verblüfften Goldschmied grinsend am Arm und zog ihn ins Wohnzimmer. "Alle mal herhören, das ist David!"
Da waren noch drei Frauen und ebenso viele Männer. Das konnten nur Noahs andere Brüder sein. Wie die Zwillinge waren sie ihm schon auf den ersten Blick ähnlich. Groß, kräftig, brünett und allesamt die Ruhe selbst. Bemerkenswert bei dem Chaos, das ihre Kinder gerade veranstalteten.
Davids Erscheinen erregte zu seinem Entsetzen sofort die Aufmerksamkeit sämtlicher Erwachsener. Es wurde noch lauter. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren schnappe ihn, sagte etwas auf italienisch und drückte ihn auf einen der Sessel am Esstisch. Eine andere stellte umgehend einen vollen Teller vor ihn, Einspruch zwecklos. Der Kerl neben ihm klopfte dem jungen Mann aufmunternd auf die Schulter und steckte das passende Steakmesser gleich senkrecht in sein riesiges Stück Rinderfilet. Von irgendwem bekam er ein Bier dazu.
"No, prego", meldete Noah sich aus der Küche, "er isst kein Fleisch!"
"Come per favore?", fragte die Schwarzhaarige erschrocken.
Man nahm ihm den Teller wieder weg und ersetzte ihn umgehend durch einen anderen, auf dem neben Ofengemüse noch cremige Polenta, geschmorte Kirschtomaten und Schafkäse drauf waren. Dafür aber gleich eine doppelte Portion.
Eines der Kinder krabbelte ihm auf den Schoß, es wurde von der Mutter geschnappt und schräg gegenüber in einem Kindersitz untergebracht. Sie strahlte David die ganze Zeit an. Die bildhübsche, blonde Frau hieß Chiara. Das konnte er sich merken. Und die Namen der Zwillinge! Was aber nicht wirklich zählte. Die konnte er nämlich nicht ansprechen, weil er sie nicht auseinanderhalten konnte. Was die übrigen betraf, so waren es echt zu viele Informationen in zu kurzer Zeit.
"Und du hast dich bestimmt gefragt, wieso ich einen so großen Esstisch brauche!", lachte Noah, als er mit einer weiteren, vollen Schüssel aus der Küche kam, diese abstellte und sich neben ihn setzte. Kurz griff er nach seiner Hand und drückte sie. Am liebsten hätte der Goldschmied sich daran festgehalten. Aber das ging ja nicht.
"Deine ganze Familie ist hier?", flüsterte er.
"Nein, nein. Bloß ein kleiner Teil davon", versuchte der Andere ihn zu beruhigen.
"Warum hast du mir das nicht gesagt?"
Noah schmunzelte nur. Hätte David davon gewusst, wäre er ziemlich sicher nicht nach Hause gekommen.
Arbeitsteilung schien es keine zu geben. Wie die Frauen, waren auch die Männer durchwegs praktisch veranlagt. Sie sorgten für Nachschub aus der Küche und fütterten wie selbstverständlich alle Kleinen in erreichbarer Nähe. Welches davon zu wem gehörte, war für David unmöglich ersichtlich.
Es stellte sich heraus, dass zwei der Brüder auf einer Fachmesse irgendwo in Deutschland gewesen waren. Sie hatten Frauen und Kinder dabei gehabt. Da war auf dem Rückweg der Zwischenstopp in Salzburg genau richtig. Matteo und Nicola waren in der Gegenrichtung unterwegs. Zu einem Rockkonzert nach München, wo der fünfte von ihnen lebte. Der war nur hergekommen, um dabei zu sein. Und die Zwillinge gleich mitzunehmen.
Ungewohnt ruhig war es auf einmal, nach dem Trubel der letzten beiden Stunden. Jetzt, wo alle weg waren, hätte Noah Gelegenheit gehabt über vergangene Nacht zu sprechen. Wenn er es gewollt hätte. Was offenbar nicht der Fall war. Er war wie immer und machte nicht mal den Eindruck, als würde er über das Thema auch nur nachdenken.
"Jetzt weißt du, was ich gemeint habe als ich sagte, meine Familie wäre groß und laut", schmunzelte der Brünette, während sie beide die Treppe nach oben gingen.
"Neugierig und liebevoll hast du vergessen."
"Das auch", gab er David recht. "Du kennst das in diesem Umfang nicht, oder?"
"Verwandte? Ich bin ein Einzelkind. Ich hatte eine Tante, die ist schon gestorben. Also, nein. Aber ich habe darüber gelesen."
"Dann warst du ja bestens vorbereitet!"
"Genau." Die Ironie darin war nicht zu überhören. Aber weil der Kleinere dabei lächelte, war es wohl gar nicht so schlimm gewesen. "Kommen sie an Weihnachten alle wieder her?"
"Nicht, dass ich wüsste. Gewöhnlich treffen wir uns da daheim bei unseren Eltern. Warum?"
"Weil mich deine Schwägerin vorhin gefragt hat, ob wir uns dann eh wieder sehen."
"Chiara?"
"Ja, die!" Wäre durchaus interessant gewesen, wie die Frau darauf gekommen war. "Was hast du denen eigentlich erzählt?"
"Über dich? Nicht so viel. Nur das, was sie unbedingt wissen wollten."
"Und das wäre?"
"Wie du heißt. Was du machst. Dass wir uns seit einem halben Jahr kennen und du mit Herbert hier eingezogen bist."
"Ins Gästezimmer!"
"Über Details haben wir uns eigentlich nicht unterhalten", grinste Noah und erntete dafür einen äußerst kritischen Blick. "Quatsch. Ich glaube schon, dass ich das erwähnt habe."
"Du glaubst? Kein Wunder, dass sie mich den ganzen Nachmittag beobachtet hat", schlussfolgerte David inzwischen durchaus amüsiert.
"Aber nein. Chiara ist halt ein fröhlicher Mensch!"
"Ist ein beliebter Vorname in eurer Gegend, oder? Hattest du nicht auch mal eine Freundin, die so hieß?"
"Hast sie gerade kennengelernt."
"Was?"
"Sie hat ein paar Jahre später meinen ältesten Bruder geheiratet", lachte der Brünette, weil der Goldschmied gar so überrascht aussah. "Findest du das seltsam?"
"Ich ... Wie ist denn das für dich?"
"Wirklich schön. Ich habe alle beide gern und finde, dass sie wunderbar zueinander passen." Noah griff nach der Hand des Anderen, der ziemlich geschafft aussah, und zog ihn die letzten paar Stufen hoch. "Warum haben wir eigentlich nicht den Lift genommen?"
David öffnete die Wohnungstür. "Darum."
"Oh, ja. Jetzt fällt es mir wieder ein." Der Essbereich und die Küche waren echt ein Fall für sich. "Ich wollte auch nicht so schnell wieder hier sein."
"Ja. Das könnte ein bisschen dauern."
"Ist nicht so tragisch, wie es aussieht", winkte der große Brünette neben ihm ab. "Habe ich in zwei Stunden alles gemütlich erledigt."
"Zusammen brauchen wir nur eine."
Bist du Samstags nicht meistens im Sportzentrum?"
"Kann ich später immer noch."
"Geh ruhig gleich, Nugget", schüttelte er den Kopf.
"Möchtest du mich loswerden?"
"Nein. Aber du sollst nicht deine Interessen vernachlässigen, nur weil du dich genötigt fühlst, mir hier zu helfen."
Der Rotblonde lächelte. Womit er gerne seine Zeit verbrachte, war noch nie jemandem wichtig gewesen. "Dafür sind Freunde da."
"Das ist mein Spruch."
"Gar nicht, der ist Public Domain. Außerdem ist es nicht übertrieben. Ich wohne ja anscheinend auch hier."
Der Größere grinste übers ganze Gesicht. "Okay. Wenn es dir nichts ausmacht, sage ich sicher nicht Nein."
"Gut. Wenn das jetzt geklärt ist, lass uns anfangen." Entschlossen machte David einen Schritt in Richtung Küche.
Mit weit ausgestrecktem Arm stoppte Noah ihn noch vor der Tür. "Oder", meinte er vollkommen ernst, "wir fackeln die Bude ab und fangen irgendwo ganz neu an!"
Wir? "Das ist dann Plan B", schmunzelte der Rotblonde, klatschte ihm ein Geschirrtuch ins Gesicht und machte sich an die Arbeit.
Könnte sein, dass es am Essen gelegen hatte. Oder an den lebhaften Gesprächen. Möglicherweise war es der entspannten Art dieser Menschen miteinander umzugehen zu verdanken. Und mit ihm. Aber David hätte später wirklich nicht sagen können, dass er sich schlecht gefühlt hätte. Von den ersten paar Minuten einmal abgesehen. Da hatte er durchaus einen kleinen Anflug von Panik niederkämpfen müssen. Alles andere wäre auch unrealistisch gewesen, er war schließlich immer noch er selbst. Allerdings hatte er kürzlich beschlossen, von negativen Gefühlen beherrschten Zeitabschnitten, im Nachhinein nicht mehr so viel Bedeutung beizumessen. Und dieser war sowieso nur sehr kurz gewesen. Nur, bis Noah lachend neben ihm gesessen und das Bier das David nie getrunken hätte, ganz nebenbei gegen ein Glas Mineralwasser getauscht hatte.