Vielleicht hatte ihn das Geräusch des Schlüssels geweckt. Oder er wäre sowieso in diesen Minuten aufgewacht. Als David sehr vorsichtig die angelehnte Schlafzimmertür ein wenig weiter öffnete, um nach ihm zu sehen, streckte Noah sich jedenfalls gerade. Er blinzelte ein paar mal und machte den Eindruck, als müsste er sich erst orientieren. "Du hast mich hier schlafen lassen?"
"Habe dich nicht wach gekriegt."
Ein Lächeln stahl sich um die Mundwinkel des großen Brünetten. "Hast du es überhaupt versucht?"
David zuckte schmunzelnd mit den Schultern. "Kann sein."
"Du hast mich hier schlafen lassen!", grinste Noah übers ganze Gesicht.
"Du hast mich auch bei dir schlafen lassen. Keine große Sache, also." War es schon. Aber er musste das nicht unbedingt merken. Am besten nie. "Kaffee?" Der Goldschmied hatte einen Coffee to go in der Hand.
"Und du hast mir Frühstück geholt?"
"So möchte ich diese schwarze Brühe ohne Milch und Zucker lieber nicht nennen."
"Du darfst sie nennen, wie du willst." Selig griff Noah nach dem Becher. "Mir rettet sie jedenfalls das Leben!"
"Ich weiß."
"Danke, Nugget."
"Schon gut", murmelte er. "Starbucks liegt ja direkt auf dem Weg."
"Weg? Weg wohin?"
"Von der Arbeit nach Hause."
"So spät schon?"
"Nach Mittag."
"Und da warst du dir sicher, dass ich noch hier bin?"
"Hatte so ein Gefühl. Was macht dein Bein?", wechselte er das Thema.
"Im Moment nicht viel. Kann aber auch am Schmerzmittel liegen. Ich werde das nachher mal ansehen lassen. Nur zur Sicherheit."
Der Rotblonde nickte. "Wie hast du dich verletzt? Also ... Nicht gestern. Ich meine überhaupt."
"Blöd, halt", schmunzelte Noah. "Ist schon ein paar Jahre her. Hatte auf dem Weg zur Uni einen Unfall mit dem Fahrrad. Ich war spät dran und habe an einer Kreuzung einen LKW rechts überholt. Der ist abgebogen, ich konnte nicht mehr bremsen und bin ihm unter die Räder gekommen."
"Hat er dich nicht gesehen?" In Davids Gesicht lag blankes Entsetzen. Er war selbst fast täglich mit dem Rad in der Stadt unterwegs.
"Konnte er gar nicht. Ich war in seinem toten Winkel."
Von dem Bild vor seinem geistigen Auge, wurde dem Goldschmied schlecht. Darum setzte er sich mal lieber auf die Bettkante. "Und das ist nie wieder gut geworden?"
"Ganz viel ist wieder gut geworden. Ich hatte innere Verletzungen, Abschürfungen, ein paar gebrochene Rippen. Davon merke ich schon lange nichts mehr. Nur das Bein hat es so sehr erwischt, dass es mich eben noch heute ab und zu daran erinnert, wie viel Glück ich an diesem Tag gehabt habe."
"So siehst du das?"
"Es ist die Wahrheit. Statt in deinem Bett, könnte ich jetzt auch auf einem Friedhof liegen. Wenn du mich fragst, ist mir das hier deutlich lieber."
"Ja, mir auch." Sofort biss David sich auf die Lippen. Er war sich sicher, dass Noah ihm das sofort um die Ohren hauen würde. Das konnte er so gut, dass der Kleinere regelmäßig komplett den Faden verlor. Aber nichts dergleichen geschah, der Brünette nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee und sah sich nachdenklich im Zimmer um. Der Mann suchte nach der Katze. Die hatte ihr Schläfchen heute Morgen nur kurz zum Fressen unterbrochen und war schnellstmöglich zu ihm zurückgekehrt. Es war zu gemütlich gewesen. Tatsächlich lag das Tierchen eingerollt am Fußende. Noah schmunzelte, als er es entdeckte. "Ich glaube, ich habe mich an sie gewöhnt."
"Du darfst sie ruhig öfter besuchen kommen." David hoffte sehr, dass er sich nicht so verlegen anhörte, wie er sich gerade fühlte. "Wenn du möchtest."
"Das sowieso. Aber es reicht mir noch nicht. Ich will sie außerdem jedes zweite Wochenende und in den Ferien."
Trotzig verschränkte der Rotblonde seine Arme vor der Brust. "In diesem Fall ... hängt meine Kooperation ganz stark davon ab, wie viel Unterhalt du rüber schiebst!"
Sie mussten beide lachen.
"Nein, im Ernst. Wenn du mal keine Zeit für sie hast, oder in Urlaub fährst, würde ich gerne auf sie aufpassen. Denkst du daran?"
"Das werde ich. Lieb von dir."
"Hast du schon was geplant in nächster Zeit?"
"Nicht wirklich." Oder eigentlich schon. Sobald das Geld dafür zusammen wäre. "Ich weiß, wo ich unbedingt hin will. Aber noch nicht, wann es so weit ist."
"Ja? Was Besonderes? Segeln in Asien? Mit dem Rucksack durch Australien? Oder lieber Sandstrand und Sonne? Karibischer Sommer?" Noah war gespannt!
"Fast. Skandinavischer Winter."
"Was? Was ... macht man denn da?"
"Fotos. Ich will Nordlichter fotografieren." David musste lachen, weil die Überraschung im Gesicht des Anderen so überdeutlich war. "Sieh mich mal an! Ich muss hier zuhause schon höllisch aufpassen, dass ich mir nicht dauernd einen Sonnenbrand hole. Was soll ich denn in der Karibik?"
"Ja, gut. Für dich ist Mauritius vermutlich wirklich lebensgefährlich", schmunzelte der Größere, auch wenn Davids Erklärung wohl eher als Scherz gemeint war. Mit seiner hellen Haut, den rotblonden Haaren und den strahlend grünen Augen war er im hohen Norden eindeutig besser aufgehoben.
"Und du", fragte er, "was ist dein Traumurlaub?"
"Ich bin so viel unterwegs", überlegte der Brünette, "dass ich ehrlich sagen kann, ich bin am liebsten zuhause."
"Salzburg ist ja auch gar nicht so übel." Vor allem nicht da, wo Noah wohnte.
"Das ist wahr. Schon als ich zum ersten Mal hier war, habe ich mir gedacht, das wäre es!"
"Wie lange ist das her?"
"Das war in meinem letzten Studienjahr. Es war kurz nach Silvester und saukalt. Die Getreidegasse sah aus, wie schockgefrostet. Aber mir hat es gefallen."
"Hast du hier Urlaub gemacht?"
"Nicht wirklich. Ich war ein paar Tage bei Julian. Er ist nur eine halbe Stunde entfernt daheim. Hat ein Haus am Attersee." Kurz hielt er inne, trank von seinem Kaffee. "Aber nicht mehr lange, wahrscheinlich", fügte er leise und nachdenklich hinzu.
"Ach so. Hast du dir deshalb hier einen Job gesucht?"
"Nein. Als ich umgezogen bin, waren wir nicht mehr zusammen, falls du das meinst."
"Aber ihr seht euch schon noch oft?"
"Im Moment leider nicht so. Er ist in der Schweiz. Da, wo der Teilchenbeschleuniger steht. Im Cern bei Genf."
"Was macht er denn?"
"Julian ist Mathematiker. Frag mich bloß nicht, woran er genau arbeitet", lachte Noah. "Ich verstehe zu wenig davon!"
Ja, klar! Wieso nicht? Der sah umwerfend aus, hatte ein Haus am See, war anscheinend der netteste Kerl überhaupt, warum sollte er dann nicht auch gleich noch überdurchschnittlich intelligent sein?! Sicher war es total unfair. Aber da war nichts zu machen! Mit jedem weiteren Detail das David erfuhr, mochte er Noahs Exfreund weniger.
"Nein, das mit meinem Job war eher Zufall", fuhr Noah fort. "Aber dass ich die Stadt schön fand und eben auch schon einige Leute in der Gegend kannte, hat sicher geholfen. Ich habe mich darauf gefreut, hier zu wohnen. War es bei dir auch so?"
"Ja, na ja. Ungefähr."
Nein, eher nicht. Noah musste von den genauen Umständen aber nichts erfahren. Wenn alles gut ging, würde er das auch nie. David hatte nämlich nicht vor, jemals darüber zu reden. Schon gar nicht mit ihm.
In Wahrheit hatte er einfach nur so schnell wie möglich aus Augsburg weg gewollt. Viel Auswahl hatte er in der Kürze der Zeit nicht gehabt. Er hatte damals aber auch eine Stelle in Frankfurt angeboten bekommen. Ausschlaggebend für die Entscheidung war am Ende einzig und allein die Tatsache gewesen, dass er mit dem Umzug nach Salzburg nicht nur sein Leben, sondern auch gleich eine Staatsgrenze hinter sich gelassen hatte. Auch wenn dieser Staat nur Österreich, und die Grenze nur wenige Kilometer von seinem neuen Zuhause entfernt war, hatte das nämlich eines bedeutet: Eine neue Sozialversicherungsnummer. Damit war David praktisch unsichtbar geworden. Und wäre es nur um ihn gegangen, wäre er es geblieben.
"Tom war bei mir", fiel dem Kleineren ein.
"Ja?"
"Hat mir das hier gebracht." Der Goldschmied stand auf. Er griff nach einem Umschlag auf der Kommode und öffnete diesen, um Noah das Papier darin in die Hand zu geben. Es war eine Rechnung über einen fast dreiwöchigen Aufenthalt in einem kleinen Hotel, die auf Davids Namen ausgestellt war. Sie trug einen Vermerk, die den Zahlungseingang der Gesamtsumme in bar bestätigte.
Noah grinste. Als hätte er schon davon gewusst.
"Ich ... Ich war da nie! Und ich habe das auch nie bezahlt!"
"Das weiß aber deine Versicherung nicht."
"Hat Tom auch gesagt. Aber trotzdem!"
"Schau", versuchte der Größere ihm zu erklären. "Das ist eine Win-win-Situation."
"Verstehe ich nicht."
"Ganz einfach. Der Laden gehört einer seiner Cousinen. Manchmal ist es für sie nötig ... ein bisschen Schwarzgeld über die Bücher laufen zu lassen. Und du bekommst eine Rückerstattung, wenn du das hier einreichst. Sicher nicht alles. Denn wie ich sehe, hast du es mit Essen und Getränken ganz schön krachen lassen", neckte er ihn.
"Das wäre Versicherungsbetrug. Fändest du das etwa in Ordnung?"
"Ähm ... Ja? Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, ich kann nichts dafür. Wo ich herkomme, ist das ein Volkssport."
"Kulturell so geprägt, oder was?"
"Si. Tut keinem weh. Außerdem hättest du doch wirklich dort sein können!"
"War ich aber nicht!"
"Dafür könntest du aber deinen Nordlichtern einen gewaltigen Schritt näher kommen."
Mist. Das war ein Argument.
"Ich ... weiß nicht."
"Kannst es dir ja noch überlegen", schmunzelte Noah. David sah zu süß aus, so hin- und hergerissen. "Kommst du am Sonntag zu mir? Ich habe Freunde zum Brunch eingeladen. Du kennst sie eh alle."
"Okay?"
"Schön. Gegen zehn?"
"Geht viertel vor elf auch noch?"
"Na, sicher. Schau vorbei, wann immer du magst." Noah stand auf und atmete hörbar scharf ein, kaum dass er mit beiden Beinen auf dem Boden war.
"Und du, fahr ins Krankenhaus und lass das röntgen."
Der Größere müsste sich schon sehr getäuscht haben, wenn er da nicht gerade echte Sorge in der Stimme gehört hätte. "Jawohl!"
Ein paar Leute wegen Sonntag anrufen, konnte er ja später immer noch.