"Nicht mehr da? Herbert? Wo ist sie?"
"Wieder bei ihrer Besitzerin."
"Aber, seit wann denn?"
"Paar Tage."
"Das sagst du mir gar nicht? Ich erfahre ja echt überhaupt nichts! Wie kommt denn das?"
"Anneliese hat wohl eine Nichte, die mit ihrer Familie in Niederösterreich lebt. Die Frau hat von dem Schlaganfall gehört, hat ihre Tante aus dem Pflegeheim rausgeholt und mitsamt der Katze mit nach Hause genommen."
"Oh. Darüber sollten wir uns freuen, oder?"
"Sicher. Anneliese hat Glück gehabt. Das sind gute Menschen, glaube ich. Ein finanzielles Interesse können sie jedenfalls nicht an ihr haben. Sie hat nicht viel. Außer Herbert."
"Tut mir sehr leid für dich, Nugget. Du hast die Katze so lieb gehabt."
"Ist eben so. Sie hat mir nie gehört. Ich kann trotzdem noch immer nicht glauben, dass die Kleine nicht mehr bei mir ist."
"Ich kann nicht glauben, dass wir nie einen anderen Namen als Herbert für sie gefunden haben!"
David musste nun doch ein wenig lächeln. Er sah hinüber auf die Hand, die der Andere noch immer fest in seiner hielt. "Noah?"
"Ja?"
"Warum bist du noch hier?"
Was für eine seltsame Frage. "Warum nicht? Wo sollte ich denn sein?"
"Nach allem was du jetzt über mich weißt? Weit weg. Würde ich dir nicht übel nehmen."
Was dachte David denn? Dass jeder der davon erfuhr, das Weite suchen müsste? Das käme überhaupt nicht in Frage. Jetzt noch weniger, als jemals zuvor.
"Ich habe schon erwähnt, dass ich alleine nicht aufstehen kann, oder? Quatsch. Was habe ich denn jetzt Furchtbares herausgefunden? Außer vielleicht, dass du anscheinend nicht auf Dreier stehst!"
Das hätte ein Scherz sein sollen. Kam aber natürlich nicht so an. Logisch, irgendwie. In dieser Situation.
"Du ...", David rang sichtlich nach Luft, "du schon?"
"Ey, für mich war neulich Nacht die Katze zwischen uns schon arg grenzwertig!", beeilte Noah sich, das Missverständnis richtig zu stellen. Er nahm sich eindringlich vor, mehr auf seine Worte zu achten!
"Das hast du gemerkt?"
"Dass du neben mir warst? Klar." Er drückte den Anderen ein klein wenig. "Habe irgendwann mal kurz geblinzelt und das mitgekriegt. Aber ansonsten habe ich echt zu gut geschlafen, als dass ich in diesem Moment wirklich darüber nachgedacht hätte."
"Ja. Ich auch", gab der Goldschmied zu. Dann rutschte er weg, stand auf und zog den Größeren gleich mit hoch.
Dem entkam ein kurzes, gequältes Schnauben. "Bequem war das nicht."
David sah das anders. Er hatte es ungleich schöner gefunden, eine Weile in Noahs Arm auf den kalten, harten Fliesen zu sitzen, als jemals alleine auf einer bequemen Couch.
Noch auf dem Weg in die Küche versuchte der junge Mann, diesen Gedanken abzuschütteln.
Der Größere griff nach dem Schmuckstück und folgte ihm.
"Ich habe ihn dir an eine Erbsenkette gehängt. Sie ergänzt ihn sehr stimmig. Finde ich."
"Habe ich schon gesehen. Es ist also wirklich ein Anhänger! Ich habe es vermutet." Noah war deswegen ein bisschen stolz auf sich.
"Darf ich dich fragen, woher du ihn hast?"
"Auf einem Flohmarkt gefunden."
"Interessant. Wie viel hast du denn dafür bezahlt?
"Zwanzig Euro."
David fing an zu lachen. Zum ersten Mal heute. Etwas an dieser Info erheiterte ihn ungemein.
"Wo kauft man überhaupt so Glassteinchen, die dann genau da rein passen? Sind die genormt?"
"Was denn für Glas?", fragte er.
"Na, die roten Dinger."
"Das sind Granaten. Man lässt sie passend schleifen."
"Was? Sind das Edelsteine?"
"Aus Böhmen, ja."
"Aber keine wertvollen, oder? Wer sollte denn Edelsteine in Modeschmuck reinkleben?"
"Du hast echt keine Ahnung, was das hier ist, hm?"
"Du wirst es mir sicher gleich verraten? Sag bloß, der ist echt?"
"Aber ja. Da sind einige Stempel auf der Rückseite, schau!" David nahm das Stück aus der Schachtel, drehte es um und zeigte auf eine Stelle mit einer kleinen Gravur. "Diese Fuchskopfmarke war von 1872 bis 1922 in Gebrauch. Sie steht für den Feingehalt. Entspricht in dem Fall vierzehn Karat. Dann hast du hier das Meisterzeichen, PV, sowie den Stadtbuchstaben. Der Punzierung nach, ist es um 1905 in Graz angefertigt worden. Damals haben die Entwürfe des Jugendstil größere Formate angenommen", erklärte der Goldschmied. "Wie bei diesem Anhänger. Er umfasst eine halbe Naturperle und insgesamt fünfzehn Granaten, die rund, beziehungsweise tropfenförmig facettiert, zwischen goldene Ranken gesetzt wurden. In seiner gesamten vegetabilen Gestaltung entspricht die Symbolik dem Baum der Erkenntnis. Die Steine den Paradiesäpfeln."
"Die von Adam und Eva?"
"Genau. Sie stehen für die Verführung. Das Unterbewusste und Traumhafte. Aber auch für den Aufbruch in ein neues Leben.
"Das hast du voll schön gesagt."
"Es ist ja auch ein schönes Stück."
"Aber, warte mal. Ist es etwa wertvoll?"
"Wie es jetzt hier liegt", überlegte der Goldschmied, "es ist filigran gearbeitet, hat nur ein geringes Gewicht. Etwa tausendsiebenhundert Euro, würde ich sagen. Für einen Sammler auch mehr. Willst du ihn verkaufen?"
"Ich ... Keine Ahnung? Nein?"
"Du siehst schockiert aus, Noah."
"Sag mir, was du ausgegeben hast. Das bezahle ich dir."
"Nein."
"Nugget, das geht nicht!"
"Ich habe bei dir gewohnt und du hast auch nichts dafür gewollt."
"Das kannst du nicht vergleichen. Bitte sag mir, wie viel dich das gekostet hat!"
"Die Kette hatte ich schon länger, die Steine habe ich zum Einkaufspreis bekommen. Und das bisschen Zeit das ich gebraucht habe, schenke ich dir gerne."
"Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu jetzt sagen soll. Danke! Hast du superschön gemacht. Du verstehst wirklich eine ganze Menge von deinem Job."
"Ja", murmelte David, während er eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm und zwei Gläser füllte. "Das ist ja auch das einzige, das ich jemals auf die Reihe gekriegt habe."
"Wieso sagst du das? Seit ich dich kenne, frage ich mich, warum du so wenig Selbstbewusstsein hast. Du solltest stolz auf dich sein. Und auf das, was du erreicht hast."
"Das bedeutet nichts."
"Gleich erzählst du mir, du hast deinen Meisterbrief geschenkt bekommen, was?"
"Woher weißt du denn, dass ich einen habe?"
Das Thema wollte der Größere aus naheliegenden Gründen nicht unbedingt vertiefen. Er hatte das damals zufällig herausgefunden. Hatte in den Personaldaten gestanden. Wie die Adresse.
David sah sehr mitgenommen und müde aus, als er sich auf einen der beiden Stühle setzte. Vielleicht ließ er es deswegen einfach auf sich beruhen. "Ich wollte so gerne", sagte er leise, dass mein Vater stolz auf mich ist. Nur ein einziges Mal."
"Und? Was hat er gesagt?"
"Nichts. Er hat gar nichts gesagt. Ich kann machen, was ich will. Ich bin und bleibe eine einzige Enttäuschung."
Noah traf das bis ins Herz. "Die Enttäuschung ist er, Nugget. Wenn er nicht sehen will wie du bist, ist das sein Problem. Nicht deines."
"Das kannst du gar nicht beurteilen." Es klang nicht wie ein Vorwurf. Nur wie eine simple Feststellung. "Du hast keine Ahnung, wie das ist. Was für ein beschissenes Gefühl das ist, wenn du keinem je reichst."
Es war längst klar, dass es hier nicht nur um diese eine Sache, oder nur um den Vater ging. Vielmehr schien David das auf sein gesamtes Leben zu beziehen.
"Das hast du nicht nötig. Lass es hinter dir."
"Glaubst du, ich hätte das nicht versucht? Es geht nicht. Es holt mich ein." Langsam drehte der Kleinere eine Visitenkarte unter seinen Fingern hin und her. Es war die, der Anwältin von vorhin. "Mich holt immer alles ein."
"Dann räum es aus dem Weg. Du kannst das! Du hast längst bewiesen, dass du zurückschlagen kannst. Sogar im wörtlichen Sinn."
"Nur weil ich mich das getraut habe, ein einziges Mal, solltest du keinen Rückschluss auf meine Persönlichkeit daraus ziehen. Das wäre ein Fehler. So was passt nicht zu mir. So bin ich nicht. So war ich nie, so werde ich nie sein. Ich kann niemand anderes sein, als ich selbst. Und darum werde ich auch nie eines Morgens selbstbewusst und mutig aufwachen. Das wird nicht passieren."
Unter seinem kleinen Finger schob Noah die Visitenkarte aus der Mitte des Tischchens nach gegenüber. "Ich glaube, du wachst jeden Morgen so auf. Du weißt es nur noch nicht."
Der Ausdruck in Davids Gesicht war kaum zu deuten, als er hoch sah. Es lag Verwirrung darin. Aber auch deutliche Überraschung. Kurz machte er den Mund auf. Ganz so, als wollte er etwas darauf antworten, tat es aber dann doch nicht.
"Nugget? Ich bin immer da."