"Hat dich ein halbes Glas Wein tatsächlich umgehauen?", flüsterte Noah, als er zurück in die Wohnung kam. Nachdem er die letzen seiner Gäste nach unten begleitet hatte, hatte er David eingenickt auf der Couch gefunden und lächelnd eine flauschige Decke über ihn gelegt. Er sah ruhig und entspannt aus. Da gab es ganz klar nur eine vernünftige Lösung: Leise sein!
"Hey." Verschlafen richtete David sich auf. Ein kurzer Blick durch die gewaltigen Dachfenster sagte ihm, dass es draußen stockfinster war. "Wie spät ist es?"
Neben ihm, auf der breiten Seite der Wohnlandschaft, hatte Noah gemütlich die Beine ausgestreckt und klappte eben sein Notebook zu. "Schon nach Elf, du kleines Murmeltier."
"Oh." Bald Mitternacht.
"Möchtest du nach Hause?" Noah rutschte rüber, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und legte einen Arm um ihn. "Ich fahre dich." Auf keinen Fall sollte sein Schatz das Gefühl bekommen, keine andere Wahl zu haben. "Bin schnell wieder angezogen." Noah roch leicht nach Shampoo und trug schon seine Pyjamahosen. Nicht ungewöhnlich, um diese Uhrzeit. "Oder bleibst du heute Nacht bei mir?"
Das war ziemlich peinlich. Und blöd. David wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Sicher, er hatte schon oft hier geschlafen. Aber nicht, seit sie beide zusammen waren. Jetzt war es irgendwie anders.
Noah merkte es wohl, weil sich ein verhaltenes Lächeln in seinem Gesicht zeigte. "Nur so." Er glaubte nicht wirklich daran, aber nach kurzem Nachdenken nickte der junge Mann in seinem Arm. Wenn auch etwas zögerlich.
Die Frage hatte sich ganz normal angehört. Ohne jeden Unterton. Und David wollte gerne bleiben. Nicht nur, weil es schon so spät war. Oder wegen dem Sauwetter. So wie er hier saß, warm zugedeckt an Noah gelehnt, war es gerade schwer vorstellbar, gleich alleine in einer leeren Wohnung zu sein. Voraussichtlich schon in weniger, als einer halben Stunde. Äußerst seltsamer Gedanke. Bisher hatte ihn das nämlich nie wirklich gestört.
"Das finde ich schön." Noah konnte gar nicht anders, als sich zu freuen. Ein Blinder hätte es ihm angesehen. "Ich habe dir ins Bad des Gästezimmers etwas Bequemes zum Anziehen gelegt. Die Hose gehört vermutlich eh dir. Dunkelrot?"
"Die habe ich schon gesucht."
"Emma hatte sie aus Versehen eingepackt. Das Mädel war schon immer ein bisschen chaotisch. Es tut ihr leid. So sehr, dass sie dir sogar was Süßes dazu gelegt hat."
"Das ist nett." David stand auf und ging auf die Treppe zu.
"Kommst du wieder runter? Wollen wir einen Film ansehen?"
"Gut. Ich brauche nicht lange."
Sehr sicher hatte der junge Mann nicht gewirkt. Aber kurz nachdem er oben verschwunden war, hörte Noah ihn aus irgend einem Grund laut auflachen und sein Herz machte einen erleichterten Sprung.
"Was ist das?"
"Nur Panini mit gegrillten Zucchini, getrockneten, in Öl eingelegten Tomaten von meiner Mama, Mozzarella und Pesto."
David schüttelte den Kopf. "Wann hast du die gemacht?"
"Während du geduscht hast." Noah hatte außerdem Teller und Gläser auf den Couchtisch gestellt. Auch eine Kerze. Aber die hatte er lieber doch schnell wieder verschwinden lassen. Weil es bestimmt besser wäre, wenn alles ganz normal wirkte. Alltäglich. Also nicht ... irgendwie romantisch. Oder so. Nicht, dass dadurch am Ende noch ein falscher Eindruck entstünde. "Du hast seit Mittag nichts mehr gegessen. Ich dachte, du magst vielleicht eine Kleinigkeit."
David setzte sich wieder da hin, wo er vorhin aufgewacht war und zog ziemlich unsicher die Beine an. Die Hose war tatsächlich seine eigene. Das T-Shirt nicht. Es war ihm zu groß.
"Was möchtest du gerne sehen, Nugget?" Noah hielt ihm die Fernbedienung hin.
"Ich weiß nicht. Mach du. Nichts Gruseliges. Und nichts, wo ich viel denken muss."
"Alles klar." Er ließ sich ebenfalls wieder am gleichen Platz, an dem er wohl schon den ganzen Abend verbracht hatte, zurück in die Kissen fallen. Was angesichts der Dimensionen dieser Möbel verhältnismäßig weit weg war. "Wir werden mal suchen. Was war vorhin so lustig, da oben?"
"Was?" Der Goldschmied war ohne Zweifel ein wenig rot geworden. "Ach, nichts. Darf ich mir eines nehmen?"
"Nur für dich gemacht", zwinkerte Noah, beugte sich weit hinüber und streifte kurz seine Hand. "Hey? Alles in Ordnung?"
"Irgendwie nicht." David stellte leise seufzend den Teller wieder hin, den er sich eben genommen hatte.
"Isst du das nicht gerne?"
"Doch, bestimmt. Wenn ich so kochen könnte wie du, hätte ich hundert Kilo", murmelte der junge Mann.
"Aber?"
"Ich weiß nicht. Das fühlt sich komisch an. Nicht richtig."
Ihnen beiden schlug das Herz bis zum Hals. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Noah rührte sich keinen Millimeter mehr. Zur Sicherheit. Aber alle Sorgen waren umsonst. Der Kleinere rutschte näher an den Anderen und kuschelte sich wieder unter dessen Arm. "Sonst bist du auch nie so weit von mir. Wenn wir woanders sind."
Das war wahr. Wann David angefangen hatte von sich aus Noahs Nähe zu suchen, nach seiner Hand zu greifen oder ihn zu umarmen, war nicht genau zu sagen. Sehr bald. Das war nicht schwer gewesen. Weil er nie den Versuch gemacht hatte so zu tun, als wären sie beide nur zufällig am gleichen Ort. Oder, als würden sie sich nur flüchtig kennen. Das sollte zwar im Idealfall so sein, war in der Vergangenheit aber eher selten die Regel gewesen. Der Mann zeigte seine Zuneigung ganz selbstverständlich, egal ob sie beide alleine waren, oder unter Menschen. Und er erwiderte jede Geste. Auch diesmal. Er zog ihn an sich und küsste ihn. "Und, Nugget? Wie ist es jetzt?"
"Ich glaube, so ist es mir lieber."
"Mir auch. Ich habe dich gerne nah bei mir."
"Es war einfach ..."
"Verstehe. Aber bloß weil wir Nachts hier alleine sind und du einen Pyjama an hast, falle ich nicht gleich über dich her. Egal, wo du sitzt! Versprochen."
"Glaube ich dir", versicherte David ihm leise. "Es tut mir leid, dass ich so ..."
"Müde? Hungrig? Liebenswert, hübsch, ..." Noahs angestrengt ernsthafter Gesichtsausdruck brachte den Kleineren zum Lächeln.
"Schwierig, wollte ich sagen. Dass ich so schwierig bin."
"Ach, Nugget. Sieh dich um in meinem Leben. Du kennst meine Familie", seufzte er. "Ich liebe sie alle. Aber sie sind wie eine Naturgewalt, die mich mit schöner Regelmäßigkeit mein Leben lang heimsuchen wird. Dann wären da noch meine Freunde. Julian wird sich eines Tages umbringen, ..."
"Ist der selbstmordgefährdet?", fragte David.
"Quatsch. Es gibt nur keine Extremsportart, die vor ihm sicher ist. Er hat sich aber schon enorm beruhigt. Bei Tom dagegen, sind es die Frauengeschichten, die ihm irgendwann das Genick brechen werden. Meiner beste Freundin Emma, der Queen of Darknet, bist du auch schon begegnet. Da erübrigt sich ja wohl jede Beschreibung. Und die sind nur die Spitze des Eisbergs. Dagegen bist du fast schon ein Synonym für Normalität. Glaub mir das ruhig."
"Hm. Wie normal bin ich denn noch, wenn ich dich bitte, nachher ein kleines Licht anzulassen? Damit es nicht ganz dunkel wird?"
"Ich stelle dir einen Stadionscheinwerfer auf, wenn du dich dann besser fühlst."
"Das wäre nett. Aber kannst du denn neben mir schlafen, unter so einem Ding?"
Das war ja wirklich zu niedlich, wie vorsichtig diese Frage gerade rüber gekommen war. "Ach, ich auch?"
"Dachte schon, dass ... du hier bleibst?"
"Hier? Im Wohnzimmer? Dir ist aber klar, dass ein paar sehr bequeme Betten zur Auswahl stehen, die alle breiter sind als diese Couch, ja?"
"Ja. Aber ..."
"Das käme dir wieder komisch vor."
"Ja."
"Obwohl es für nebeneinander in einem Bett schlafen schon einen Präzedenzfall gibt?"
"In meiner Wohnung. Nicht in deiner."
"Du hättest Rechtsanwalt werden sollen." Vergnügt sprang Noah auf und lief die Treppe nach oben, nur um nach kürzester Zeit mit seiner Decke und zwei Kissen wieder aufzutauchen, die sofort ihren Platz fanden. "Gönn mir wenigstens ein bisschen Luxus! Und was das Licht betrifft, habe ich auch schon eine Idee." Er verschwand im Vorraum und kam mit einer Vase zurück, die er auf das niedrige Tischchen stellte.
"Willst du Blumen holen um Glühwürmchen anzulocken?"
"Glühwürmchen sind was für Anfänger." Mit wenigen Handgriffen entzündete er eine Kerze und stellte diese in das Kristallglas. So war das absolut gefahrlos. "Blumen könnte ich trotzdem besorgen, wenn du welche möchtest."
"Mitten in der Nacht?"
"Klar. Ich könnte zum Beispiel einen Rosenverkäufer überfallen."
"Das würdest du für mich tun?"
"Wollen wir wetten?"
"Lieber nicht!"
"Na gut. Sie hätten sich vielleicht eh nicht mit der Kerze vertragen."
"Ganz zu schweigen von den Glühwürmchen!"
"Die reinste Todesfalle. Nicht auszudenken!"
Inzwischen mussten sie beide schon ganz furchtbar lachen!
"Hast du keine zweite Vase?"
"Ich bin schon stolz auf mich, weil ich diese eine habe!"
"Sehr schön. Darauf könntest du aufbauen."
"Bau du. Dann wird es auch was." Glücklich griff Noah sich Davids Teller, drückte ihm diesen in die Hand, zog den jungen Mann zu sich und legte ihm die Decke über die Beine. "Iss, bevor es endgültig kalt wird. Und wenn du noch was Süßes magst, es ist genug Kuchen da."
Und eine Großpackung Bounty von Emma.
Aus dem Film wurde nichts, weil irgend ein Sender eine Doku über Island zeigte, die sie beide interessant fanden und deshalb daran hängen blieben. Es war ruhig und gemütlich, aneinander gekuschelt in dieser Ecke. Und gar nicht mehr seltsam.
Abgesehen vom Fernseher erhellte nur noch das warme Licht einer kleinen Flamme sanft seine Umgebung. Sie war das letzte das David sah, bevor er einschlief.
Überhaupt war er oft müde, in letzter Zeit.