"Na", stellte die Blonde mit einem Seitenblick fest, "Da ist Tantchen wohl was entgangen." Skeptisch checkte sie jetzt Tom von oben bis unten ab, der dabei eine gewaltig ungesunde Gesichtsfarbe annahm. "Und? Wie sieht's mit Ihnen aus?"
"Ich ... Ähm ... ", begann der zu stottern, "muss echt los! Nach Hause. Weil ... Ist Heilig Abend und so!"
"Muttersöhnchen", knurrte sie ihm hinterher, während er schon die Flucht in Richtung Ausgang ergriff. Noah riss sich nur widerwillig von David los und erwischte seinen Kumpel gerade noch vor der Treppe, um sich für seine tatkräftige Unterstützung bei der Aufstellung dieses gewaltigen Baumes zu bedanken.
"Moment mal", überlegte Emma währenddessen. "Haben wir etwa Tom gerade vor einer Frau weglaufen sehen?"
"Ein Wunder!", stellte Noahs Mutter fest, die den Unteroffizier anscheinend ebenfalls gut kannte.
"Ein Weihnachtswunder!", lachten die beiden.
"Frau ...", versuchte Noah kurz darauf, das Gespräch mit dem Überraschungsgast in seiner Wohnung fortzusetzen.
"Stolze. Adele Stolze."
Stolze? Dem Gastgeber ging gerade ein Licht auf. Dritter Stock. Sattler-Stolze. SS?!
"Ich nehme gerne ein Glas Wein. Auch was Härteres, wenn Sie haben", fuhr sie fort. "Ich kann's gebrauchen!"
"Sie verbringen Weihnachten mit Ihrer Tante?", fragte Noah betont unauffällig.
"Das ist aber lieb", fand auch seine Mama.
"Würde ich nicht unbedingt so ausdrücken. Nein." Adele entschied sich ob des neugierigen Blickes ihres Gegenübers dann aber doch, die Umstände genauer zu erklären. "Seit fünfzehn Jahren verbringen meine Mutter und ich alle scheiß Feiertage alleine, weil die Alte meinen Vater erpresst. Sie will einfach, dass ihr Bruder bei ihr ist und nicht bei uns. Darum ist Tantchen an Weihnachten, Ostern und diversen Geburtstagen, auch meinem, praktisch immer am Sterben. Mein Vater ist ein gutmütiger Idiot und fällt darauf herein. Heute hat sie wieder gemeint das Ende zu fühlen, da habe ich den Notarzt gerufen. Tantchen hat sich natürlich mit Händen und Füßen gewehrt. Logisch. Sie weiß ja, dass ihr nichts fehlt. Aber ich habe dem Doc erklärt, dass sie maßlos untertreibt und ich mir total Sorgen mache. Weil sie immer wieder das Bewusstsein verliert. Die haben sie mitgenommen." Ein zufriedenes und nicht minder gehässiges Grinsen umspielte die Mundwinkel der korpulenten Dame. "Meine Tante ist einfach unmöglich", erklärte sie weiter und stürzte den doppelten Marillenschnaps, den Noah ihr soeben in die Hand gedrückt hatte, in einem Zug hinunter. "Was natürlich schwer zu glauben ist. Vor allem weil ich", ein deutliches Hicksen unterbrach ihre Überlegung, "so eine angenehme Persönlichkeit bin."
"Haben wir gleich gemerkt", meinte Emma dazu und klopfte einladend auf den Sessel neben sich.
"Oha", bemerkte Adele ihren runden Bauch. "Wer ist der Vater?"
Beinahe gleichzeitig auflachend, deuteten ausnahmslos alle Anwesenden auf Noah. "Er!"
Fast war es ihm so vorgekommen, als hätte er David bei etwas erwischt, das ihm peinlich war. Denn er war ein bisschen rot geworden und hatte erst mal gar nichts gesagt, als der Größere ihm nach dem Essen seine Hand entgegen gestreckt und gemeint hatte, "Wenn wir es noch rechtzeitig in den Dom schaffen wollen, sollten wir langsam los."
"Du hättest nicht mit mir hingehen müssen", lächelte David ihn an, als sie nach der Christmette zusammen zurück in Richtung Wohnung schlenderten, dicht gefolgt von Noahs Eltern, die sich den beiden freudig überrascht angeschlossen hatten.
"Es macht mir nichts", zuckte der Größere mit den Schultern. "Ich muss sagen, es war sogar recht schön."
"Findest du ... das seltsam?"
"Dass du zur Kirche gehst? Es gibt weitaus dümmere Arten, sich die Sonntag Vormittage zu vertreiben."
"Woher weißt du denn von den Sonntagen?"
"Tom hat es mir gesagt. Ist schon länger her. Er hat dich ein paar Mal reingehen sehen. Und es hat ja auch Sinn ergeben. Darum kommst du zum Brunch immer erst um Viertel vor Elf. Weil da der Gottesdienst zu Ende ist. Richtig?"
Der Kleinere nickte. "Ich habe ... mich oft verloren gefühlt in meinem Leben. Und alleine. Da hat es mir immer geholfen, dass ..."
"Jemand da war, mit dem du reden konntest?"
"Ja. Glaubst du an Gott, Noah?"
"Ich weiß nicht. Als Kind habe ich es getan. An den Osterhasen auch. Der Gedanke ist ja schon nett. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, gehört das alles für mich inzwischen eher zu Tradition und Brauchtum. Machst du dir jetzt Sorgen um meine Seele?", fragte der Größere lächelnd, weil David so nachdenklich zu ihm hoch sah.
"Um deine? Nein. Nie." Er drückte die Hand seines Liebsten etwas fester. "Gott liebt dich. Es ist ihm egal, ob du an ihn glaubst oder nicht."
Das brachte Noah zum Schmunzeln. Er ließ es allerdings unkommentiert.
"Und was die Existenz des Osterhasen betrifft", fuhr David ebenso ruhig fort, "die Frage ist noch nicht endgültig geklärt."
"Was ist denn hier los?", entfuhr es Noahs Mama, als sie das Wohnzimmer betrat. Zwei fast leere Schnapsflaschen zierten den Couchtisch, in den Kissen lagen schlafend und offenbar sturzbetrunken ihre Zwillingssöhne vor dem eingeschalteten Fernseher.
"Ein Weihnachtsspiel", erklärte Emma pragmatisch. "Es fängt bei Sissi Teil Eins an und geht ganz einfach: Immer wenn das Wort 'Majestät' fällt, muss jeder einen Schnaps trinken. Konnte dieses Jahr nicht mitspielen." Fast entschuldigend tätschelte die junge Frau ihr Bäuchlein. "Hab endlich Teil Zwei gesehen."
"Was man von den beiden da nich' behaupten kann." Nur minimal schwankend erhob sich Adele Stolze, enttäuscht den Kopf schüttelnd, ob der mangelnden Trinkfestigkeit ihrer Mitspieler. "Gute Nacht", grinste sie Noah an. "Falls Sie sich die Sache mit uns beiden noch überlegen, dritter Stock."
"Können Sie sofort vergessen, klar?", knurrte David die Frau noch in der gleichen Sekunde an und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung Tür. "Abflug!"
Lauthals lachend hob Adele in einer entschuldigenden Geste die Hände und Noahs Herz machte zum zweiten Mal an diesem Tag einen heftigen Sprung.
"Nicht zu glauben, was die verträgt", murmelte Emma fast ehrfürchtig. "Ich gehe dann auch mal. Gute Nacht, ihr Lieben." Noch kurz die Hand zum Gruß hebend, verschwand sie in dem Raum den Noah Homeoffice nannte, in dem er aber nie arbeitete. Darin gab es ein Schlafsofa. Und ein Ergometer, das er im Gegensatz zum Schreibtisch täglich benutzte, und von dem David zuerst gedacht hatte es wäre kaputt, weil die Pedale sich kaum bewegen ließen. Aber es war so eingestellt.
Die Zwillinge lagen schon richtig, sie hätten die Nacht ohnehin auf der Couch verbracht. Noahs Eltern hatten natürlich das Gästezimmer bekommen.
"Hey. Hier bist du." Der Goldschmied fand seinen Schatz auf einer der obersten Stufen der Treppe sitzend. Abgesehen von der Lichterkette des Christbaumes unten im Wohnzimmer, war keine Lampe mehr an. "Er ist wunderschön", lächelte David bei diesem Anblick ehrlich und es wurde sofort erwidert. "Bist du nicht müde?"
"Doch. Aber ... Ich habe das Wasser in der Dusche noch laufen hören und ..."
"Und da hast du dich nicht rein getraut?"
"Ich wollte dich nicht stören."
Einen Augenblick blieb David noch stehen, dann ging er zwei Stufen hinunter, setzte sich hinter Noah und schlang beide Arme fest um seine Brust.
Seine Hände auf die des Anderen legend, lehnte der Größere sich zurück und schloss die Augen. "Das fühlt sich unglaublich gut an", murmelte er.
"Ich weiß." David hauchte ihm einen Kuss hinter das Ohr. "Du machst das oft bei mir."
"Tue ich das?"
"Ja. Und ich liebe es." Eine ganze Weile saßen sie einfach nur so da. Fühlten den Herzschlag des Anderen und genossen den Moment. "Du machst dir Sorgen", unterbrach David irgendwann die Stille zwischen ihnen. "Emma?"
"Hast du es auch gemerkt?" Noah legte seinen Kopf etwas in den Nacken, auf die Schulter hinter sich.
"Ja. Und dabei bemüht sie sich so, einen fröhlichen Eindruck zu machen. Was bedrückt sie?"
"Ich weiß es nicht. Morgen versuche ich mit ihr zu reden. Ich hatte fast das Gefühl, sie geht mir aus dem Weg. Will sich gar nicht unterhalten. Adele ist ihr da gerade recht gekommen."
David entkam ein Kichern. "Bei der hättest du eine echte Chance!"
Entsetzt hielt der Größere kurz die Luft an. "Wow! Nein, danke. Die ist wirklich ..."
"Ganz schön viel Frau?"
"Das hast du sehr diplomatisch gesagt", schmunzelte Noah.
"Hast du ... mal darüber nachgedacht?", fragte der Kleinere nach einer Weile.
"Worüber?"
"Ich weiß nicht. Eine Familie zu haben. Ein Reihenhaus. Eine Frau. Und Kinder."
"Und einen Hund?"
"Ja."
"Doch", nickte Noah. "Schon." Er fühlte Davids Wange in seinem Nacken. "Warum fragst du das?"
"Du könntest", antwortet der leise. "Du könntest viel mehr haben, als ..."
"Als?"
"Mich."
Sanft aber bestimmt löste der Größere sich, drehte sich ein wenig nach hinten und zog David von der oberen Stufe direkt in seine Arme und einen zärtlichen Kuss. "Wie soll das gehen, Nugget? Mehr als dich gibt es nicht."
David fühlte, wie eine unglaubliche Wärme sich in seinem Körper ausbreitete und hoffte, dass es zu dunkel war um das sichtbar werden zu lassen. Bestimmt war er rot geworden. "Ich will dir einfach nur sagen, dass ich es verstehen würde."
"Und ich dachte, du versuchst mir zu sagen, dass du gerne in einem Reihenhaus wohnen möchtest."
"Du bist überhaupt nicht ernst!", musste er lachen.
"Doch. Bin ich. Sieh mich mal an." Langsam strich Noah ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Mein Leben, so wie es heute ist, ist kein Zufall. Und du bist mir auch nicht einfach passiert. Es waren Entscheidungen, die ich getroffen habe, weil sie mich glücklich machen. Du machst mich glücklich. Okay?"
David nickte verhalten.
"Ja?"
"Ja. Okay."
Und wenn es nötig wäre, ihm das noch tausend Mal zu sagen, bevor David es glaubte. Noah war entschlossen, es tun. "Gut. Lass uns schlafen, Nugget."
"Ich weiß nicht."
"Noch immer mein Bett?"
"Nein. Ich finde es nur gerade so schön warm und gemütlich, so. Ich will mich nicht rühren."
"Dass du das musst, habe ich nie gesagt!", zwinkerte der Größere. Dabei stand er mitsamt David in den Armen auf, dessen überraschten Aufschrei sofort mit einem Kuss erstickend.
Sie lachten beide sehr, als Noah ihn nur wenige Augenblicke später ins Bett warf, um ihn großzügig unter einer Unmenge Decken und Kissen zu begraben.