"Hey." Verschlafen kraulte David durch die Haare seines Liebsten, der hochschreckte und sich mit dem Ärmel über sein tränennasses Gesicht wischte. "Warum bist du denn so traurig? Es ist hoffentlich nicht meinetwegen?"
"Oh, Nugget!" Noah entkam ein verzweifeltes Schluchzen. Dabei hätte er das doch so gerne vermieden. Er hatte zuversichtlich sein wollen, das hatte er sich fest vorgenommen. Für David.
"Du musst nicht weinen. Es ist alles in Ordnung."
"Wie kannst du das sagen? Das ist es nicht, gar nicht! Du hast Leukämie."
"Ich weiß."
Er hatte tatsächlich lachen müssen, als alle diese Ärzte mit ihren ernsten Mienen vor ihm gestanden und versucht hatten, ihm schonend beizubringen, womit er ohnehin längst gerechnet hatte. Nicht konkret mit AML, aber auf jeden Fall mit etwas Beschissenem. Wie hätte es auch anders sein können?
Ganz ehrlich, David war wütend gewesen. Und er hatte sich so was von verarscht gefühlt! Vom Schicksal, vom Zufall, von Gott? Jemand musste doch dafür verantwortlich sein, oder nicht? Ausgerechnet jetzt!
Das wäre ja klar gewesen, hatte er die Damen und Herren noch wissen lassen, die einander daraufhin nur noch ratlos angesehen hatten.
"Hast du mit dem Onkologen geredet, Noah?"
"Er sagt, er darf mit mir nicht über dich sprechen." Der bittere Unterton war nicht zu vermeiden gewesen. "Aber ich bin vorhin Frau Dr. Haller über den Weg gelaufen. Die hat sich zu mir gesetzt und hat mir das Wichtigste erklärt. So, dass ich es auch verstehe. Das Was. Nicht das Warum, das begreife ich nicht."
Glück im Unglück sei es gewesen, hatte die Ärztin gemeint, dass David diese nicht für ihn bestimmten Tabletten geschluckt hatte, durch die er in der Notaufnahme gelandet war. Die Krankheit wäre sonst möglicherweise erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt erkannt worden, da die Symptome oft von jenen einer starken Erkältung kaum zu unterscheiden waren. Zumal David tatsächlich eine solche gehabt hatte! Wegen seines bereits geschwächten Immunsystems, hatte diese nicht nur einen ungewöhnlich schweren Verlauf genommen, der junge Mann war sie auch nicht mehr los geworden. Durch die Arzneimittel-Überdosierung, sowie der darauf folgenden Blutuntersuchungen, habe man aber rasch einen Verdacht gehabt. Eine Knochenmarkspunktion habe endgültige Gewissheit gebracht. So war es möglich gewesen, frühzeitig mit der Therapie zu beginnen. Denn jeder einzelne Tag sei wertvoll.
"Noah, über das Warum darfst du nicht nachdenken. Darauf gibt es keine Antwort. Es ist, wie es ist."
"Sollte nicht ich derjenige sein, der dich tröstet? Und nicht umgekehrt? Wie schaffst du es nur, so abgeklärt damit umzugehen?"
"Weil ich schon Zeit hatte, darüber nachzudenken. Über alles. Du nicht."
"Ich hätte dich nie alleine lassen dürfen!"
"Was wäre dann gewesen? Du hättest nichts ändern können."
"Ich hätte hier sein müssen!" Jede Zelle seines Körper schmerzte bei dem Gedanken daran, dass David ganz alleine mit dieser Nachricht gewesen war. Dass niemand seine Hand gehalten oder ihn in den Arm genommen hatte, während er, Noah, einen Walzer mit der strahlenden Braut seines Kindergartenfreundes getanzt hatte. Er würde sich das nie verzeihen. "Ich habe gespürt, dass es ein Fehler war, zu fahren. Aber ich habe es trotzdem getan! Ich hätte für dich da sein müssen, doch ich war es nicht!"
"Hör auf damit. Du tust dir nur selbst grundlos weh", flüsterte David sanft. "Ich habe nicht gewollt, dass du hier bist. Wenn es nach mir ginge, wärst du es auch jetzt nicht."
"Bitte, was?"
"Noah." Hilflos sah er auf seine Armbeuge mit der Nadel darin, folgte dem dünnen Schlauch nach oben und starrte den Infusionsbeutel an, aus dem Tropfen für Tropfen eine klare Flüssigkeit nach unten fiel. "Geh nach Hause."
"Schickst du mich weg, Nugget?"
"Was möchtest du denn tun? Dich neben mich setzen und meine Hand halten, bis ich sterbe?"
Die Onkologen hatten nicht lange um den heißen Brei herum geredet. Das Krankheitsbild machte eine intensive Chemotherapie notwendig, deren Ziel es wäre, eine komplette Remission zu erreichen. Es sollten alle Symptome beseitigt, sowie das Blutbild normalisiert werden. Immerhin, bei etwa 70% aller Patienten, würde das Inzwischen gelingen. Davids Alter, sein sehr guter körperlicher Zustand und die Früherkennung würden seine Chancen verbessern.
So weit, so positiv. Nur, wie lange, das war die Frage. Bei der Mehrheit der Patienten, sei mit einem Rückfall innerhalb von fünf Jahren zu rechnen, teilte man ihm nüchtern mit. Nur 15-25% könne man als dauerhaft geheilt betrachten. Günstiger wären die Prognosen nach Stammzellen-Transplantationen. Dafür bestünde aber im Moment noch kein Anlass. Dennoch wolle man nach einem geeigneten Spender suchen. Sollte doch nicht alles laufen wie erhofft, wäre man damit auf der sicheren Seite. Blutsverwandte wären die vielversprechendsten aller möglichen Kandidaten.
Leider hatte David nur noch einen einzigen. Seinen Vater. Der sollte ihm helfen? Ha! Der nächste schlechte Witz.
Noah konnte nicht fassen, was er eben gehört hatte. "Wie kommst du denn darauf? Du wirst nicht sterben! Daran darfst du nicht mal denken!"
"Vor dem Tod habe ich mich nie gefürchtet. Nur das Leben hat mir immer Angst gemacht."
Es war die Wahrheit. Und noch eine gab es: Wie auch immer das enden würde, er würde aus dieser Klinik lange nicht mehr raus kommen. Sehr lange nicht mehr. Da machte er sich nichts vor. Er würde in einem dieser Betten liegen, an die Decke sehen und warten. Auf was auch immer. Wochen. Monate. Miserable Aussichten.
Wie sollte man das nennen? Leben? Nein, wohl nicht. Früher hätte er das geglaubt. Heute nicht mehr. Dieses Wort war zu weit weg von dem, was er inzwischen damit verband. Freude, Freundschaft, Liebe. Dieses Gefühl im Herzen, das mit all dem untrennbar verbunden war, würde er festhalten und bei sich tragen. Für immer. Dafür wollte er dankbar sein, und mehr durfte er nicht erwarten.
In der Stille um ihn herum und der Einsamkeit in seinem Inneren, war es diese eine Erkenntnis gewesen, die zu ihm durchgedrungen war. Die sich, erst nur flüsternd, dann aber mit jeder Stunde lauter und lauter Gehör verschafft hatte, bis sie nicht mehr zu verdrängen gewesen war.
David hatte einen Schluss daraus ziehen müssen. Eine Entscheidung treffen. Das hatte er getan. Er ganz alleine, weil er es konnte. So war die Abmachung. Es ging nicht um ihn, oder das was er sich wünschte. Für ihn selbst gab es keine Alternative zu dem Abgrund, der sich unter ihm auftat. Für den Mann den er liebte schon. Noah war der letzte Mensch, der es verdient hätte, mit hinunter gezogen zu werden werden. Das durfte nicht geschehen. "Noah, ich möchte nicht, dass du bei mir bleibst."
"Gut. Okay. Du bist müde. Das verstehe ich. Dann komme ich eben morgen wieder."
"Du hörst mir nicht zu, Nummer Eins", sagte David leise und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wange. Etwas, das sich für Noah so vertraut anfühlte, so beruhigend.
Er griff nach seiner Hand, schmiegte sich an. "Warte." Mit einem Mal wurde ihm richtig schlecht. "Was ... Ich meine ..." Millionen flirrender Pixel flogen in rasender Geschwindigkeit an ihm vorbei. Ihm fehlte die Luft zum Atmen, die Dinger verbrauchten den ganzen Sauerstoff. "David? Machst du gerade Schluss mit mir?"