Nach dem Aufwachen, es war kurz vor Mittag gewesen, war Lui direkt aus den Federn in das angrenzende Gästebad geschlurft. Kaum anderthalb Stunden später, war er auch schon zufrieden mit seinem Äußeren. In den Händen einen grasgrünen Proteinshake, der erstaunlich gut mit der Farbe der Pailletten auf seinem figurbetonten Shirt harmonierte, machte der junge Mann sich auf die Suche nach Emma. Er fand sie in Gedanken versunken am Schreibtisch im Homeoffice.
"Oh. Mein. Gott. Ist das eine Birkin-Bag?!"
"Hä?" Desinteressiert betrachtete sie das Foto auf ihrem Bildschirm. Sie konnte seine Begeisterung nicht verstehen.
"Die Handtasche, Schätzchen!" Genervt verdrehte er die Augen. "Mal wieder keinen Schimmer, was? Na ja. Für dich war Stil schon immer das Ende vom Besen. Warum überrascht mich das überhaupt noch!"
"Ich habe gleich eine weitere Überraschung für dich!", fauchte die junge Frau und klatschte ihm einen Notizblock um die Ohren.
"Was ist dir denn über die Leber gelaufen?!", empörte Lui sich. Zum Glück war das Frühstück gerade noch im Glas geblieben.
"Kaum geschlafen."
"Weil?"
Mutlos ließ sie die Schultern hängen. "Ich hatte gehofft, im Leben von Davids Vater etwas zu finden." Ein müdes Kopfschütteln unterstrich ihre miese Laune. "Aber, nichts!"
"An was hattest du denn gedacht?"
"Egal. Irgendwas, womit ich ihn in der Hand gehabt hätte!"
"Erpressung?", hauchte Lui gespannt. "Ich bin ganz Ohr, Süße!"
"Aber nein. Ich nenne es lieber eine Win-win-Situation. Er gibt eine DNA-Probe für David ab, dafür behalte ich für mich, was ich weiß. So weit die Theorie."
"Und wie läuft es in der Praxis?"
"Gar nicht", knurrte sie. Der Mann ist aalglatt. Filialleiter einer Bank. Häuschen brav abbezahlt. Keine Altlasten. Nicht mal ein scheiß Strafzettel! In den Gemeinderat gewählt, sitzt außerdem im Pfarrkirchenrat, ist Mitglied im Kegelclub und im Sportverein. Eine wahre Stütze der Gesellschaft."
"Und was ist das da?", fragte Lui mit Blick auf das Display vor ihr.
"Nur ein Foto auf der Homepage des örtlichen Trachtenvereins." Mit mehreren Klicks begann sie, diverse Fenster zu schließen.
"Lass sie mich noch ein paar Minuten ansehen", bat Lui versonnen.
"Was ist denn so toll an dieser Tasche?!"
"Es ist eine Bir-kin-Bag! Sie kostet ein kleines Vermögen!"
"Vielleicht eine Fälschung. Die verkaufen die Dinger sicher in Tunesien am Strand."
"Eher nicht." Äußerst konzentriert betrachtete er die Frau, in deren Händen das gute Stück sich befand. "Fast alles an ihr ist Designerware. Diese Saison, nicht letzte. Nur die Jeans die sie trägt, könnten möglicherweise von der Stange sein. Was dem Gesamtbild übrigens nicht schadet. Im Gegenteil, es verleiht ihr einen gewissen unkonventionellen Touch, der ..."
"Wir sind hier nicht bei 'Shopping Queen', Lui! In Euro, wenn ich bitten darf!"
"Alles zusammen? Ein Kleinwagen, Liebes. Wer ist sie?"
"Ich glaube", murmelte Emma, "die Tochter des Bürgermeisters." Flink huschten ihre Finger über die Tastatur. Sie suchte etwas.
"Noch eine Stütze der Gesellschaft." Es klang so ironisch, wie es gedacht war. "Das Töchterchen verdient wohl ziemlich gut?"
"Wollen doch mal sehen ... Ah. Hier." Offenbar war sie fündig geworden. "Gerda Meinecke. Die ist Kindergärtnerin. Und arbeitet nicht mal Vollzeit."
"Zweiter Bildungsweg?"
"Was?"
"Reich geheiratet?"
"Keine Ahnung. Könnte sein. Ich habe gerade nichts zu tun", überlegte sie. "Weißt du was? Lass es uns herausfinden."
Gegen Mittag war David wieder in ein normales Zimmer gebracht worden. Endlich! Kaum eine halbe Stunde danach hatte Noah bereits davon erfahren.
"Nugget", versuchte er sich an einem Lächeln. "Schön, dich zu sehen."
"Es ist auch schön, dich zu sehen." David blickte ihn sorgenvoll an. "Du hast abgenommen. Geht es dir nicht gut?"
"Ach, das ist nichts. Ein bisschen, vielleicht", tat der Größere das Offensichtliche mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. "Jetzt habe ich wohl endlich mein Idealgewicht."
"Für mich siehst du aber überhaupt nicht ideal aus."
"Herzlichen Dank, auch!", schmunzelte er, packte blitzschnell den Rand seiner Haube und zog ihm diese über's Gesicht. "Die ist cool. Von wem hast du sie?"
Themenwechsel! Sehr gekonnt!
David wehrte sich buchstäblich mit Händen und Füßen gegen den gemeinen Überfall, der ihn kurzfristig das Augenlicht kostete. In diesen Momenten war er nur glücklich, fühlte sich gesund und stark. Leider wurde er immer schnell wieder daran erinnert, dass er es nicht war. Abgesehen von Herumliegen war inzwischen alles ermüdend. Manchmal sogar das. "Juliana hat sie mir mitgebracht", gluckste er.
"Gestern? Sie durfte zu dir?"
"Ich glaube, eine Ordensfrau darf in einem Krankenhaus überall hin."
"Ja. Das stimmt wohl."
Noah war keineswegs darauf gefasst gewesen, als er David zum ersten Mal ohne Haare gesehen hatte. Sie waren ihm nicht ausgefallen. Er hatte sie abrasiert, weil er es nicht mehr ertragen hatte, sie büschelweise auf dem Kissen, in der Bürste und zwischen den Fingern zu finden. Da war es ihm lieber so.
Die erste Beanie-Mütze hatte Nils ihm aufgesetzt. David hatte die Dinger am Anfang nicht unbedingt für sich selbst getragen. Sondern wegen der teils sehr geschockten Blicke seiner Besucher. Und das waren nicht wenige. Nie hätte er gedacht, dass es so viele Leute gäbe, für die er wichtig genug war, dass sie sich Zeit für ihn nahmen. Die Jungs aus dem Sportzentrum. Arbeitskollegen, seine und die von Noah. Freunde wie Tom oder Emma. Sogar Adele Stolze war schon hier gewesen. Auch, wenn es oft nur ein paar Minuten waren die sie bleiben konnten, weil darauf geachtet wurde, dass es nicht zu anstrengend war. Sie schauten immer wieder zu ihm rein. Und brachten außer Süßigkeiten, auch bald die unterschiedlichsten Beanies mit! Gehäkelt, gestrickt, genäht, aber allesamt superweich und angenehm. Jetzt war es so, dass David sie gerne aufsetzte.
Es war seltsam. Er war unendlich dankbar für jeden dieser Menschen, weil sie ihm das Gefühl gaben, nicht alleine auf der Welt zu sein. Und doch wäre er mit nur einem einzigen von ihnen zufrieden gewesen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als Noah für immer neben sich zu haben. Wie lange das auch sein mochte. Oder, wie kurz.
"Lui ist gestern bei mir reingeschneit."
"Simply the best?"
"Er hat sich den Klingelton selbst ausgesucht! Ich sage es dir nur. Ich gehe davon aus, dass er bald hier auftaucht."
"Okay." Das war es wirklich. So viele Geschichten wie David bisher gehört hatte, meinte er sowieso ihn bereits zu kennen.
"Immer, wenn der sein Beauty-Case im Gästebad auspackt, habe ich das Bedürfnis, meine Hausratversicherung zu erhöhen", murmelte Noah kopfschüttelnd, während er in einer Tasche kramte. "Ich habe dir was mitgebracht."
Flauschig warm streifte es Davids Gesicht und dann blickten ihn die großen, dunklen Augen der süßesten, schneeweißen Plüschrobbe an, die er je gesehen hatte.
"Die leben am Nordpol. Ich dachte, bis du selbst hinreisen kannst, ..."
Das Tierchen verschwamm ein bisschen. Tränen ließen so einiges verschwimmen. Aber nicht das wunderbare Gefühl das sich ausbreitete, als zwei geliebte Hände sich sanft und warm auf seine legten.
"Danke, Noah!"
Lui!"
"Was?" Schlaftrunken richtete der Mann, der eben noch wenig einfühlsam, aber dafür umso energischer geschüttelt worden war, sich im Bett auf.
"Igitt! Was ist das?!"
"Eine Algen-Gesichtsmaske. Würde dir übrigens auch nicht schaden. Wie spät ist es?"
Emma schüttelte sich angewidert. "So halb zwei, was weiß ich, sieh dir das an!" Sie stellte ihren Laptop vor seine Nase und klatschte begeistert in die Hände.
"Schätzchen, so geht das nicht! Ich brauche meinen Schlaf, ja? Weil ..."
"Klappe, hinsehen!"
"... Ich neige zu verquollenen Augen, wenn ich nicht ausgeschlafen bin und ..."
"Ich weiß es endlich!"
"... es schadet meinem Teint ... Du weißt was?"
"Das ist sie! Die Tochter des Bürgermeisters!"
Zu hoffen, Emma würde wieder gehen und ihn schlafen lassen, hatte erfahrungsgemäß keinen Sinn. Lui seufzte ergeben. Mäßig motiviert widmete er sich dem fraglichen Bild. "Sie sieht so aus. Aber sollte sie nicht Gerda heißen? Hier steht nämlich Tiffany drunter."
"Genau", grinste sie wie ein Lebkuchenpferd. "Hast du etwa schon mal von einer Nutte namens Gerda gehört? Geht doch nicht! In dieser Branche wäre das ja glatt geschäftsschädigend."
"W..."
"Das hier", triumphierend deutete sie auf den Bildschirm, "ist die Homepage einer sehr exklusiven Begleitagentur. Oberste Preisklasse", freute sie sich.
"Ein Escort-Girl!", hatte es nun auch Lui kapiert. "Grandios, muss ich sagen! Und die haben einfach so Bilder von den Mädels hier reingestellt? Für jeden sichtbar?"
"Aber, nein", winkte sie ab. "Man braucht einen Zugangscode."
"Den hast du?"
"Natürlich nicht. Ich habe die Seite gehackt."
"Oh." Das warf die ein oder andere Frage auf. "Wie bist du da überhaupt drauf gekommen?", erkundigte er sich ehrlich interessiert.
"Über ihre Konten."
"Eine Bank?", flüsterte er. "Ist das nicht gefährlich?"
"Nur, wenn man sich erwischen lässt", klärte Emma ihn auf. "Was ich nicht vor habe. Ihre Firma hat übrigens gerade eine großzügige Summe an ein soziales Projekt in Bangladesch gespendet, das Kinder vor sexueller Ausbeutung schützt."
"Das ist wirklich anständig von dir. Äh ... denen. Aber wie hilft uns das jetzt weiter?"
"Hör zu. Ich habe mir was überlegt. Davids Vater ist nicht angreifbar. An sein Gewissen zu appellieren hilft nicht, das hat Noah schon versucht. Wir haben nichts, das ihn dazu bringen könnte, eine Probe abzugeben. Aber ... wir können dafür sorgen, dass genug andere Leute in diesem beschaulichen Dörfchen ein ernstes Interesse entwickeln, ihn davon zu überzeugen!"
"Du meinst ...?"
"Ganz genau! Alle! Und mit den Stützen der Gesellschaft fangen wir an!"