Schwungvoll öffnete Tom die Tür zu Davids Zimmer. Die Klinke noch in der Hand, erstarrte er augenblicklich als er Liu entdeckte, der ihm fröhlich winkte. Na ja. Im Grunde bewegte er nur die manikürten Finger seiner leicht erhobenen Hand.
Die Gesichtsfarbe des Unteroffiziers wechselte schlagartig von puterrot zu weiß und wieder zurück. "Ich, ich ...", stotterte er, ohne den Blick von dem kleinen Asiaten abzuwenden, "komme ein andermal."
In Luis feinen Zügen zeigte sich ein süffisantes Grinsen, das mit jeder Sekunde breiter wurde.
"Ich mei... meine ... ich schaue an einem anderen Tag ..." Die Tür wurde wieder zugeknallt. Von draußen.
"Was war das denn eben?", fragte David irritiert.
"Ach, Gottchen. Wer weiß das schon so genau."
Als das nächste Mal jemand ins Zimmer trat, war es Kerem, Davids Trainer aus dem Kampfsportzentrum. Er hatte einen Kerl, etwa Anfang dreißig dabei und freute sich tierisch darüber.
"David, ich muss dir'n Kumpel vorstellen. Das ist Blue! Hab ihn eben zufällig in der Lobby getroffen!"
"Alter", grinste der, "Es gibt keine Zufälle. Schicksal, verstehst du? Ich hab den Aufruf auf eurer Homepage gesehen. Dachte mir, da machst du mit."
"Mega!", war Kerem restlos begeistert und umarmte ihn stürmisch.
"Was denn für ein Aufruf?", wollte David vorsichtig wissen.
"Eine Bitte, sich in die Datenbank eintragen zu lassen. Wegen Stammzellen und so."
"Das ... Ist auf eurer Seite?"
"Nicht nur da. Der Dachverband hat's übernommen. Es ist landesweit."
"Der Dachverband?" Das war unglaublich.
"Quer durch's Alphabet. Von A wie Aikido, bis Z wie Zumba, wissen alle Bescheid. Weil es wichtig ist."
"Zumba ist aber kein Kampfsport!" merkte der Andere an.
"Die kämpfen gegen Kilos, Mann!"
Schallendes Gelächter. "Außerdem wird es einen Info-Stand bei den Staatsmeisterschaften geben. Da arbeiten wir direkt mit dem roten Kreuz zusammen. Wie lange ist das eigentlich her, seit wir uns zuletzt gesehen haben?", fragte Kerem seinen Bekannten. "Fünf Jahre?"
"Dreieinhalb", verneinte der und zog sich einen Sessel ans Bett. "Wegen guter Führung."
"Das war mein Stichwort!", grinste Lui. "Bis morgen, Herzchen!" Er griff sich seine Sachen und schwebte hinaus.
"War das dein Freund?", fragte der Türke, als der junge Mann verschwunden war.
"Was?"
"Schau nicht so schockiert. Hältst du uns für blöd, oder was?", lachte er los.
"Wenigstens hat er jetzt ein bisschen Farbe im Gesicht", stellte Blue mit Blick zum Bett fest.
"Chill mal, ey. Hättest ruhig sagen können. Bist ja nicht der einzige."
"Es ist oft besser, das nicht zu sagen", meinte David leise.
"Bei uns gibt's keine blöden Sprüche. Wer keinen anständigen Umgangston auf die Reihe kriegt, fliegt raus!" Beide Männer nickten ernst.
"Du kennst doch den Tschetschenen, oder?"
"So ein riesiger? Mit Vollbart? Der nie redet? Ja?"
Blue schüttelte nachdenklich den Kopf. "Der Tschetschene", machte er eine bedeutungsvolle Pause, "redet schon. Aber nur ganz, ganz selten. Er denkt mehr."
"Das stimmt", bestätigte Kerem. "Ich weiß es. Ich war dabei. Und wenn er was sagt, dann ist es immer ... etwas unfassbar Bedeutsames. Tiefgreifendes. Etwas total Essentielles, eben."
Beide waren sich absolut einig.
"Oh. Ich dachte, er kann vielleicht nicht Deutsch", merkte David vorsichtig an.
"Nö", winkte Blue ab. "Der hat Germanistik studiert."
"Außerdem Philosophie und Literatur. Jedenfalls", nahm der Trainer den Faden wieder auf, "er ist mit einem Friseur verheiratet."
"Der ist vielleicht eine Quasselstrippe!", rief sein Kumpel aus.
"Gehört sicher zum Berufsbild!"
Am späten Nachmittag trat Noah aus dem geräumigen Lift des Krankenhauses und wandte sich wieder einmal schweren Herzens in Richtung Onkologie. David war in den letzten Wochen ruhiger und ruhiger geworden. Sagte inzwischen fast gar nichts mehr. Und er aß kaum noch, sah immer schlechter aus. Er meinte, er würde sowieso nichts schmecken. Eine bekannte Nebenwirkung von Zytostatika. Noah hatte Angst. Wie oft würde er durch diese Gänge noch gehen müssen? Was würde ihn erwarten? Heute? Morgen? Nächste Woche?
Eine Ärztin mit äußerst grimmigem Gesichtsausdruck, versperrt ihm, beide Hände resolut in die Hüften gestemmt, den Weg.
"Signore Capali", begrüßte sie ihn. Schon vor Wochen hatte sich herausgestellt, dass sie Verwandte in der Toscana hatte. "Wenn ich bitten dürfte!" Unmissverständlich deutete sie in ihr Büro.
Mit einem schlimmen Gefühl im Magen nahm Noah Platz. Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihn ebenso streng wie eindringlich an.
"So geht das nicht! Es ist richtig, dass THC unter gewissen Umständen die Begleiterscheinungen einer Chemotherapie mildert. Aber", sie machte eine gefährliche Pause, "es ist absolut nicht zielführend, das auf eigene Faust und ohne Absprache mit den behandelnden Medizinern zu versuchen!"
"Bitte?" Noah hatte keine Ahnung, wovon die Frau sprach. Nicht die geringste.
"Bei Ihnen, mein Lieber, laufen von Beginn an alle Informationen zusammen! Auch wenn Sie es nicht persönlich waren, gehe ich daher stark davon aus, dass Sie sehr genau wissen, wem wir diese Party in Zimmer 24 zu verdanken haben!"
"Ähm..." Langsam aber sicher begann er zu begreifen. "Gras? David?"
"Oh, nicht nur er! Auch die in den anderen beiden Betten! Die hatten heute aber noch keinen Besuch. Was man von ihrem Freund nicht behaupten kann. Bei dem geht es zu, wie auf dem Bahnhof! Ich möchte so einen Vorfall nie wieder erleben, ist das klar?"
"Ich ... werde mich darum kümmern."
"Dann hätten wir das ja geklärt."
"Wie schlimm ist es?", fragte Noah knapp.
"Machen Sie sich am besten selbst ein Bild. Viel Spaß, wünsche ich Ihnen." Ein Grinsen das bestimmt nicht gewollt war, huschte über ihr Gesicht. "Wir lüften seit über einer Stunde", murmelte sie. "Aber da drinnen riecht es noch immer, wie im Tour-Bus einer Hippie-Band."
"Nugget."
"Heeeeey!" Begeistert streckte David beide Arme nach Noah aus. Der lächelte und drückte ihn fest.
Zwei Krankenschwestern verließen kichernd das Zimmer.
"Wie geht es dir, hm?"
"Suuuuper."
"Das ... merke ich gerade", schmunzelte der große Brünette. "Sag mal", räusperte er sich, "von wem hast du denn ..."
"Hhhh! Ich kann deine Stimme sehen!"
"Aha?" Oh, Mann. "Wie sieht sie denn aus?"
"Wie meine", antwortete David total verständnislos. "Nur mit mehr Blau."
"Interessant. Magst du mir erzählen, wer dich heute besucht hat?"
"Hast du Pizza?"
Noah musste sich sehr zusammennehmen, um nicht laut zu lachen. "Leider nicht." Das war zu niedlich! "Aber ich kann eine besorgen", bot er an.
"Muss nich. Nutella?"
"Auf der Pizza?"
"Wahnsinn, ja!", war David sofort Feuer und Flamme. "Da wär ich nie drauf gekommen. Ich liebe das total, wie du denkst! Im Ganzen auch. Liebe ich dich." Er hatte noch immer beide Arme um den Hals des Größeren geschlungen, zog ihn nach unten und küsste ihn.
"Na, was wird denn das, Nugget", murmelte Noah gegen seine Lippen.
"Schläfst du mal mit mir?"
Jetzt musste er wirklich lachen. Eindeutig nicht zurechnungsfähig. "Fragst du das öfter Männer, mit denen du gar nicht zusammen bist?", wollte er wissen.
"Würde sich ausgleichen."
"So?"
"Mhm. War nämlich mal mit einem zusammen, mit dem ich nich geschlafen habe."
"So, so."
"Mhm. Is noch gar nich so lange her."
Dass sich David am nächsten Tag mit hoher Wahrscheinlichkeit an nichts davon mehr erinnern würde, war Noah bewusst. Ja, vielleicht hätte er die Situation nicht ausnutzen dürfen. Aber das Gefühl ihm wieder so nahe zu sein, von ihm umarmt und geküsst zu werden, war einfach nur wunderbar. Er schöpfte so viel Kraft daraus. Es gab nur sie beide. Und sie waren glücklich.
"Noah? Ich frag nur dich."
"Ich weiß, Nugget", flüsterte er. "Ich liebe dich auch."
Emma war die Coolness in Person. Als Noah überraschend sein Homeoffice betrat, sah sie ihm direkt in die Augen. So was von unschuldig.
Wenn Lui sich allerdings an einem Pokerface versuchte, waren die Erfolgsaussichten in etwa so hoch, als würde Minnie-Maus sich als Türsteher bewerben.
"Magst du etwas essen?", wollte die junge Frau von ihrem besten Freund wissen. "Wir haben Tapas bestellt. Sind noch welche da."
"Nein, danke. Ich hatte Pizza", schmunzelte er, sich bereits wieder abwendend. "Mit Nutella."
Die beiden tauschten einen ratlosen Blick.
"Und noch was. Mir ist klar, dass hier irgendwas läuft." Noah drehte sich nicht um. "Ich will nur eines wissen: Soll ich fragen, oder abwarten bis ich es aus den Abendnachrichten erfahre?"
"Gute Nacht", wünschte Emma ihm leise, aber bestimmt.
"Aha." An jedem anderen Tag hätte er sie nicht damit durchgekommen lassen. Aber heute war nicht jeder andere Tag. "Das habe ich mir schon fast gedacht."