Ein logisches Naturgesetz sagt, wer tief genug gräbt, der findet auch jede Menge Dreck. Emma steckte bis zum Hals darin.
Sie hatte für ihr Vorhaben nämlich nicht nur Hilfe im Real Life gefunden, sondern auch tatkräftige Unterstützung aus ihrem virtuellen Zuhause, dem Darknet bekommen. Sonst wäre ein Projekt dieser Größenordnung nicht machbar gewesen. Nicht in so kurzer Zeit.
Die Ergebnisse der intensiven Recherchen konnten sich sehen lassen. Die Menge an Bild- und Tonmaterial auch. Selbst schuld, wer jeder lustigen App den Zugriff auf Kameras und Mikros seiner Geräte erlaubte. War ja fast schon eine Einladung, so was!
Entsprechend Emmas Erwartungen, lag einiges auf dem Tisch. Es begann bei unmoralischen Nebenberufen, diversen heimlichen Affären und ein paar unehelichen Kindern. Sie wussten, bei wem der Gerichtsvollzieher ein und aus ging, wessen berufskrimineller Schwager schon wieder im Knast saß und welcher der Pfarrkirchenräte sich regelmäßig von der Domina seiner Träume an eine Hundeleine legen ließ. Ebenso, wer nicht wie in der Nachbarschaft verlautbart auf Kur, sondern in einer Entzugsklinik Leber und Ehe zu retten versuchte. Oder, wer kürzlich mit dem Erotik-Bomber nach Thailand geflogen und mit einer meldepflichtigen Geschlechtskrankheit wieder zurückgekehrt war. Es war fantastisch!
Zum Teil waren aber auch Dinge ans Tageslicht gekommen, die weit weniger spaßig waren. Sie waren auf einen Kerl gestoßen, der regelmäßig seine Frau ins Krankenhaus prügelte, fanden heraus, dass in Davids Heimatgemeinde öffentliche Gelder veruntreut wurden und entdecken Fotos auf privaten Rechnern, deren bloßer Besitz einen hinter schwedische Gardinen brachte. Vollkommen zurecht!
Ein Streitthema war die Frage gewesen, wie man das Ganze ins Rollen bringen sollte. Das war im Team emotional diskutiert worden.
In der Theorie gingen sie davon aus, dass jeder einzelne dieser vorbildlichen Bürger sein mehr oder weniger peinliches Geheimnis gerne für sich behalten wollte. Ergo, wäre er oder sie auch bereit, etwas dafür zu tun.
Menschen, denen Davids Vater täglich über den Weg lief, hätten andere Argumente als Noah. Und sie täten gut daran ihr Allerbestes an Überzeugungsarbeit zu leisten, wenn sie nicht alle zusammen auffliegen wollten.
Nur, genau dieser Punkt war moralisch äußerst bedenklich. Sogar für Emma. Die brisanten Informationen zu besitzen, war eine Sache. Sie öffentlich zu machen, eine andere. Immerhin ging es darum, ein Leben zu retten. Und nicht, Leben zu zerstören.
Sie beschlossen alle zusammen, eine letzte Chance zu gewähren und sich dafür an einen zu wenden, der alle seine Schafe ohnehin schon kennen musste. Auch die schwarzen. Bald, denn für David drängte die Zeit. Emma selbst würde es übernehmen, sich ins dörfliche Zentrum der Macht zu wagen. Nur für den Fall der Fälle. Einer hochschwangeren Frau würde man ja wohl kaum mit Gewalt begegnen. Schon gar nicht in einer Kirche. Der angebotene Aufschub sollte ihren guten Willen unterstreichen.
Um der Ernsthaftigkeit der Drohung Nachdruck zu verleihen, würden sie selbstverständlich trotzdem ein Exempel statuieren müssen. Eine Art kleines Rütteln. Würde das nicht zum Erfolg führen, gäbe es endgültig kein Zurück mehr. Dann würden sie das große Erdbeben lostreten. Ohne Rücksicht auf Verluste.
"Weißt du was es wird?", fragte Adele, die neben Emma auf der Couch saß. Seit die Nichte der Nachbarin eher zufällig den Weihnachtsabend in Noahs Wohnung verbracht hatte, war sie regelmäßig zu Besuch gekommen. Die Frau wirkte heute wesentlich ausgeglichener, als damals. Vielleicht, weil sie inzwischen ihre Diät aufgegeben hatte.
"Nein", lächelte die werdende Mama. "Ich weiß wie groß es ist und wie schwer, aber sonst noch nichts."
"Wolltest du es nicht erfahren? Ich wäre da neugierig!"
"Am Anfang schon. Aber es lag immer nicht richtig um es sicher zu erkennen. Und nachher dann, habe ich mir gedacht es ist eh egal. Ich werde es nicht zurückschicken."
"Stimmt auch wieder. Dann hast du noch gar keinen Namen ausgesucht?"
"Du sagst es. Kevin und Chantal werde ich zwar nicht in die engere Auswahl nehmen, aber davon abgesehen, können gerne noch Vorschläge eingebracht werden!"
Adele musste lachen. "Ich glaube dir sofort, dass diese Entscheidung nicht einfach ist."
"Viele Entscheidungen werden nicht leicht sein. "Emma war auf einmal sehr nachdenklich. "Mit Mädchen kenne ich mich aus. Aber auch wenn ich einen Sohn zur Welt bringe, mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Es gibt nämlich ein paar wunderbare Männer in meinem Leben." Sie warf eher unbewusst einen Seitenblick zu Noah, der in der Küche mit Gemüseschneiden beschäftigt war. "Da wird sich bestimmt einer finden, der meinem Jungen zeigt, wie man im Stehen gegen einen Baum pinkelt."
"Ich wusste es!" Mit einem betont theatralischen Seufzen sprang Lui neben ihnen auf. "Es bleibt mal wieder alles an mir hängen!"
"Vielleicht", raunte Adele breit grinsend, während er begann den Tisch für vier zu decken, "entscheidest du dich lieber für einen, der das schon mal versucht hat!"
Emma hatte auch am Freitag noch immer viel zu tun. Das war ihr nur recht. Es lenkte sie von ihren eigenen Sorgen ab.
Lui hatte einmal gemeint, sie würde ihre Probleme mit den Eltern auf Davids Vater projizieren. Sie hätte das gerne abgestritten. Aber vielleicht steckte doch ein Funken Wahrheit darin. Ein Psychotherapeut hätte sicherlich eine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage gehabt. Die junge Frau selbst, hatte keine.
Ja, Wilhelm und Elfriede waren ein Fall für sich. Ihre Tochter hatte null Verständnis für die Ansichten der beiden, zu sehr ärgerte Emma sich bereits ihr halbes Leben lang darüber. Und noch mehr, schämte sie sich dafür. Aber sie hatte ihre Eltern gern. Diese zwei Menschen hatten sie großgezogen und waren immer für sie da gewesen. Sie liebten sie. Ein Zwiespalt der Gefühle, der zu einem schmerzhaften Dauerzustand geworden war. Emma hätte ihre Eltern gerne weiterhin als Teil ihres Lebens gesehen. Ob das nach der Geburt des Enkelkindes noch möglich wäre, war jedoch mehr als fraglich. Noch immer hatte sie es nicht über sich gebracht, ihrer Familie die Wahrheit über diese Schwangerschaft und über sich und Noah zu sagen.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass Emma ihn seit Jahren den Mann ihres Lebens nannte. Freilich hatte sie es nie auf diese Art gemeint. Ganz am Anfang hatten sie einfach nur zusammen in einer WG gewohnt. Sonst nichts. Er war ja auch nicht der Kerl, in den man sich auf den ersten Blick unsterblich verliebte. Aber wer es auf den zweiten nicht tat, mit dem stimmte etwas nicht, dessen war sie sich schon lange sicher.
Noah hatte natürlich nie etwas gemerkt. Für ihn war sie von Beginn an die kleine Schwester gewesen, die er nie gehabt hatte und war es bis heute geblieben. Mit der Zeit hatte Emma diesen Umstand als das erkannt, was er war. Einen Glücksfall. Partner waren im Laufe der Jahre aufgetaucht und wieder verschwunden. Auf beiden Seiten. Aber sie zwei gemeinsam, irgendwie, gab es immer noch.
Und jetzt ging es ihm schlecht, dem Mann ihres Lebens. Sie würde alles tun, um ihm zu helfen. Die Aktion, die in nicht weniger als vierundzwanzig Stunden über die Bühne gehen sollte, war minutiös geplant!
Die junge Frau hätte es nicht für möglich gehalten, aber es war tatsächlich Lui gewesen, der den Großteil der Burschen aufgetrieben hatte, die Willens und in der Lage waren, eine nicht ganz legale Methode zum Erlernen von angemessenen Umgangsformen in der Praxis zu testen. Tom konnte schließlich nicht alles alleine machen.
Das Zielobjekt wurde seit Tagen überwacht. Wer nicht wollte, dass man ein Bewegungsprofil von ihm erstellte, der sollte eben sein Handy ausschalten.
Ein dumpfer Druck im Rücken ließ Emma unruhig werden. Langsam erhob sie sich aus ihrem Bürosessel und begann im Zimmer ein wenig auf und ab zu gehen.
Es war Abend geworden. Lui mixte einen Obst-Shake und verteilte das Getränk auf zwei Gläser. Er hatte die Absicht, eines davon Emma zu bringen. Suchen musste er seine Freundin nicht. Als er sich umdrehte, stand sie schwer atmend an der Schiebetür zur Küche und hielt sich dabei den Bauch.
"Wo ist Noah?", fragte sie nervös.
"Schon vor einer halben Stunde gefahren. Die haben doch heute so eine Firmen... Na, so was Wichtiges, halt."
Richtig. Daran hatte sie nicht mehr gedacht. Einfach toll!
"Schätzchen?" Äußerst kritisch zog Lui eine Augenbraue hoch. "Ich will ja nichts sagen, aber ... na ja." Seine volle Aufmerksamkeit war auf den Boden gerichtet. Konkret, auf die Stelle zwischen ihren Beinen. "Bei dir ... tropft ... irgendwas."