"Du liebe Zeit." Der Pfarrer auf der anderen Seite des Gitterchens wischte sich mit einem Stofftaschentuch über das Gesicht. "Das ist allerdings ein Knaller."
"Hab ich doch gesagt."
"Du hast ziemlich viel gesagt."
"Danke. Ich war schon immer sehr kommunikativ", berichtete Lui freudig. "Ich habe ja auch eine besonders faszinierende Persönlichkeit."
"Aha."
"Ja. Man hört mir gerne zu", war er sicher. "Natürlich habe ich es extrem abgekürzt! Meiner Meinung nach ist die ganze Geschichte nämlich jetzt schon viel zu lang. Würde man sie aufschreiben, könnte man damit 57 Kapitel füllen. Das wären sieben Stunden und zehn Minuten Lesezeit."
"Wie kommst du denn darauf?"
"Weiß ich jetzt auch nicht."
Es war verdächtig lange ruhig, ehe der ältere Mann mit bebender Stimme erneut das Wort ergriff. "Ich kenne David Behrens gut, ich habe ihn getauft. Dass er so krank ist, wusste ich nicht. Das tut mir aufrichtig leid. Ich werde für ihn beten." Er schluckte nervös. Es sah aus, als würde er fieberhaft überlegen. "Ich kannte auch seine Mutter. Ich habe sie getraut. Einige Jahre später, musste ich sie begraben."
"Und kennen Sie den Vater auch?", wollte Lui ehrlich interessiert wissen.
Die Frage ignorierend, räusperte der Alte sich. "Wie stellen Sie sich die nächsten Schritte vor?"
"Sie reden mit ihm. Vielleicht hört er auf Sie. Besser wäre es. Wenn Sie es nicht schaffen ihn zu überzeugen eine DNA-Probe abzugeben, und gegebenenfalls Knochenmark zu spenden, müssen wir eben leider ein paar Dinge verraten, die nicht so gut in Ihr friedliches Dörfchen passen. Könnte unschön werden."
"Das ist gar kein Ausdruck."
"Eben. Vor allem für Davids Vater wäre das doppelt blöd. Der muss dann umziehen. Es wird nämlich so aussehen, als wäre er schuld daran, dass all diese Peinlichkeiten ans Licht kommen und jeder alles erfährt. Was ja auch so ist. Irgendwie, wenigstens."
"Wie ... ernst muss ich diese Drohung nehmen?"
"Drohung? Das ist keine", winkte Lui ab. "Es würden bloß ein paar Sachverhalte geradegerückt. Als kleinen Vorgeschmack, haben wir schon damit angefangen."
"Wie meinst du das?"
"Nicht so wichtig."
"Ich bitte dich", flehte der Pfarrer, "was ihr verlangt ist ... sinnlos!"
"Sehen wir nicht so."
"Ich bin an das Beichtgeheimnis gebunden!", flüsterte er eindringlich.
"Bei mir nicht. Ich bin Protestant."
"Hast du nicht gesagt, du bist katholisch?"
"Ich habe gesagt, ich bin getauft!"
"Richtig." Erneut kam das Taschentuch zum Einsatz. Diesmal wesentlich hektischer. Das Meiste was der junge Mann frisch fröhlich ausgeplaudert hatte, war dem Seelsorger unbekannt gewesen. Offenbar ließen nicht wenige seiner Schäfchen gewisse Feinheiten bei der Beichte geflissentlich aus. Jedoch hatte er keinen Zweifel an der Richtigkeit der Aussagen. Zu genau waren die Details der Schilderungen. Der Mann war immer sehr für die Wahrheit gewesen. Schon aus beruflichen Gründen. Aber da gab es Grenzen! Nicht auszudenken, welche zwischenmenschlichen Folgen es hätte, würden all diese Geheimnisse ans Licht kommen. Zu welchen Taten würde es die Betroffenen verleiten? Wozu wäre jemand fähig, aus verletztem Stolz heraus, oder gar in blinder Wut? Nicht auszudenken, wie das enden könnte! "Bitte. Ich kann es nur noch einmal betonen: Es ist sinnlos! Aber alles was mir möglich ist, werde ich selbstverständlich tun. Du hast mein Wort."
"Cool!" Lui war begeistert. Vor allem von sich!
"Ich will aber auch das eure. Wenn mein Teil der Abmachung erfüllt ist, wird nichts von dem was du mir erzählt hast, in die Öffentlichkeit gelangen!"
Der junge Mann machte eine unstete Handbewegung. "Sagen wir, die Privatangelegenheiten."
"Ich nehme an, damit kann ich leben", schluckte der Ältere. Dass die Straftaten nicht ungesühnt bleiben sollten, fand er auch.
"Dann hängen Sie sich mal rein! Und Mahlzeit!"
"Was?"
"Der Schweinsbraten!"
"Ach so." Der Appetit war Pfarrer Ströbel gründlich vergangen. "Danke."
Im Schutz der hereingebrochenen Nacht hastete Lui durch das Friedhofstor zum Auto. Er hatte sich selten so verwegen und mutig gefühlt! "Und?", fragte er betont abgebrüht, "bei euch auch alles klar?"
"Astrein gelaufen. Und bei dir?"
"Der war echt nett. Er hat zwar gesagt es hat keinen Sinn, aber er tut was er kann."
Tom nickte ernst. "Gut. Es hat keinen Sinn? Was meint er damit?"
"Weiß nicht."
In der Ferne waren Polizei-Sirenen zu hören. "Lasst uns abhauen, bevor das Pflaster zu heiß wird", murmelte der Unteroffizier.
Ein breites Grinsen erschien auf Kerems Gesicht, während er sein Handy nach vorne hielt. "Schaut mal, es ist schon auf YouTube!"
Der Tschetschene auf der Rückbank neben ihm brummte zufrieden, kommentierte die Szene aber nicht. Vermutlich war es ihm nicht bedeutsam genug.
Ein verwackeltes Video zeigte einen Kerl, der nackt und mit verbundenen Augen an einen Baum gefesselt war. Auf einem großen Schild um seinen Hals stand: "Ich schlage meine Frau. Sie ist hilflos. Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt."
Beinahe im Sekundentakt kamen neue Likes hinzu. Das Medien-Zeitalter war doch wirklich ein Segen!