"Juu-huuuu!" Begeistert winkte Elfriede aus dem bereits geöffneten Lift. Noah atmete scharf ein. Was für ein Timing! Er hatte sich Kaffee geholt und stand Emmas Eltern auf dem Gang genau gegenüber.
"Na", kam Wilhelm mit stolzgeschwellter Brust auf ihn zu, "da ist ja unser Schwiegersohn! Was für eine Freude, nicht wahr?!" Schon klopfte der Mann ihm kräftig auf die Schulter. "Und? Wie fühlt man sich, als frisch gebackener Vater?"
"Sehr gut", antwortete Noah wahrheitsgemäß. "Ich bin glücklich und dankbar dafür, dass meine beiden Mädchen gesund sind."
"Natürlich, natürlich", stimmte Wilhelm ihm zu. "Das ist das Allerwichtigste. Da ist es nebensächlich, dass es eine Tochter ist, nicht wahr? Aber ihr seid ja noch jung. Beim nächsten Mal wird es ein Stammhalter werden, habe ich nicht recht, Elfriede?", wandte er sich an seine Frau. "Elfriede!"
"Was?", fragte sie merklich abwesend. "Entschuldigung. Ich dachte eben, ich hätte Stefan dort hinten gesehen."
"Wen?"
"Du weißt schon", raunte sie leise.
"Ach was!", winkte Wilhelm ab. "Meine Frau sieht Gespenster. Seit sie erfahren hat, dass der Sohn eines Cousins letzten Sommer seinen Freund geheiratet hat, wenn man das so nennen will, ist sie ganz aus dem Häuschen."
"Ach?", fragte Noah betont unschuldig. "Hat er?"
"Wir haben ein Hochzeitsfoto geschickt bekommen. Die Familie meiner Frau", betonte der Ältere. "Auf meiner Seite gibt es so was nicht."
"Natürlich nicht. Wollen wir gemeinsam eure Enkeltochter besuchen?", wollte Noah unschuldig wissen und machte eine einladende Handbewegung in Richtung Geburtsstation.
"Wir können es kaum erwarten!", jubelte Elfriede.
Das konnte Noah auch nicht.
Emma wurde blass, als die beiden das Zimmer betraten. Die junge Frau hätte dieses Zusammentreffen gerne noch ein paar Tage hinausgezögert. Oder ein paar Jahre. Aber das wäre natürlich nicht machbar gewesen. Instinktiv drückte sie ihr Baby schützend gegen ihren Körper.
"Meine Kleine!" Tränen der Rührung bildeten sich in den Augen der Oma, sogar Opa schluckte beim Anblick von Tochter und Enkelkind.
"Mama? Papa?", begrüßte sie ihre Eltern, "Ihr kommt früh."
"Darf ich sie halten?", schluchzte Elfriede emotional zutiefst aufgewühlt.
Hilfesuchend schaute Emma sich nach ihrem besten Freund um, der ihr das Kind abnahm. Gerne ließ sie es nicht los.
"Setz dich, Elfi", empfahl er. "Ich gebe sie dir." Kurz und schmerzlos war wohl das Beste.
Die Frau tat wie ihr geheißen, breitete die Arme aus und nahm das winzige Mädchen strahlend in die Arme. Es dauerte nur Sekunden, bis Elfriedes Haltung und Mimik sich zu verändern begannen. Von zutiefst euphorisch, zu überrascht und schließlich entsetzt. Aber, vielleicht zum Glück, auch sprachlos.
Ihr Ehemann tat sich nicht so schwer, Worte zu finden. "Ein Scherz, offensichtlich. Kein guter, wie ich betonen möchte. Wo ist unsere Enkelin?" Ganz sicher klang er nicht.
"Das ist sie", meinte Emma leise, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihr bester Freund drückte beruhigend ihre Hand.
"Aber das", hauchte Elfriede, während sie verzweifelt die Informationen auf dem hellrosa Armbändchen zu entziffern versuchte, "kann nicht sein, ich meine ... wie solltet ihr zwei denn ..." Abwechselnd sah sie das Baby und die beiden jungen Leute an.
Wilhelm fiel wie vom Schlag getroffen nach hinten. Direkt in einen Stuhl.
"Dann ... dann", wandte Elfi sich an ihre Tochter, "aber wer, ich meine, wer ... ist denn der Vater?"
"Das ist nicht wichtig", meinte Noah bestimmt.
Emma entlockte das ein vorsichtiges Schmunzeln.
"Dann ... heiratet ihr trotzdem?", hoffte die ältere Frau. "Obwohl ... unsere Emma ... offensichtlich ..."
"Elfi", polterte Wilhelm los, "wie kannst du daran nur denken?! Du kannst doch nicht erwarten, dass er nach dieser Sache ... Sieh dir das an!"
"Nein, heiraten werden wir nicht", erklärte Noah ruhig. "Aber an dem Kind liegt das bestimmt nicht. Mit einer schwarzen Tochter habe ich überhaupt kein Problem. Nur mit braunen Schwiegereltern kann ich nicht leben." So, wie er diese Menschen bisher kennengelernt hatte, konnte er nicht anders, als sie dem rechten Eck zuzuordnen. Und mit dieser politischen Gesinnung hatte er noch nie was anfangen können.
"Das ist doch ...", japste Emmas Vater, gerade als die Tür aufging und Stefan mit mehreren Stücken Kuchen aus der Cafeteria erschien. Sogleich begrüßte der Notar seine entfernte Tante und den Onkel freudig.
"Stefan", freute Noah sich. "Wie schön. Wilhelm und Elfriede wollten dir gerne zur Hochzeit gratulieren."
"Oh, das ist nett", lächelte der Blonde. "Wie schade, dass mein Mann schon weg ist. Ich bin sicher, ihr werdet ein andermal die Gelegenheit haben, einander kennen zu lernen."
"Ihr ... Ihr ... Ist das ein Zufall?", wollte Emmas Vater tonlos wissen.
"Ist es nicht", verneinte Noah. "Wir kennen uns seit der Studienzeit und sind seit vielen Jahren eng befreundet. Wir waren sogar auf der Hochzeit."
Der Ältere löste seinen Krawattenknoten. Inzwischen stand ihm Schweiß auf der Stirn.
"Ja, wir haben auf Ibiza geheiratet und deswegen die Zahl der Gäste eher gering gehalten", erklärte Stefan entschuldigend. "Das war Luis Idee. Las Vegas hätte ihm auch gefallen", lächelte er versonnen.
"Ich hab mal in Vegas geheiratet", kam eine Stimme aus Richtung Tür. "Und wurde in Reno geschieden. Das war vielleicht ein wildes Wochenende!"
"Henriette?", wisperte Elfriede, als würde ein Geist vor ihr stehen.
"Mutter?!", krächzte Wilhelm am Ende seiner Kräfte.
"O-ma?"
"Kriegt euch mal wieder ein." Ein vernichtender Blick traf Sohn und Schwiegertochter. "Ich komme nicht euretwegen, sondern um meine bezaubernde Enkelin und ihr wundervolles Töchterchen zu sehen."
Liebevoll schmunzelnd nahm die alte Frau mit dem langen silberweißen Haar das Kind, strich ihm über die Wange und wiegte es sanft hin und her. Das bunt gemusterte Kleid das sie trug, schwang elegant um ihre Beine. Noah war vom Anblick der zarten Erscheinung gefesselt. Ein siebzig Jahre altes Blumenkind!
"Oma?", fand Emma als erstes ihre Sprache wieder. "Ich dachte, du bist tot! Wir haben deine Asche verstreut!"
"Das hätten die gerne!", nickte die Großmutter. "Aber diesen Gefallen habe ich ihnen nicht getan."
"Mutter", räusperte Wilhelm sich. "Das ist weder die Zeit, noch der Ort. Wir haben eine interne Familienangelegenheit zu reg..."
"Papperlapapp!", rief sie aus. "Eure Art etwas zu regeln, kenne ich! Du bist genau wie dein Vater! Du wirst dir jeden Kommentar meiner Enkelin und ihrem Kind gegenüber verkneifen, ist das klar?! Jetzt und in Zukunft!"
"Ich denke nicht, dass es dir zusteht, Mutter ..."
"So lange du deine Füße unter meinem Tisch hast, solltest du dir sehr gut überlegen, wie du mit mir sprichst, mein lieber Junge", unterbrach die Frau ihn bestimmt. "Ansonsten könnte ich noch auf die Idee kommen, meinen Besitz direkt an meine Urenkelin zu vererben."
Emma hatte ihren Vater noch nie so entsetzt gesehen.
"Dein Großvater und ich", erklärte sie Emma knapp, "hatten einen Vertrag. Wer als erstes stirbt, dessen Hälfte fällt an den jeweils anderen."
Oma, ich kann nicht glauben, dass du da bist. Ich kenne dich nur von Fotos."
"Ach, Kind", seufzte die alte Dame. "Ich habe getan, was ich konnte. Aber der Einfluss deines Opas war stärker als meiner. Als dein Trottel von Vater von der Uni nach Hause kam und stolz erklärte, er wäre nun Mitglied in der Burschenschaft Germania, hat es mir endgültig gereicht. Ich habe meine Sachen gepackt."
"Aber, wo warst du denn all die Jahre?!"
"Überall und Nirgends", lachte sie. "Ich habe die ganze Welt gesehen, alle Kontinente bereist. Wenn es mir irgendwo besonders gefallen hat, bin ich eine Weile geblieben."
"Wovon hast du gelebt?"
"Wenn ich Geld gebraucht habe, habe ich eben ein paar Wochen gearbeitet. In den letzten Jahren war das nicht mehr nötig, ich habe einen Blog."
"Du hast ... einen ... Blog?"
"Klar", zwinkerte sie und betrachtete mit ungebrochener Freude das Baby in ihren Armen. "Läuft!"
Noah lachte noch immer, als er Davids Zimmer betrat.
"Was ist denn mit dir?" fragte er.
"Emmas Eltern sind gekommen."
"Oh? Dann ist es wohl richtig gut gelaufen?"
"Nein, es war eine Katastrophe!", gluckste der Größere und setzte sich direkt zu ihm aufs Bett.
"Warum freust du dich dann so?"
"Seit ich Elfriede und Wilhelm zum ersten Mal begegnet bin, frage ich mich, wie Emma so anders sein kann. Von wem sie das hat. Heute habe ich es herausgefunden!"
"Ja?"
"Ja!" Noah musste beim Gedanken an die entgleisten Gesichter der beiden so lachen, dass er kaum noch gerade sitzen konnte. "Emma hat eine Oma!"
"Oh, das ist schön." Auch etwas, das David in seinem Leben schmerzlich vermisste. "Mag sie die Kleine wenigstens?", fragte er hoffnungsvoll.
"Mach dir darüber keine Sorgen, Nugget. Die Frau ist zum Niederknien, ehrlich! Alles ist gut."
"Gott sei Dank. Ich habe dafür gebetet", murmelte er erleichtert.
Die Hände des Anderen fühlten sich unerwartet kühl an, als Noah sie in seine nahm. David hatte das sicher wirklich getan.
"Hat er mal geantwortet?"
"Wer?"
"Gott. Du hast einmal gemeint, es hätte dir immer geholfen, dass du mit ihm reden konntest. Hast du mal eine Antwort bekommen?"
"Aber ja", sagte David ernst. Er war sich ganz sicher. Gott musste jedes seiner Gebete gehört haben. Und diese eine Bitte. Diesen einen, großen Wunsch. Wie sonst, wäre Noah in seinem Leben zu erklären gewesen. "Ich habe nur nicht gleich zugehört."