"Das ist nicht mein Baby!"
"Frau Kammrath", versuchte die Schwester erneut die junge Mutter zu beruhigen, "selbstverständlich ist das Ihr Baby."
"Das ist nicht mein Baby!", schrie Emma die Frau hysterisch an. Wie konnte sie nur so begriffsstutzig sein! "Wo ist meine Tochter?!"
"Sehen Sie nur, das ist Ihr Kind!" Die Ärmste wusste sich nicht mehr zu helfen. So etwas war ihr in zwanzig Jahren noch nie passiert. Auf dem Armbändchen war klar ersichtlich, dass der Säugling den sie eben von einer Untersuchung zurück gebracht hatte, zu dieser Mutter gehörte. Irrtum ausgeschlossen!
Ein unterdrücktes Kichern aus Richtung Tür zog aller Aufregung zum Trotz die Blicke der Damen auf sich.
Langsam aber sicher, drang Erkenntnis in Emmas Bewusstsein. "Du!", spuckte sie dem dunkelblonden jungen Mann mit den strahlend blauen Augen entgegen.
"Die Schonzeit ist vorbei, Schätzchen!", grinste Julian übers ganze Gesicht.
"Ich bring dich um", drohte sie atemlos. "Diesmal stirbst du!" Alle Schmerzen ignorierend, war sie mit einem Satz aus dem Bett.
Verdattert beobachtete die Schwester, wie der Bursche den wütenden Angriff abwehrte, sie ausgelassen hochhob und durch die Luft wirbelte. "Herzlichen Glückwunsch, Liebes!"
"Danke." Sie wischte sich zwei Tränen aus dem Gesicht. "Du Vollidiot! Gib sie mir gefälligst zurück." Sie musste jetzt auch ein wenig schmunzeln. "Das ist nicht witzig." Fix und fertig lehnte sie die Stirn an seine Brust.
"Sie ist direkt vor der Tür."
"Ist sie?"
"Klar. Was denkst du denn?" Mit einem Handgriff zog Julian das durchsichtige Wägelchen mit Emmas Baby ins Zimmer. Er nahm das Blatt Papier aus der Halterung am Fußende und tauschte es mit dem des anderen Bettchens.
"Halt!", schrie die Krankenschwester entsetzt. Was machen Sie da?!"
"Ich mache es wieder richtig rein."
"Schauen Sie", erklärte Emma. "Das hier ist mein Baby." Glücklich nahm sie ihre Kleine in die Arme. "Es war nur ein Streich."
"Aber ..." Die Frau schien nahe an einem Kollaps. "Sie können doch hier nicht einfach Babys austauschen!", kreischte sie.
"Ich habe kein Baby ausgetauscht", schüttelte Julian den Kopf. Nur die Krankenblätter und die Armbändchen. Seine Mama weiß es außerdem und war einverstanden."
Emma wunderte das überhaupt nicht. Mit seinem Charme hätte er jede überreden können, diesen Unsinn mitzumachen.
"Ich habe extra eines genommen, das komplett gegenteilig aussieht", versicherte er. "Das hier ist strohblond und außerdem ein Junge. Konnte also gar nichts passieren."
"Sie haben ... Wie kommen Sie denn an die Armbänder?!"
"Die liegen im Schwesternzimmer rum."
"Hhhh!" Offenbar hatte es der älteren Frau die Sprache verschlagen. "Sind - Sie - komplett - irre?! Ich rufe die Polizei!"
Entspannt ließ Julian sich neben Noah auf dessen Couch nieder, öffnete ein Bier und trank einen großen Schluck.
"Früher hättest du mir auch eines aus der Küche mitgebracht."
"Ja", gab der hübsche Dunkelblonde ihm recht, "das war damals, als wir noch Sex hatten." Er wurde umgehend von einem Kissen getroffen. Kichernd hielt er seinem Exfreund eine Flasche vors Gesicht, die dieser kopfschüttelnd ergriff.
"Weißt du eigentlich, dass Emma uns mal dabei gesehen hat?", fragte Noah nach einiger Zeit.
"Ja, klar."
"Klar?"
"Wieso denkst du, hat das mit den Streichen angefangen? Ich musste ihr das irgendwie heimzahlen!", kicherte Julian.
Und wieder war ein Rätsel gelöst. "Das heute war aber arg grenzwertig!"
"Konnte ja nicht wissen, dass die keinen Spaß verstehen. Danke, übrigens."
Noah seufzte nur. Wenn er die Zeit, die er regelmäßig darauf verwendete für einen seiner Freunde etwas gerade zu biegen, am Ende seines Lebens drangehängt bekäme, könnte er sicher nochmal in Urlaub fahren. War gar nicht so einfach gewesen, das Klinikpersonal davon zu überzeugen, dass Julian nicht kriminell, sondern einfach nur ein Scherzkeks mit fragwürdigem Humor war.
"Also ja, um auf das Thema zurück zu kommen, ich wusste, dass sie uns gesehen hat. Obwohl sie beim ersten Mal fast nichts dafür konnte. Wir waren ja in ihrem Zimmer."
"Wieso waren wir denn in ihrem Zimmer?"
"Du hast ihre Schranktür repariert."
"Ah, ja." Noah erinnerte sich wieder. "Und sonst? Was Neues?"
Julian schüttete den Kopf. "Bei mir nicht."
"So? Und ich dachte, du hättest gestern ein Date gehabt?", schmunzelte der Größere.
"Das war keines, verdammt! Wir waren in der Kletterhalle und danach was trinken."
"Und?" Musste er ihm wirklich immer alles aus der Nase ziehen?
"Und was?!"
"Ja ... Seht ihr euch wieder?"
"Wird sich nicht nicht vermeiden lassen."
Typisch. "Komm schon. Er ist nett, sportlich, sieht echt gut aus und ist sicher schon seit einem Jahr hinter dir her! Was hast du denn diesmal auszusetzen?"
"Was ich ... Er ist ein Vollidiot!"
"Oh, nicht schon wieder. Es können doch nicht alle Vollidioten sein!"
"Doch!"
"Kätzchen! Du gibst keinem eine Chance!"
"Wenn überhaupt, dann ist das deine Schuld."
"Meine?", fragte Noah irritiert.
"Ja. Weil du die Latte eben ziemlich hoch gelegt hast."
"Danke. Aber hast du seine denn überhaupt schon gesehen? Du wärst vielleicht positiv überrascht!"
Julian brach in schallendes Gelächter aus. "Hättest du mich nicht einfach sitzen lassen, wären mir einige Überraschungen in dieser Richtung erspart geblieben!"
"Ich habe dich nicht einfach sitzen lassen." Traurig sah der Größere ihn an. "Ich will dich glücklich sehen, Kätzchen. So richtig. Das bist du nie ganz gewesen."
"Ich habe dich immer geliebt, Noah."
"Daran habe ich nie gezweifelt. Aber es war die Art von Liebe, die du auch für einen Bruder empfinden würdest, wenn du einen hättest. Es war nicht die, die es sein sollte, um ein Leben gemeinsam zu verbringen."
"Mir hätte es gereicht."
"Mir für dich nicht. Ich dachte lange Zeit, du kennst den Unterschied nicht. Aber das ist nicht wahr, habe ich recht?"
Sein Blick sagte mehr, als alle Worte dieser Welt. "Was habe ich falsch gemacht?"
"Nichts! Du hast gar nichts falsch gemacht! Ich hatte einfach ein Gefühl, als wärst du nie ganz bei mir. Und das konnte ich irgendwann nicht mehr ignorieren."
"Das tut mir leid."
"Dass ich es so empfunden habe?"
"Nein." Julian tat sich sichtlich schwer mit dem, was er ihm sagte. "Dass du es gemerkt hast."
Noah nickte. "Dachte ich mir", erwiderte er sanft. "Willst du darüber sprechen?"
"Nein." Ein nachdenkliches Kopfschütteln begleitete diese Entscheidung. "Nicht heute."
"Falls du es dir doch mal von der Seele reden möchtest ..."
"Dann werde ich sicher zu dir kommen", unterbrach Julian ihn. "Aber ich denke, es ist mittlerweile echt okay."
"Ist es?"
"Ja. Auch deinetwegen. Weil du da warst. Es immer noch bist." Liebevoll streichelte er ihm über die Wange. "Noah? Du bist immer für alle da. Aber jetzt lass mich mal. Du gefällst mir gar nicht. Ich mache mir Sorgen. Wir alle. Wie geht es dir?"
Der Größere sagte nichts. Die Lippen aufeinandergepresst, kratzte er mit dem Fingernagel am Etikett seiner Bierflasche. Julian nahm sie ihm ab und stellte sie auf den Couchtisch. Seine eigene direkt daneben. Dann umarmte er Noah fest. Und zum ersten Mal weinte er. Obwohl er nicht alleine war, weinte er so richtig. Er hörte ein beruhigendes Flüstern an seinem Ohr, aber durch die Wand aus Verzweiflung und Hilflosigkeit verstand er die Worte nicht. Er spürte wie eine Decke über sie beide gezogen wurde. Ein warmes Gefühl. Es war einfach nur schön, nicht alleine zu sein und zu wissen, dass diese beiden Arme ihn halten würden, so lange er es brauchte.
Schweigend sah Lui von der Galerie nach unten, als Stefan ihn von hinten umfing. "Worüber denkst du nach?"
Der Kleinere blickte kurz über die Schulter. "Läuft wieder was zwischen Noah und Julian?"
"Glaube ich nicht. Aber auch wenn es so wäre, ginge es uns nichts an", flüsterte Stefan an seinem Ohr.
"Mich geht alles was an! Und das ... schau doch mal hin!"
"Muss ich nicht. Alles was wichtig ist, habe ich genau vor mir."
"Aber..."
"Weißt du, manchmal ... braucht jeder jemanden." Stefan schloss die Augen und drückte einen zärtlichen Kuss in Luis Nacken. "Ich bin unendlich froh, dich in meinem Leben zu haben. Ich liebe dich."
Der Kleinere drehte sich in den Armen seines Mannes um, ein "Ich dich auch", gegen dessen Lippen murmelnd.
"Komm mal mit. Ich muss dir etwas zeigen, das dir sehr gefallen wird."
"Was Großes?", fragte Lui breit grinsend. "Darf ich es auch anfassen?"
"Nein! Ich meine ... Ja. Später. Ach, du bist einfach unverbesserlich", schüttelte Stefan amüsiert den Kopf. "Emma hat mir eine Kopie der Geburtsurkunde für dich mitgegeben."
"Das wurde aber auch Zeit!" Vor sich hin schimpfend betrat Lui das Gästezimmer. "Endlich hat die Kleine einen Namen, hat ja lange genug gedauert. Obwohl es bestimmt was Blödes ist, denn alle meine Vorschläge wurden ja abgelehnt!" Genervt schnappte er sich das Blatt Papier auf dem Bett. "Wusste ich es doch, so ein altmo..." Mitten im Satz war plötzlich Schluss. Fassungslos starrte er auf die Urkunde.
Stefan schloss von innen die Tür und lehnte sich schmunzelnd dagegen. Gleich würde sein Liebster ausflippen, das war sicher! "Emma und Noah sind dir unendlich dankbar. Du sollst nie daran zweifeln, dass sie sehr zu schätzen wissen, dass du da warst. Für Emma und ..."
"Oh, mein Gott!!!"
Sicher hörte man ihn in der gesamten Altstadt kreischen.
Lui hatte es nie jemandem gesagt. Aber er hatte sich von den Freunden seines Mannes, die alle studiert hatten, im Gegensatz zu ihm, nie vollkommen ernst genommen gefühlt. Nicht so, wie er es sich gewünscht hätte. Vielleicht hatte er es sich auch eingebildet, aber weh tat es trotzdem. Und vielleicht benahm er sich deswegen gar so exzentrisch. Weil er seine Unsicherheit auf diese Art besser verstecken konnte. Jetzt wusste er, dass er ihnen wichtig war. Ganz sicher! "Luisa! Sie haben das Schokostückchen nach MIR benannt!!!"