Content Notes:
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Vorsicht! Die folgende Geschichte könnte Spuren von Chaos enthalten und ist nicht für Zuschauer geeignet.*
*Weil es nichts zu Schauen gibt, ihr müsst das lesen!
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Der graue Graf vom Nirgendwo
oder
Der allererste Text mit Marv!
Ein menschen- und konfliktscheuer Grauwolf wird in den Kampf der Belletristicans gegen die gefährlichen Winterdämonen hineingezogen. Doch was kann ein einzelnes Tier schon gegen eine solche Macht ausrichten? Richtig: Nichts. Denn für den Sieg braucht es drei Wunder.
Erster Zauber
Flimmernd von Hitze und Trockenheit erstreckt sich das Krea-Tief-Tal im Osten Belletristicas. Orangeglühend erhebt sich die Sonne aus dem Ozean hinter dem Tal, um den trostlosen Landstrich und das umgebende Gebirge zu erleuchten.
Auf einem Berg im Norden des Tals, der sich mit seinem nördlichen Zwilling ein wenig von den restlichen Gipfeln absondert und in dessen Osten die Pforte zu einem weit grüneren und waldigeren Tal liegt – auf diesem Berg also gibt es einen schmalen Pfad, nicht von Menschenhand oder überhaupt einem vernunftbegabten Wesen angelegt, sondern ausgewaschen von Zeit und der Schmelzschnee. Über diesen Weg kämpft sich ein kleines Wesen zum Gipfel empor: Der Grauwolf.
Marvin ist für einen Canis lupus lupus eher klein. Sein Fell, eigentlich hellgrau, ist für gewöhnlich von verschiedenen Schlammbrauntönen eingefärbt. Vier lange, breite Narben ziehen sich von der Wirbelsäule herab über seine linke Flanke, die zweitvorderste und längste Narbe verläuft über Schulterblatt und Vorderbein. Die Narben sind schwarze Streifen mit roten Rändern, nicht von Fell bedeckt und auch nicht von Haut, sondern von einer vernarbten, wulstigen Kruste. Ein aufmerksamer Beobachter könnte vielleicht bemerken, dass Marvins linkes Bein sich ein wenig steifer bewegt als das rechte, hauptsächlich nach längeren Reisen.
Wie jetzt, da der Wolf erschöpft den Gipfel des Berges erreicht und hingebungsvoll hechelnd verschnauft.
„Was hab‘ ich mir bloß dabei gedacht?“, murmelt er dann leise vor sich hin und wendet den Blick südwärts zum Krea-Tief-Tal.
Als würde der Anblick dieses Ortes ihn bis ins Mark erschüttern, knicken die Hinterläufe des Wolfes ein und er setzt sich reichlich unsanft in die dünne Schneeschicht auf dem Berggipfel.
Einige Zeit zuvor sah Marvin noch sehr viel optimistischer aus. Als nämlich die Winterdämonen gesichtet wurden, die zu Tausenden nach Belletristica strömten, um den Kontinent der Fantasie zu vernichten. Als Ben die Autoren zum Kampf aufrief, um die Kreativität zu verteidigen und aller Welt – nicht nur anderen Autoren – als Leuchtfeuer in dieser dunklen Stunde zu dienen.
Vor langer Zeit hatte Marvin dem Kämpfen abgeschworen, nachdem er unzählige Freunde in Blut und Feuer verloren hatte. Er wählte das Exil als Weltenwanderer, verirrt in einem Universum der gestaltgewordenen Ideen, bis er auf Belletristica ein neues Revier und in den vielfältigen Wesen hier ein neues Rudel fand. Dieses Rudel zu beschützen war selbstverständlich, und so kämpfte Marvin in der vordersten Front, um die ersten Invasoren abzuwehren, und eilte in den folgenden zwei Monaten von Mauer zu Mauer, durch die Taverne und die umliegenden Lande, um zu helfen, wo immer zusätzliche Pfoten benötigt wurden.
Nun allerdings steht die bisher schlimmste Welle der Invasion an. Zwei dieser Art haben die Belletristicans zurückschlagen können, doch die Winterkönigin schickt immer neue Horden, eine schlimmer als die vorherige.
Längst befindet sich das ganze Land im Aufruhr, in ihrer Verzweiflung wollten die Feen Belletristicas gar die gefährlichen Bugs gegen die Dämonen einsetzen – ein Unterfangen, das unglücklicherweise in einer Käferplage endete. Währenddessen schreckt die Winterkönigin auch nicht vor heimtückischen Tricks der alten Trojaner zurück. Die Kämpfer müssen immer und überall wachsam bleiben, und der dritte Monat der Invasion hat begonnen.
Um die Feinde zurückzuschlagen, werden überall im Land alte Festungen wieder in Betrieb genommen. Wachtürme an einsamen Bergpfaden, mächtige Trutzburgen und sogar ganze Grafschaften, die dem Nebel des Vergessens anheimfielen.
Was uns zurück auf den recht kühlen, windumtosten Berggipfel führt, denn in einem seltenen Anfall jugendlichen Übermutes – den er eigentlich für restlos aufgebraucht gehalten hatte – hatte sich Marvin verpflichtet, eine Grafschaft zu verteidigen.
Diese Grafschaft.
Die Grenzen seines neuen Reichs sind nicht klar umrissen, doch der Berg, auf dem er steht, wird sicherlich das Herzstück bilden. Im Süden und Osten erstreckt sich das Krea-Tief-Tal, im Norden erhebt sich der Zwillingsberg, im Westen kuscheln sich die Ausläufer eines kleinen Wäldchens an den Berghang. Marvin sieht sich ratlos um und setzt seinen Monolog fort: „Was hab‘ ich mir nur gedacht? Ich bin ein Wolf, kein Graf! Ich habe nicht einmal Daumen, nur vier linke Pfoten.“
Wie er hier etwas aufbauen soll, ist ihm ein absolutes Rätsel. Und leider ist dieser Grauwolf sehr schlecht darin, Rätsel zu lösen. Sein Mut sinkt weiter. Er darf Belletristica nicht enttäuschen. Und auf keinen Fall dürfen die Dämonen diesen Kampf gewinnen, das wäre eine Katastrophe, nicht nur für Belletristica, sondern vermutlich für die ganze Welt.
Wann, so fragt sich der Wolf, ist aus dem glücklichen Einzelgänger eigentlich wieder der Krieger geworden, der noch dazu mit unfehlbarem Geschick stets auf der Seite mit den geringsten Erfolgsaussichten landet?
Die Bedrohung rollt wie eine gewaltige Welle auf den Kontinent zu, bereit, jede Kreativität, jeden Funken heller Hoffnung für immer zu verschlingen, bereit ...
„Weißt du ...“ Marvin hebt den Blick über die Schulter und fixiert den Erzähler mit gelbfunkelnden Augen. Nein, nicht nur den Erzähler – die Augen dringen durch diese lyrische Instanz hindurch direkt ins Herz des Autors. Der Wolf knurrt: „Statt hier sarkastische Reden zu schwingen, könntest du dich auch einmal nützlich machen!“
Der Übergang kann innerhalb von Sekunden erfolgen, doch gelegentlich koste ich ihn aus. Als Autor kann ich in jede meiner Figuren schlüpfen, denn jede von ihnen ist ein Teil von mir. Der Grauwolf jedoch, der sogar meinen Namen teilt, ist mir die liebste. Seine Rolle ist wie ein alter, oft getragener Mantel, dessen Innenfutter bereits die Form des eigenen Rückens angenommen hat, dessen Kragen sich vertraut an den Hals anschmiegt, dessen Ärmel sich wie eine zweite Haut über die Arme legen.
Ich zuckte probeweise mit den Ohren und öffne dann die Augen, die ihr glitzerndes Gelb gegen ein glimmendes Grün eingetauscht haben. Das kann ich nicht sehen, doch ich weiß es. Diese kleine Veränderung muss ich meinem Wolf zugestehen, denn sonst wären wir überhaupt nicht mehr voneinander zu unterscheiden.
Wie schon zuvor, doch mit neuer Klarheit, lasse ich den Blick über das Krea-Tief-Tal schweifen. Ich kann den schrecklichen Sog sogar hier spüren. Lyssa, meine unzähmbare Fantasie, die niemals von meiner Seite weicht, schaudert vor dem Tal zurück. Braun, trostlos und unspektakulär liegt das Tal vor mir. Lyssa schweigt. Keine beschreibenden Worte plätschern bergbachgleich in mein Ohr, und keine bunten Linien zaubern Farben oder Formen auf das Tal vor mir. Es ist wie ein blinder Fleck in meiner Wahrnehmung. Was für ein grausiger Ort!
Entsetzt wende ich mich ab, erhebe mich von dem kalten Schnee und atme die beruhigend kalte Luft ein. Es ist eine Wohltat. Während ich den Gipfel betrachte, greift Lyssa auch gleich zur Farbpalette, als wollte sie ihr Schweigen von eben wiedergutmachen. In silbrigen Linien malt sie einen kleinen Stapel Holz. Ich blinzele und das Bild in meinem Inneren erhält von Lyssa warme Flammen.
Es ist ein Leuchtfeuer, das wir auf dem Gipfel errichten könnten.
„Gute Idee“, meine ich. „Das Licht ist sicher von weither zu sehen.“
Lyssa malt Burgen, wehende Banner, breite Straßen und ein gerüstetes Heer auf dem benachbarten Berggipfel im Norden und in das grüne Tal dahinter.
„Und nun übertreibst du“, bemerke ich freundlich. „Das kriegen wir nie im Leben hin. Doch das Leuchtfeuer könnte funktionieren.“
Lyssa lässt sich von der Vernunft nicht beirren – das tut sie nie – und erschafft ein leuchtendes Königreich in unzähligen Farben, während ich Holz auf den Gipfel schleppe und dort zu einem schönen, großen Leuchtfeuer anhäufe. Ich laufe bergauf und bergab, mühe mich, den Holzhaufen geschickt zu errichten, obwohl mir nur das Maul zum Bewegen der Holzstücke bleibt, und werde zunehmend frustrierter von Lyssas überschwänglich leuchtenden Farben. Als ich meine Arbeit endlich beendet habe, ist es Abend. Ich sitze vor einem großen Holzstapel und habe nichts, um Feuer zu machen.
Lyssas Laune ist umgeschlagen und sie zeichnet grässliche Fratzen, gierige Dämonen, die den Berg belagern, und einsame, verlorene Seelen, die blind und hoffnungslos durch das Krea-Tief-Tal stolpern, ohne jemals herausfinden zu können.
„Sehr hilfreich“, bemerke ich. Doch Lyssa hat recht. Ich habe diese Grafschaft gewählt, um jenen zu helfen, die sich im Krea-Tief-Tal verirren, bevor sie dem unwiderstehlichen Sog erliegen. Ich habe mir ausgerechnet, dass Lyssa mich vor der Macht beschützen könnte, doch nun sieht es so aus, als würde sie nach nur einem Tag in der Umgebung des Tals schlapp machen. Wenn ich nicht aufpasse, wird die Geschichte des grauen Wolfes ziemlich bald ihr Ende finden.
Frustriert und von meinen Sorgen geplagt rolle ich mich neben meinem dunklen Leuchtfeuer zusammen. Meine Gedanken wandern in alle möglichen Richtungen. Ob ich mit Feuerstein arbeiten kann? Nein, ich würde mir vermutlich nur die Nase verbrennen. Vielleicht sollte ich Luan um Hilfe bitten. Er ist niemals ohne sein Fagerleuerchen Calcy anzutreffen und sein Wachtturm steht nicht weit entfernt.
Aber hat Loki nicht genug Sorgen damit, sein eigenes Reich zu verteidigen? Ich wälze mich im Schnee hin und her. Verflucht, mir bleibt nicht mehr besonders viel Zeit, um einen Ausweg zu finden. Ich brauche Feuer! Und danach brauche ich eine Möglichkeit, Dämonen abzuwehren. Meine ‚Dämonenfallen‘ aus Baumstämmen, die in einem günstigen Moment vom Berghang aus auf die Dämonen herabrollen, schwinden rapide. Und sie zu errichten kostet Zeit und Kraft, denn sei mal ein Wolf, der mehrere gigantische Baumstämme auf einen Hang schleppt und so festbindet, dass er sie mit einem Biss auf die Feinde regnen lassen kann!
Zweiter Zauber
Ich schließe die Augen und suche den Schlaf, nur, um festzustellen, dass ich Lyssa vollkommen falsch eingeschätzt habe.
Lyssa ist dämmerungs- und nachtaktiv, was mich gewöhnlich sehr stört, doch heute begrüße ich ihr plötzliches Aufflackern. Ich habe mir ziemliche Sorgen um sie gemacht.
Ich spüre ein vertrautes Kribbeln im Bauch, ein drängendes, prickelndes Gefühl, das jede Schläfrigkeit vertreibt. Lyssa will offenbar keine Zeit verlieren, und wenn ich ehrlich bin, dürfen wir das auch nicht.
„Also gut, zeig her!“, seufze ich und schließe die Augen.
Das Bild, das Lyssa nun zeichnet, ist recht schlicht: Ein Schatten in Wolfsform auf einem Berggipfel unter dem Sternenhimmel. Der Wolf hebt den Kopf und sein Atem steig als Nebel in den Himmel, und dann … eine Farbexplosion, die in meinen Augen brennt und hämmernde Kopfschmerzen durch meinen Schädel jagt. Ich schnappe nach Luft und reiße die Augen auf. Eine Gänsehaut zieht sich durch das Wolfsfell, das sich wie elektrisiert aufstellt.
„Natürlich“, murmele ich. „Ich bin nicht allein.“
Wie passend – jeder Wolf hat sein Rudel. Und dieser Wolf hat ein gewaltiges Rudel. Zu meinem Glück hat Marvin genau eine Superkraft, wenn man sie so nennen will: Gelegentlich erhören die großen Sternwölfe sein Heulen, seitdem ihn der Königswolf Jupiter mehr oder weniger adoptiert hatte. Im Moment ist diese Macht noch größer, denn ich bin hier. Ich teile Marvins Vergangenheit und seine (Un-)Fähigkeiten, aber ich bin auch immer noch der Autor. Meine Macht ist nur davon eingeschränkt, was man mit Wörtern beschreiben kann. Nun, und davon, was die Leser lesen wollen. Doch das ist eine andere Geschichte und im Moment nicht von Bedeutung.
Ich stelle die Pfoten fest auf den mit Puderschnee bedeckten Boden, die Vorderpfoten gerade nebeneinander, die rechte Hinterpfote weit nach hinten gesetzt, und senke den Kopf, bis meine Schultern der höchste Punkt meines Körpers sind. Ganz langsam atme ich die Nachtluft ein. Dann atme ich sachte und langsam aus, das Maul geöffnet, während ein zitternder, klagender Ton mit dem Wind um die Wette heult. Ich gebe immer mehr Kraft in das Heulen, sodass es lauter und lauter anschwillt, während ich den Kopf hebe und meine Schnauze dem sternenübersäten Himmel zuwende, Klar, hell und laut verteilt sich mein Heulen über den Himmel, ein klagender, sehnsuchtsvoller Hilferuf.
Schließlich geht mir die Luft aus und ich verstumme. Nach Atem ringend sehe ich in den Himmel und dort … die Sterne scheinen heller zu strahlen. Dann erscheinen die silbrigen Umrisse geisterhafter Gestalten, die Regentropfen gleich aus dem Himmel fallen – nein, sie schweben eher, wie Schneeflocken. Je näher sie der Erde kommen, desto detaillierter wird ihre Form. Farben füllen die Silbersilhouetten aus, und bis sie schließlich bei mir angekommen sind, sind sie Wesen aus Fleisch und Blut (überwiegend).
Meine Buchfiguren bilden einen großen Kreis um den grauen Wolf. Die ersten Ankömmlinge sind, nicht weiter verwunderlich, gewöhnliche Wölfe und die deutlich größeren Sternwölfe, eine Füchsin und mehrere Hunde. Marvins Rudel.
Doch das sind nicht alle, noch lange nicht. Alle meine Kreationen finden sich auf dem zum Glück sehr geräumigen Gipfel ein. In der gewaltigen Menge farbenreicher Gestalten sehe ich auch die taffe Elfe Caryellê und Samstag Asparagin mit seinem roten T-Shirt, auf dem sich ein Smiley übergibt. Ich sehe die Drachin Roxa Flame, die Apfelschimmelstute Sakura und natürlich fehlen auch Misatyra Luminor und Phosphor Pyron nicht. Ich seufze leise, als ich auch Ifrit van Nox entdecke, eine schlanke, vollmondbleiche Gestalt mit blutroten Haaren und gelb glitzernden Augen.
Hoffentlich erfährt das die echte Ifrit nicht!
„Was gibt’s?“, fragt Samstag grinsend.
„Ich muss eine Grafschaft verteidigen“, teile ich dem angetretenen Heer mit. „Ich alleine kann das nicht stemmen.“
„Du? Natürlich schaffst du das nicht“, wirft Ifrit ein.
Ich lege die Ohren an. Das ist der Nachteil daran, wenn wirklich alle kommen.
„Ich nehme mal an, das Leuchtfeuer soll brennen“, lenkt Misa von dem Thema ab. Ich nicke, dankbar für die Unterbrechung, und wende mich Roxa zu. „Könntest du bitte das Holz entzünden?“
Die schwarzrote Drachin schnauft ein wenig überheblich und trottet schwerfällig zum Holzstapel.
„Ich kann auch Feuer erschaffen, weißt du?“, sagt Ifrit spitz.
„Oh, das muss ich glatt vergessen haben.“ Ich blinzele sie unschuldig an, aber natürlich kauft sie mir das nicht ab. Es ist echt schwierig, einen Dämon zu belügen.
Es faucht und Flammen schießen aus dem Holzstapel in den Himmel. Die menschlichen Figuren wärmen sich dankbar auf.
Ifrit verzieht den Mund, weil ich Roxa mehr Feuerkraft als ihr zugeschrieben habe. „Hast du denn wenigstens einen Plan, Marvin?“
„Naja …“ Ich lege ein Ohr an.
Caryellê schlendert zu uns herüber. „Unsere Feinde – was sind sie?“
„Die Winterdämonen“, berichte ich. „Sie sind groß und stark, und sie verachten Kreativität.“
„Können sie fliegen?“, fragt Cary.
„Nicht, dass ich wüsste“, murmele ich besorgt. Können die Dämonen fliegen?
„In dem Fall haben wir gute Karten“, fährt Caryellê unbeeindruckt fort. Ich sehe ihren blauen Augen an, dass sie die Umgebung scannt und einen Schlachtplan entwirft. „Wir haben das Gelände auf unserer Seite. Die Dämonen müssen sich den Hang herauf kämpfen. Wenn wir auf dem Gipfel Bogenschützen postieren und vielleicht noch ein paar Kämpfer weiter unten haben, sollten wir sie problemlos abwehren können.“
„Du verstehst nicht!“, jammere ich. „Die Dinger sind riesig! Und es sind unzählige!“
Mir kommt ein Geistesblitz und ich krame den Artikel über die Winterdämonen aus Felix‘ ‚Systema Natura Belletristica‘ hervor. Cary liest den Artikel aufmerksam und gibt ihn mir zurück. „Das Krea-Tief-Tal ist der Landstrich da im Osten, oder? Da hast du dir ja einen Platz in der vordersten Reihe gesichert!“
„Erinnere mich nicht daran!“, stöhne ich gequält.
„Trotzdem sollten wir ihnen beikommen können. Du hast unzählige Kämpfer geschrieben. Wir haben zusätzlich sehr viele Wesen in unseren Reihen, die Macht über das Feuer besitzen. Roxa beispielsweise, oder den schwarzen Drachen da drüben.“
„Oh nein, der wird ein Geschenk für Frost“, sage ich schnell. „Den sollten wir besser nicht in Gefahr bringen.“
Cary besitzt die Frechheit, mit den Augen zu rollen. Ifrit macht das übrigens auch. „Hast wohl Angst, dass der Lindwurm kaputt geht!“
„Wir sind im Krieg“, sagt die Elfe. „Da gehen für gewöhnlich Dinge kaputt. Kannst uns ja wieder heil schreiben.“
Ich grübele. Nun, ein paar Heiler gibt es unter meinen Figuren ja auch.
„Ich denke, das könnte funktionieren“, gestehe ich meinen Figuren schließlich zögerlich zu. „Lasst uns beginnen!“
„Dass du immer das Kommando haben willst!“, stöhnt Ifrit unwillig.
Ich werfe ihr einen bösen Blick zu und sagte laut: „Sam wird die Verteidigung leiten!“
„Sam? Samstag? Wieso ausgerechnet der?“, fährt Ifrit auf. Sie ist noch sauer auf ihn, weil sie in ‚Hell-Hopping 1‘ seinetwegen nicht gewonnen hat.
Ich grinse und wende mich ab, um in dem Chaos Misa und Phosphor zu suchen. Die beiden gehören definitiv zu meinen Lieblingen.
„Für euch habe ich eine andere Aufgabe“, begrüße ich sie.
Misa, ganz in Rosa gekleidet, sieht mich überrascht an. „Eine andere Aufgabe?“
„Ein Geheimauftrag“, offenbare ich.
„Ein Geheimauftrag?“, fragt Misa begeistert.
„Ein Geheimauftrag?“, fragt Phosphor Pyron, der Gestaltwandler, entsetzt.
„Ihr müsst auskundschaften, woher die Dämonen kommen, und sie notfalls zum Berg locken. So viele wie möglich, ohne dass sie euch gefährlich werden.“ Misa grinst immer breiter und Phosphor wird immer blasser, während ich erzähle. „Wir lassen so wenige Dämonen wie möglich nach Belletristica hinein!“
Misa nickt begeistert. „Das schaffen wir.“
Phosphor wirft ihr einen nervösen Blick zu. „Das ist höchst gefährlich!“
Genau deshalb sind diese beiden so eine gute Wahl für die Aufgabe. Misas Abenteuerlust und Phosphors Vorsicht halten sich die Waage und machen sie zum perfekten Team.
Ich sehe mich um und rufe Sakura her. „Nehmt sie mit, dann seid ihr schneller“, rate ich Misa und erkläre Sakura noch schnell, was die Aufgabe ist.
Das weiße Pferd neigt den Kopf. „Ich werde gut auf sie aufpassen!“
Misa schwingt sich in den Sattel. „Komm, Wolf!“, ruft sie Phosphor zu, dessen Gestalt im Bruchteil eines Augenblicks zu der eines kleinen, hellbraunen Hundes wird, der munter neben dem hellen Pferd hertrottet.
Ich sehe den dreien nach, wie sie dem ausgewaschenen Weg zu dem kleinen Wäldchen hinab folgen. Und werde wieder schwermütig.
Wie viele Dämonen wir wohl hierher locken und töten können? Zwar steht in der ‚Systema‘, dass sie bei ihren Invasionen sehr häufig über das Krea-Tief-Tal kommen, doch die kalten Feinde kommen von allen Seiten, und es sind so viele … Meine Grafschaft mag vielleicht schlagkräftig sein, doch sie ist nur ein winziger Teil des Kontinents. Schon jetzt gibt es Hilferufe von den verschiedensten Orten, Belletristica ertrinkt förmlich in den kalten, schwarzen Fluten der Invasoren.
Ich bin recht sicher, diesen Berg halten zu können, doch um den ganzen Kontinent zu verteidigen, dazu fehlt mir einfach die Kraft. Lyssa malt mir die Hügel und Wälder Belletristicas vor die Nase: Die Taverne, wo ich schon lange Stammgast bin, Xandras Märchenwald, das Schloss der Schatten, die Smileyfarm, die Zitadelle der Adminen, Andersons Kloster … auch sie wird der Sturm treffen. Deutlich hallen mir die Hilferufe in den Ohren, die den Beginn dieses letzten Kriegsmonats eingeläutet haben. Und falls die anderen Autoren versagen, wird Belletristica untergehen, egal, ob ich diesen lächerlichen Berg beschützen kann oder nicht – vermutlich werden nur immer mehr und mehr Dämonen über das Land ziehen, sich verbreiten und vermehren, während ich mit meinen Figuren auf dem Berg festsitzen werde, in eine zermürbende, endlose Belagerung verwickelt, die meine Getreuen langsam, aber sicher aufreiben wird, bis letztendlich – was für ein passendes Bild! – auch das Leuchtfeuerchen auf diesem Gipfel erlöschen wird.
Bis sich Dunkelheit und kreativlose Stille über Belletristica senkt.
Dritter Zauber
In düstere Zukunftsvisionen versunken starre ich in die Nacht hinaus, als ich plötzlich ein fernes Licht bemerke.
Was ist das? Ich laufe ein Stück über den Gipfel, wodurch sich der Abstand zum Leuchten unwesentlich verringert. Ein … ein zweites Leuchtfeuer? Eine Antwort auf mein eigenes Licht?
Nein, es ist ein früher Sonnenstrahl, der sich auf einem erhöhten Etwas spiegelt. Ich verenge die Augen. Was ist das?
Ein Turm! Plötzlich kann ich es ganz klar erkennen, als würde ich durch ein Fernrohr sehen. Im Süden des Berges, noch hinter dem Krea-Tief-Tal, brechen sich die Strahlen der Morgensonne auf hartem Stein. Zum großen Teil ist das Gebäude zwischen den grünen Wipfeln der Bäume verborgen, und wenn der Morgen nicht so unfassbar klar wäre, hätte ich ihn wohl niemals gesehen.
Der Turm befindet sich ein Stück östlich von dem gewaltigen Berg – das muss Luans Wachturm sein! Die Lage passt perfekt!
Noch mehr Lichtpunkte leuchten auf. Dort, in Xandars Märchenwald, blitzt die Sonne auf alten Giebeln. Das kann doch nur Sharis mürrischer Wachturm sein!
Im Morgenlicht scheine ich unendlich weit sehen zu können, als läge ein mächtiger, wunderbarer Zauber auf dem Kontinent. Ich reiße die Augen auf, als überall auf Belletristica helle Lichter erstrahlen, im Norden und Süden und im fernen, bläulichen Dunst des Westens.
„Da vorne, Darks Wachturm!“, rufe ich begeistert und laufe auf dem Berggipfel hin und her. „Und Emmas Turm! Und der von Ryev, dem alten Sumpfmann! Da vorne, da ist Meg! Und Clayra!“
„Boah, Marv, halt die Fresse!“, stöhnt Ifrit genervt.
„Oh, dort hinten ist Rongard! Und ich kann Lilas Grafschaft erkennen!“ Dann verstumme ich. Da sind noch so viele Lichter! Belletristica liegt im ersten Morgenlicht vor mir ausgebreitet wie ein See voller Sternenspiegelungen. Es sind Tausende! Die meisten Kämpfer kenne ich nicht einmal.
Für einen Moment sehe ich meinen eigenen Schatten auf das Land fallen, ein winziger, dunkler Klecks auf dem gewaltigen Schatten des Berges, auf dem ich stehe. Und schon wird mein eigener Schatten unsichtbar, er verläuft sich in den Wipfeln der Bäume, zwischen größeren und kleineren Schatten auf den Hügeln. Meine Welt scheint sich zusammenzuziehen, und der Moment der überirdischen Klarheit entschwindet. Ich kann nicht weiter sehen als bis zu den beiden Gebirgsketten, die jeweils das Krea-Tief-Tal und das grüne Tal auf der anderen Seite begrenzen. Auch die funkelnden Lichter sind verschwunden, aber ich weiß, dass sie noch da sind.
Ich bin nicht allein. Da draußen sind unzählige weitere talentierte Autoren, mit ihrem eigenen Gefolge von Figuren, mit ihren eigenen Lyssas und mit Träumen, die groß genug sind, um wahre Leuchtfeuer zu entzünden. Sie haben diesen Kontinent geformt, und sie werden ihn verteidigen. Den Krieg führen wir alle gemeinsam, mit den Geschichten aus unserem Herzblut oder als Freunde in der Taverne, als Grafen oder Wachturmwächter, Burgherrn oder einfache Krieger, wir kämpfen jeder für uns und trotzdem Hand in Hand, und wenn einer um Hilfe ruft, sind alle anderen zur Stelle.
Ich spüre, wie mein Fell sich wieder anlegt, und wie sich Ruhe in meinem Inneren ausbreitet. Ein Blick zurück zeigt mir, dass die Vorbereitungen auf die Schlacht großartig laufen. Dieser Berg ist gesichert, und um den Rest von Belletristica brauche ich mir keine Sorgen machen. Unzählige Autoren beschützen diese Ländereien.
Ich bin nicht allein. Wir sind eine Armee von Autoren, wir sind kreativ und mutig, und wir können aus Wörtern ganze Welten erschaffen. Niemand, auch nicht die Winterkönigin, kann uns die Kraft in unseren Seelen nehmen, die uns stetig neue Horizonte öffnet. Sie führt uns an Orte, die sich andere Menschen nicht einmal vorstellen können – und unsere Schreibfedern verleihen uns die Macht, unsere Leser dorthin mitzunehmen. Wir sind mächtig genug, um ganze Universen zu erschaffen und Unsterblichkeit zu erringen.
Unsere Geschichten sind Welten, unsere Träume sind Leuchtfeuer, unsere Worte sind unbesiegbare Waffen!
Gemeinsam werden wir die Dämonen besiegen.