Eine bittere Lektion, die viele Schreiberlinge eines Tages lernen müssen, ist folgende: Einen Text zu schreiben, dauert viel, viel länger, als andere Menschen später brauchen, um ihn zu lesen. Eine Kurzgeschichte beispielsweise, die in einer Stunde geschrieben und dann über mehrere Tage aufmerksam und liebevoll korrigiert wurde, hat der Leser innerhalb einer Viertelstunde fertig und findet sie „ganz gut“.
Ein Problem, das sich daraus ergibt, ist das Erzähltempo. Eine Szene, die für den Autor mehrere Stunden dauerte, fliegt an dem Leser nur so vorbei, und oft kommt es dazu, dass dieser den Text dann als oberflächlich empfindet, als zu schnell. Als Autor kann man das nicht immer nachempfinden, denn immerhin hat man ein festes Bild im Kopf und die Szene in deutlich längerer Zeit „durchlebt“. Also … was tun?
Ich versuche hier mal, deinen Blick für solche Stellen zu schärfen. Danach geht es darum, wie man die Szenen ausbessert und (hoffentlich) in Zukunft vermeidet. Dabei werde ich mich auf Szenen konzentrieren, die zu schnell sind.
Zu schnelle Szenen erkennen: Das ist die größte Schwierigkeit bei diesem Thema, aus den oben genannten Gründen: Das Schreiben dauert viel länger als das Lesen, sodass sich die Szenen für den Autor auch langsamer anfühlen. Und auch, wenn man den Text korrekturliest, merkt man meist nicht, dass die Szene zu schnell abgehandelt wird. Immerhin hat man die Szene genauestens im Kopf und füllt sie automatisch mit den Details, die dem Leser später fehlen.
Übrigens – „schnelle“ Szenen dürfen natürlich durchaus vorkommen; Kämpfe oder dramatische Ereignisse sollten auf keinen Fall „langsam“ dargestellt werden. Heute bezieht sich „schnell“ eher darauf, dass die Handlung einfach heruntererzählt wird, ohne dem Leser eine Pause zu lassen oder richtig auf die Geschehnisse einzugehen.
Wie erkennt man solche Szenen nun? Ein erster Trick besteht darin, vor dem Überarbeiten Abstand vom Text zu gewinnen. Deinen Text solltest du ohnehin immer Korrekturlesen, doch am besten erst, wenn du die Handlung bereits „vergessen“ hast. Schreib den Text, lass ihn dann zwei Wochen liegen, in denen du dich nicht mit der Geschichte beschäftigst, und guck ihn dir dann erneut an. Idealerweise gelangst du in einen ähnlichen Zustand, als würdest du eine völlig fremde Geschichte lesen. Dadurch erlangst du einen unvoreingenommenen Blick auf deinen Text.
Diese Pausen sind aber nicht immer möglich, insbesondere, wenn du einen Abgabetermin hast oder ähnliches. Dafür gibt es einen etwas technischeren Ansatz. Guck dir deinen Text genau an: Hast du viele einfache Hauptsätze? Im Grunde sollten kurze Hauptsätze und längere Sätze mit Nebensätzen sich abwechseln, um ein gutes Tempo zu erzeugen. Und wie viele Sätze dauert es, bis eine neue Szene oder ein neues Thema angesprochen wird? Natürlich kann man manche Sachen mit ein, zwei Sätzen abhandeln, aber Ortswechsel oder eine plötzliche Veränderung sollten ausreichend besprochen werden. Wenn in deiner Geschichte zum Beispiel ein Dorf überraschend von Banditen überfallen wird, ist das zwar für die Bewohner des Dorfes überraschend und passiert vermutlich innerhalb weniger Minuten, dennoch solltest du deinem Leser mehr als nur drei Sätze über die Ereignisse anbieten. Versuch, einzuschätzen, wie dramatisch dies Szenen sind, wie heftig der Wechsel von Perspektiven, Orten oder Themen – je größer der Wert ist, den du hier herausbekommst, desto mehr Text sollte es auch dazu geben.
Das Erzähltempo anpassen: Nun hast du so eine Szene entdeckt, in der die Handlung einfach nur durchgehetzt wird. Was nun?
Als Anschauungsexemplar habe ich dir heute mal eine Jugendsünde meines Symbionten mitgebracht, einen kleinen Ausschnitt aus seinem allerersten Text:
»Laut erschallt in der Ferne der Ruf einer Katze. Die Berge erzeugen ein gewaltiges Echo, und der graue Kater läuft schnell in den Wald. Er kennt den Ruf. Das Zeichen zu Katzenversammlung. Nach einigen Minuten kommt er an einen rasch fließenden Fluss mitten im Wald. Das Wasser rauscht durch eine tiefe Schlucht. Und oben, in schwindel erregender Höhe, steht der Kater.« (Marvin Grauwolf, 2010)
So gern ich diesen Wolf auch mag, eine solche Szene geht natürlich nicht. Ich verlange Qualität!
Nun, was läuft hier schief? Der Absatz enthält im Grunde drei einzelne „Handlungen“. Zuerst einmal wird die vorherige Handlung von einem lauten Signal unterbrochen, worauf der Kater (dessen Name hier nicht bekannt ist) irgendwohin aufbricht. Daraufhin wechselt die Erzählperspektive und man erhält einen kleinen Einblick in den Katzenkopf – der Zweck des Signals wird dem Leser hier erklärt. Und als drittes wird ein neuer Handlungsort eingeführt (der Fluss in der Schlucht), und der Kater in dieses Bild gesetzt.
Und das alles wird in sieben Sätzen abgehandelt, etwa zwei Sätze pro Handlung. Ein echtes Problem, denn der Leser kommt so auf keinen Fall mit. Es fehlen Details und vor allem die Erklärung zum Katzenruf sollte man auch noch mal ausbauen.
Also … legen wir los!
Als ersten Schritt trennen wir die einzelnen Handlungen durch Absätze voneinander ab (und korrigieren die Rechtschreibfehler):
Laut erschallt in der Ferne der Ruf einer Katze. Die Berge erzeugen ein gewaltiges Echo, und der graue Kater läuft schnell in den Wald.
Er kennt den Ruf. Das Zeichen zur Katzenversammlung.
Nach einigen Minuten kommt er an einen rasch fließenden Fluss mitten im Wald. Das Wasser rauscht durch eine tiefe Schlucht. Und oben, in schwindelerregender Höhe, steht der Kater.
Und dann füllen wir das alles mit ein paar Details auf. Dabei achten wir besonders auf Stellen, die für den Autor zwar absolut einleuchtend sind, wo der Leser die Brücke aber nicht unbedingt schlagen kann. Fangen wir mit der ersten Handlung an:
Plötzlich erschallt in der Ferne der Ruf einer Katze. Die Berge erzeugen ein gewaltiges Echo und tragen die Stimme des Tiers so in jeden Winkel des Tals. Der graue Kater spitzt die Ohren und lauscht einen Moment aufmerksam, dann dreht er sich um und läuft schnell in den Wald.
Zunächst einmal habe ich hier den Ruf der Katze besser beschrieben. Es ist nicht etwa so, dass die Katze geradezu magische Stimmbänder hat, ihr Miauen wird nur von den Bergen verstärkt. Oft muss man genau darauf achten, wie Sätze interpretiert werden können. Frag vielleicht deine Testleser, was sie sich bei einer Beschreibung vorstellen. Oft merkst du, dass die Meinungen da weit auseinander gehen, und sich vor allem von deiner Version unterscheiden. Wenn du jemanden kennst, der zeichnen kann: Schicke ihm oder ihr die Beschreibung eines Ortes und bitte die Person, daraus eine kleine Skizze zu machen. Es gibt nichts hilfreicheres als solche Skizzen, um Fehler zu entdecken.
Zweitens habe ich den Aufbruch des Katers in einige kleinere Bewegungen „übersetzt“. Er rennt nicht einfach plötzlich weg, sondern es ist deutlich, dass er auf den Ruf reagiert. Wenn ein Charakter sich bewegt, ist es immer gut, einige kleine Bewegungen zu beschreiben – das kann auch dazu dienen, die Stimmung besser darzustellen: Läuft vielleicht ein nervöser Schauer durch das Katzenfell? Bleckt er genervt die Zähne und legt die Ohren an? Richtet er sich auf und läuft mit federnden, erwartungsvollen Schritten los? Jedes Mal bedeutet der Ruf etwas ganz anderes, auch, wenn nicht genau verraten wird, worum es geht.
Nun zur nächsten Handlung:
Er hat den Ruf erkannt. Es ist die Stimme seiner Oberkatze, die zur nächsten Versammlung aufruft. Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen. Der Kater muss sich beeilen, denn der Treffpunkt ist zwei Tagesreisen entfernt, und zur übernächsten Dämmerung sollte er dort sein.
Was ist hier passiert? Es wurde klargestellt, woher der Ruf kommt und was er bedeutet. Ebenso wurde erklärt, warum der Kater so unverzüglich aufbricht. Das hier ist ein weiterer Fall, wo dem Autor klar ist, was geschieht, der Leser jedoch eher verwirrt ist. Mit der neuen Version weiß der Leser, dass es ab und zu Katzenversammlungen gibt, auf denen die Katzen etwas besprechen, und dass eine längere Reise vor unserem Helden liegt.
Teil drei:
Sein Weg führt den Kater bald an das Ufer eines rasch fließenden Flusses im Wald, der sich tief in sein steinernes Bett gegraben hat. Die Wassermassen strömen wild durch den engen Graben, das Rauschen, das von den dunklen Felswänden widerhallt, ist ohrenbetäubend laut. Unter der Wasseroberfläche, fast nicht zu erkennen, befinden sich scharfkantige Felsen. Die Strömung gerät über den heimtückischen Steinen in chaotische Wirbel, Gischt wird weit in die Höhe geschleudert. Doch die weißen Tropfen erreichen trotzdem nicht die Kante der steilen Steinufer. Der Kater blickt nervös in die Tiefe der breiten Schlucht.
Ja, Details sind einfach der Herzblut jeder Geschichte! Eine Sache, die du hier sehen kannst, ist die Anwendung einer „Blickführung“. Das imaginäre Auge des Lesers gleitet über die Felsen hinab in die Tiefe, streift die Steine der Stromschnellen, fliegt mit der Gischt wieder hinauf und richtet sich letztendlich wieder auf den Kater – wie eine Kamerafahrt! Dadurch wirkt der Übergang zu allem, was der Kater danach tut (namentlich: Den Fluss zu überqueren.) sehr viel intuitiver und flüssiger, statt wie ein neuerlicher, plötzlicher Szenenwechsel.
Bewundern wir also das Endergebnis:
Plötzlich erschallt in der Ferne der Ruf einer Katze. Die Berge erzeugen ein gewaltiges Echo und tragen die Stimme des Tiers so in jeden Winkel des Tals. Der graue Kater spitzt die Ohren und lauscht einen Moment aufmerksam, dann dreht er sich um und läuft schnell in den Wald.
Er hat den Ruf erkannt. Es ist die Stimme seiner Oberkatze, die zur nächsten Versammlung aufruft. Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen – und das bedeutet nicht immer etwas Gutes. Der Kater muss sich außerdem beeilen, denn der Treffpunkt ist zwei Tagesreisen entfernt, und zur übernächsten Dämmerung sollte er dort sein.
Sein Weg führt den Kater bald an das Ufer eines rasch fließenden Flusses im Wald, der sich tief in sein steinernes Bett gegraben hat. Die Wassermassen strömen wild durch den engen Graben, das Rauschen, das von den dunklen Felswänden widerhallt, ist ohrenbetäubend laut. Unter der Wasseroberfläche, fast nicht zu erkennen, befinden sich scharfkantige Felsen. Die Strömung gerät über den heimtückischen Steinen in chaotische Wirbel, Gischt wird weit in die Höhe geschleudert. Doch die weißen Tropfen erreichen trotzdem nicht die Kante der steilen Steinufer. Der Kater blickt nervös in die Tiefe der breiten Schlucht.
Deutlich besser, wenn auch vielleicht nicht die perfekteste mögliche Lösung. Wie du vielleicht gemerkt hast, habe ich im zweiten Absatz noch ein bisschen was angepasst. Es gab für meinen Geschmack zu viele kurze Sätze hintereinander, also habe ich einen Nebensatz eingefügt, der gleichzeitig für ein bisschen Spannung sorgen sollte. Und ich habe ein „außerdem“ eingefügt, denn tatsächlich geht es im zweiten Absatz jetzt um zwei Dinge: Die Erklärung des Signals und die Erläuterung, dass der Kater sich beeilen sollte. Um das zu verdeutlichen, reicht so ein kleines Bindewort wie „allerdings“, „außerdem“, „zusätzlich“ aus.
Solche Szenen in Zukunft vermeiden: Nachdem du jetzt deine eigenen Schwächen erkannt und dein halbes Buch komplett überarbeitet hast – wie vermeidest du solche Probleme in allem, was du ab jetzt schreibst? Immerhin wirst du immer wieder das Problem haben, dass du beim Schreiben viel langsamer bist als andere beim Lesen. Kannst du dich überhaupt verbessern, oder wird es immer auf eine umfangreiche Überarbeitung hinauslaufen?
Da kann ich dich beruhigen: Den allerersten Schritt hast du bereits getan: Du hast begonnen, auf das Erzähltempo zu achten und deinen Blick geschärft. Du hast dich mit dem Thema auseinander gesetzt. Nach ein paar Überarbeitungen lernst du deinen Schreibstil kennen und du entdeckst bestimmte Anzeichen, die dir sagen, dass du das falsche Tempo hast. Du gewinnst ein Gespür für dein Erzähltempo. Mit der Zeit verinnerlichst du das Wissen derartig, dass du es beim Schreiben automatisch anwendest.
Um diesen Effekt noch zu verstärken, hilft es, selber viel zu lesen. Schreiben ist oft eine sehr intuitive Angelegenheit, und dein Wissen geht dir schnell und unmerklich in Fleisch und Blut über. Auch beim Lesen nimmst du Wissen auf, ohne es überhaupt zu merken.
Außerdem gibt es im nächsten Kapitel eine kleine Übung zum Schreibtempo, die dir möglicherweise weiterhilft.
Auf jeden Fall darfst du den Mut nicht verlieren. Wenn du eine alte Geschichte von dir durchliest und nur noch Fehler beim Schreibtempo entdeckst, heißt das im Umkehrschluss, dass du die Technik dazu jetzt drauf hast. Und dass du es in Zukunft besser machen wirst. Das Schreiben ist ein langer Lernprozess, zwangsläufig wird man Fehler machen. Aber auch ein Text mit zu viel Tempo und zu wenig Details ist noch lange nicht schlecht und auch nichts, wofür du dich schämen müsstest. Manchen Lesern wird überhaupt nichts auffallen, anderen wird dein Text sogar dabei helfen, die Problematik mit dem Erzähltempo selbst zu bemerken. Und was den Rest angeht: Wenn den Lesern deine Geschichte gefällt, werden sie sie lesen, egal, in welchem Tempo sie erzählt ist.