Weil Harald sich in der Gegend noch nicht auskannte, schlug Salome schließlich ein Restaurant vor, in das sie als Kind und Jugendliche gerne gegangen war. Seit sie für Juri arbeitete, war sie nicht mehr dort gewesen, aber es hatte sich nichts verändert.
Nicht nur die rustikale Holztäfelung der Wände mit den Schwerten und Schildern als Zierde war gleich geblieben, auch die Kellnerinnen waren lediglich um ein paar Jahre gealtert. Fast sofort stellte sich bei Salome ein behagliches Gefühl ein, dass sie ihre Probleme vergessen ließ.
Harald und Salome ließen sich einen Tisch zuweisen und die Karte bringen. Harald konnte den Blick aber nicht auf den Gerichten halten. Zu sehr fasziniert, oder abgestoßen, war er von dem Ambiente des Restaurants. Etwas derart rustikales kannte er nicht und ihm wäre niemals eingefallen, ein solches Restaurant zu besuchen. Er nahm sich vor, später Salome darauf anzusprechen, warum sie ausgerechnet hier her wollte, aber weil die Kellnerin schon zu ihnen schaute, bemühte er sich, ein Gericht zu finden.
Nur wenige Augenblicke später servierte die Kellnerin ihre Getränke und nahm das Essen auf.
Als sie weg war, atmeten Harald und Salome das erste Mal auf.
„Bist du denn wieder ganz gesund?“, eröffnete Harald das Gespräch mit etwas Positivem.
„Ja, der Doktor hatte jedenfalls nichts mehr zu meckern.“
Eine unangenehme Stille machte sich breit, während Harald versuchte, die nächsten Worte klug zu wählen.
„Hast du... mal nachgedacht, wie es weitergeht? Bei dir, meine ich? Oder möchtest du noch immer arbeiten?“.
Er rechnete halb damit, dass Salome ihn für diese Fragen sitzen lassen würde und wieder sauer sein würde. Aber Salome blieb sitzen, und für einen Moment sah sie traurig aus. „Nein, natürlich will ich nicht weiter arbeiten, aber was soll ich denn machen? Ich weiß, du willst es mir bezahlen, aber dann habe ich bei dir Schulden, und weiter?“.
„Aber arbeiten müsstest du nicht mehr dort“, unterbrach Harald eine zunehmend hysterische Salome, „du kannst mir das gerne irgendwann zurückzahlen. Mir ist wichtig, dass du nicht mehr dort arbeiten musst. Dass du von dem Kerl mitgenommen wirst, hätte auch noch ganz anders ausgehen können.“
„Ich weiß“, murmelte Salome kleinlaut und versuchte, ihre Gänsehaut zu ignorieren, die der Kerl noch immer bei ihr auslöste.
„Und wie soll ich dir das jemals zurückzahlen? Das wird noch viele Jahre dauern, ich habe ja noch nicht mal eine Ausbildung.“
„Dann dauert es eben so lange. Das kriegen wir schon irgendwie hin, aber das Wichtigste ist, dass du nicht mehr bei Juri arbeiten musst. Danach können wir überlegen, was wir machen. Da helfe ich dir auch gerne.“
Salome war froh, dass in diesem Moment ihr Essen gebracht wurde, denn sie hätte ihre Dankbarkeit nicht in Worte fassen können, die ihr genug erschienen. So wünschten sie sich einen guten Appetit und das Essen verlief stumm.
Während Harald das Essen genoss, es schmeckte wirklich sehr gut, würgte Salome ihres hinunter.
Sie schwankte immer stärker zwischen ihren Prinzipien und dem Vertrauen für Harald.
Er war ihre Eintrittskarte in ein normales Leben. Natürlich war er so etwas wie ihr Ritter in strahlender Rüstung, aber wer garantierte ihr, dass er es auch noch war, wenn sie Schulden bei ihm hatte? Bei Juri wusste sie nach Jahren, woran sie war. Harald war manchmal noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Dennoch, die Verlockung war einfach zu groß. So schlimm wie manch ein Freier konnte sie sich Harald nicht vorstellen. Mittlerweile war sie mit essen fertig und wollte Harald gerade sagen, dass sie sich dazu entschieden hatte, da trat die Kellnerin von vorhin an den Tisch und trug das Geschirr ab. Gleichzeitig bat Harald um die Rechnung. Wenige Minuten später kam die Kellnerin zurück und legte ungefragt Harald die Rechnung vor ihm auf den Tisch. Er bezahlte wie selbstverständlich. Leise murrend steckte Salome ihren Geldbeutel wieder weg und folgte Harald aus dem Restaurant.
Harald bemerkte ihre schlechte Laune.
„Was ist los?“, fragte er irritiert, als sie vor dem Restaurant standen.
„Ich wollte auch bezahlen“, murrte Salome, sie war immer noch überrumpelt.
„Dann war das eben eine Verabredung, und ich habe gezahlt“, meinte Harald und zuckte mit den Schultern. Die Selbstverständlichkeit, mit der Harald ihr Treffen „Verabredung“ nannte, ließ Salome einen angenehmen Schauer über den Rücken prickeln und ihre schlechte Laune vergessen.
„Ein Date...“, wiederholte sie leise murmelnd und schenkte Harald damit ein Lächeln. Er nahm ihre Hand und zog Salome so nah an sich, dass nicht einmal mehr ein Blatt Papier zwischen ihre Oberkörper gepasst hätte. So nah spürte Salome Haralds Atem auf ihrem Gesicht und konnte erkennen, dass er winzige Sommersprossen auf dem Nasenrücken hatte.
Ihr Körper war schneller als ihr Kopf, sie folgte einem Automatismus, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Lippen sanft auf Haralds legte. Dabei kribbelten tausende kleine Stromstöße durch beide Körper und die Welt um sie herum war ausgeblendet. Es existierten noch nicht einmal ihre Körper, nur ihre miteinander verschmolzenen Lippen waren noch von Bedeutung.
Nach Atem ringend lösten sie den Kuss, die Wangen gerötet und den Blick immer noch fest auf ihren Gegenüber gerichtet. Jedes weitere Wort schien überflüssig zu sein, aber sich für immer anzuschweigen ging natürlich nicht. Nur, was sagen?
„Ich hole dich da raus“, murmelte Harald schließlich mit heiserer Stimme, die Augen immer noch unverwandt auf Salome gerichtet.
„Du sollst da nicht sein. Ich hole dich da raus. Am liebsten schon heute.“
Salome schluckte schwer. „Bitte“, hauchte sie nur, unfähig mehr zu sagen.
Wieder breitete sich Stille zwischen ihnen aus, aber dieses Mal wacr sie nicht unangenehm.
„Mittwoch. Mittwoch habe ich frei. Ich komme und hole dich raus dort“, meinte Harald schließlich mit etwas festerer Stimme.
„Meinst du, dass das klappt? Ich habe Angst“, flüsterte Salome und sofort nahm Harald sie in den Arm und drückte sie.
„Du darfst keine Angst haben. Irgendwie wird es klappen. Darüber können wir noch reden. Aber du musst positiv denken. Nur noch vier Tage, dann hole ich dich dort raus und du kannst erst Mal bei mir wohnen. Wir finden dann für alles eine Lösung, irgendeine. Mir ist wichtig, dasss du dort nicht mehr arbeiten musst.“
Soweit es ihr in der Umarmung möglich war, nickte Salome. Die Tränen, die sich einen Weg bahnten, machten ihr das Sprechen allerdings unmöglich.
„Ich werde ihm das Geld mitbringen, was du ihm schuldest. Dann muss er dich frei lassen. Du hast mal gesagt, dass er sehr fair ist. Er würde dich gehen lassen, oder?“.
„Ich denke schon“, würgte Salome hervor, „das hat er bei anderen Mädchen auch getan. Aber so oft kommt das nicht vor, die meisten haben Schulden bei ihm.“
Harald wischte ihr mit sanften Bewegungen die Tränen von den Wangen.
„Dann wirst du eben seit langem mal wieder jemand sein, der sich freikaufen kann.“
Salome nickte lediglich, der Kloß in ihrem Bauch schien sekündlich größer zu werden und sie am Sprechen zu hindern.
Sie wusste selbst nicht einmal, ob es die Angst war, die sie lähmte, oder die Ungewissheit, ob die Aktion wirklich gut gehen würde, und ob Harald auch wirklich sein Wort halten würde. Vermutlich war es eine Mischung aus alldem, beschloss sie und zwang den Kloß in ihrem Bauch, sich aufzulösen. Salome atmete tief durch, löste sich aus der Umarmung und straffte die Schultern.
„Ich kann meine Dankbarkeit gerade echt nicht in Worte fassen, ich bin bei sowas ziemlich schlecht. Aber ich bin dir ziemlich dankbar, egal ob es klappt oder nicht, weil...“, ihre Stimme brach für einen Moment, aber Salome fing sich sofort wieder, „weil es überhaupt noch nie jemand versucht hat, mir zu helfen. Alleine das ist schon ein Wunder für mich.“
Sie blickte mit einem Lächeln zu Harald hinauf, der angesichts von so viel Ehrlichkeit verblüfft war. Dennoch erwiderte er ihr Lächeln. Er wollte etwas antworten, aber Salome kam ihm zuvor.
„Aber trotzdem muss ich jetzt noch nach Hause in meine Wohnung. Würdest du mich vielleicht fahren? Busfahrkarten sind so verdammt teuer...“.
„Klar fahre ich dich, steig ein“, sagte Harald sofort. Er hätte Salome jeden Wunsch erfüllt, wenn sie jetzt gefragt hätte.
Sie schenkte ihm noch einmal ein Lächeln, dass ihn schaudern ließ, Schließlich stieg sie auf der Beifahrerseite ein, während Harald am Lenkrad Platz nahm.
„Wo genau ist denn eigentlich deine Wohnung?“, fragte er und wunderte sich gleichzeitig, dass sie noch nie darüber gesprochen hatten.
„Fahr‘ mich zu meinem Arbeitsplatz. Ich wohne direkt obendrüber. Vielleicht hältst du aber lieber ein paar Straßen weiter, bevor dich jemand in dem Auto erkennt...“.
Die Erwähnung des Bordells ließ die Stimmung wieder merklich abkühlen und sowohl Harald als auch Salome schwiegen angespannt.
„Na gut“, seufzte Harald schließlich und startete den Wagen, „dann fahre ich dich da hin.“
Salome konnte nur ein „danke“ hervorwürgen, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und drückte sich tiefer in den Sitz hinein. Sie betete stumm, dass das Bordell bald Geschichte sein würde und dann nie mehr zwischen ihnen stehen würde. Bisher hatte sie sich noch nicht erlaubt, an die Zeit danach zu denken, aber auf der Fahrt schweiften ihre Gedanken ab.
Sie könnte bei Harald wohnen, zumindest erst einmal, und vielleicht könnte sie dann endlich ein Studium beginnen, aber was wollte sie eigentlich studieren? Als sie jung war, hatte sie sich immer irgendetwas künstlerisches gewünscht, aber heute war sie sich da nicht mehr so sicher.
Harald beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Salome schien mit ihren Gedanken so weit weg zu sein, dass er sie nicht stören wollte, auch wenn er die Stimmung gerne aufgelockert hätte.
In ein paar Tagen hatten sie alle Zeit der Welt.