Unwohl betrachtete sich die junge Frau im Spiegel der Toilette, die im völligen Kontrast zu ihrem gepflegten Aussehen stand.
Ihr schwarzes Haar war frisch gewaschen und zu einem Zopf hochgebunden. Ihr Körper steckte in einem langärmligen Kleid mit kurzem Rock, dazu trug sie schwarze Kniestrümpfe und hatte sich geschminkt.
Scarlett war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Sie brauchte schnell Geld und daher war dieses Angebot wirklich hervorragend. Dennoch war sie nervös. Es war ein völlig neues Feld und sie hatte keinerlei Ahnung. Daher war sie sich nicht sicher, ob ein solcher Langzeitauftrag für sie überhaupt geeignet war.
Was wenn sie es vermasselte?
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Sie sollte wirklich nicht versagen, ohne es überhaupt versucht zu haben. Bisher kannte sie nicht einmal ihren neuen Chef oder sie genauen Bedingungen. Noch konnte sie sich zurückziehen. Aber sicherlich nicht ohne sich vorher die Bedingungen angehört zu habe.
Scarlett blickte auf ihre silberne Armbanduhr und holte sie unter dem Ärmel hervor.
Es war gleich soweit. Sie sollte nach draußen gehen und ins Restaurant gegenüber.
Sie befand sich hier in einem sicheren und vertrauten Umfeld. Einer Kneipe, die sie regelmäßig mit ihren Freunden besuchte. Doch das Treffen mit ihrem Kunden würde in einem Restaurant einige Ecken weiter stattfinden. In einem noblen Restaurant. Etwas wo sie selbst nicht speisen würde, weil sie es sich nicht leisten konnte.
Noch einmal atmete sie durch und verließ dann die Toilette, um sich auf den Weg zu machen. Es war besser, wenn sie zu zeitig war, als zu spät.
Sie wollte immerhin gleich beim ersten Treffen keinen schlechten Eindruck machen. Bereits beim Heraustreten in die lauwarme Abenddämmerung der Sommernacht, ereilte sie ein flaues Gefühl im Magen. Was wenn ihr Arbeitgeber Dinge von ihr wollte, die sie nicht erfüllen konnte... oder nicht wollte. Natürlich waren viele Grundlagen und Wünsche von Scarlett vertraglich festgehalten worden. Doch wie seriös die Agentur tatsächlich war, konnte sie nur mutmaßen. Die Erfahrungsberichte, von denen sie gelesen hatte, waren durchweg positiv, bis auf einige Ausnahmen, doch die waren immer anzutreffen.
Schwarze Schafe gab es unter allen Menschen.
Sie atmete tief durch und straffte die Schultern, während sie sich dem Restaurant näherte. Schon von außen machte es einen guten Eindruck und wirkte teuer. Sie hoffte nur, dass sie sich nicht wie auf einem Präsentierteller fühlen würde.
Nervös und unbehaglich trat sie an die Glastür, welche ihr sofort geöffnet wurde. „Sie haben bestellt?", fragte die Stimme eines Kellners, der wohl dazu da war, um sie an ihren Platz zu begleiten.
Scarlett nickte etwas überfordert. „Ich bin verabredet", erklärte sie leise und suchte mit den Augen nach ihrem Auftrag, doch von hier aus konnte sie nur einen minimalen Teil der Restaurantfläche überhaupt sehen. Darunter auch keine Tische mit Gästen.
Der Mann mit der schwarzen Weste ließ seinen schwarz metallischen Kugelschreiber klicken und blickte auf das kleine Pult, auf welchem das Gästebuch lag. Mit der Spitze des Schreibers setzte er am Anfang der Namensliste an und blickte vielsagend zu der Schwarzhaarigen. „Name?"
„Nolan", erklärte sie und versuchte nicht unbehaglich mit den Fingern zu spielen. Sie wusste, dass sich so etwas nicht gehörte, dennoch war sie nervös.
Der Mann fuhr mit dem Kugelschreiber in der Hand die lange Liste an Namen entlang und Scarlett befürchtete fast schon, sie wäre im falschen Lokal. Doch dann klärte sich der Gesichtsausdruck des Herren und er blickte freundlich zu Scarlett auf. „Wenn sie mir bitte folgen würden, Miss Nolan", wies er sie an und deutete in einer fließenden Handbewegung eben jenes zu tun.
Scarlett fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn sie versuchte sich das nicht anmerken zu lassen. Mit einem aufgesetzten Lächeln folgte sie dem Kellner, der sie durch das Lokal zu einem Tisch führte, der ein wenig abseits, fast hinter dem Sichtschutz verborgen lag. Generell war das Lokal so eingerichtet, dass es den einzelnen Tischen viel Privatsphäre bot.
Wenn sie sich so das elegante Ambiente besah, fühlte sie sich fast schon underdressed. Zwischen Kronleuchtern, Kerzen und Skulpturen, hätte sie meinen können, sich auf einer Gala befinden zu können. Noch dazu die leise instrumentale Melodie eines Pianos, die im Hintergrund spielte und dem Restaurant ein wenig Leben einhauchte.
Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde sie unruhiger. Drei Monate waren doch eine recht lange Zeit, aber die Bezahlung war Spitzenklasse. Da hätte sie sich doch denken können, dass es sich um einen reichen Mann handelte. Dennoch hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Mann, der sie engagieren wollte, kaum älter war als sie. Zumindest glaubte sie, dass der Mann, der dort am Tisch wartete, kaum älter war, als sie. Mit Sicherheit konnte sie es jedoch nicht sagen. Zumindest war er nicht in dem Alter, das sie erwartet hatte.
Ohne es zu wollen, begann sie ihn mit ihren dunkelblauen Augen zu mustern.
Tatsächlich passte sein Äußeres durchaus zum Ambiente des Restaurants. Er wirkte sehr gepflegt, vermutlich dem Status entsprechend, gekleidet in einen teuren Anzug. Auch wenn sie es nicht ganz zuordnen konnte, meinte sie sogar sein Gesicht mit den stechend grünen Augen und dem goldbraunen Haar zu kennen. Nur woher? Sie konnte es nicht sagen.
Warum sollte jemand wie er eine Escort engagieren? Eine normale Begleitung konnte es nicht sein und auch ein Zeitraum für drei Monate sprach nicht dafür. Er wirkte weder abstoßend, weshalb er womöglich keine Verabredung kriegen würde, noch schien er arm zu sein, wenn er sie in ein solches Lokal einlud.
Aber der Grund, warum er jemanden wie sie bestellte, würde sich wohl in den nächsten Momenten ergeben.
Der Kellner zog ihren Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte und ließ danach einen Wein bringen und machte Scarlett darauf aufmerksam, dass der Gastgeber wohl ein Gängemenü bestellt hatte. Sie würde also nicht einmal bestellen müssen. Was vielleicht nicht ganz verkehrt war, denn wahrscheinlich würden ihr bei den Preisen auf der Karte die Augen übergehen.
Sie kam sich ja ohnehin bereits beinahe billig vor hier zu sitzen. Nicht nur, dass ihre Kleidung wohl billiger war als der Kerzenständer auf ihrem Tisch, sondern auch aus dem Grund weswegen sie hier war. Auch wenn die Agentur ihr versichert hatte, dass alles rein bürokratisch ablief, so wurde sie das Gefühl nicht los, eine besser bezahlte Prostituierte zu sein. Doch eine andere Wahl hatte sie nicht und um sich umzuentscheiden war es ohnehin schon viel zu spät.
Wobei sie sich vielleicht doch die Blöße geben würde, aufzustehen und zu gehen, sollte dieser Mann, der tatsächlich ihrem Typ entsprach, von ihr verlangen, dass sie sich ihm sexuell hingab. Sie würde ihren Körper nicht verkaufen. Auch wenn sie das Geld brauchte. Nicht für sich.
Ein schlechtes Gewissen überkam sie, während sie darauf wartete, dass der Mann zu sprechen begann. Oder sollte sie? Wobei sie nicht einmal seinen Namen kannte, aber er ihren. Sie konnte also kaum anders als zu warten, dass er sich vorstellte.
Ein breites Lächeln überkam langsam aber sicher seine Lippen, während er sie ohne jede Scham von Kopf bis Fuß musterte. Als er wieder bei ihren dunklen blauen Augen angekommen war, verließ ihn sogar ein erfreutes glucksen. „Oh, du bist wirklich perfekt für den Job", erklärte er begeistert und legte den Kopf ein wenig schief. „Darwin Christensen, dein Auftrag für die nächsten drei Monate. Aber... das hast du dir sicher schon gedacht", lächelte er und musterte sie mit neugierig funkelnden Augen.
Scarlett fühlte sich von der plötzlichen Reaktion ein wenig überfahren und versuchter herauszufinden, warum ihr der Name Christensen so bekannt vorkam. Irgendwas in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie den Namen kannte, aber ihr wollte einfach nicht einfallen woher.
Mühsam versuchte Scarlett eine professionelle Maske aufrecht zu erhalten. „Scarlett Nolan, wie Sie sicher noch in Erinnerung haben", erklärte sie einfach der Form halber. „Und was die nächsten drei Monate betrifft: Ich bin neugierig zu erfahren, was Sie von mir in dieser Zeit erwarten. Darum sind wir doch hier, schätze ich."
Es fiel ihr schwer ihre Stimme ruhig und bedacht klingen zu lassen und nicht vor Aufregung und Nervosität zu stottern. Dabei war sie über die Tatsache überrascht, dass es so gut funktionierte.
Ein kurzes, doch sehr eigenes Auflachen verließ seine Lunge, worauf er sich zurücklehnte und einen Schluck Wein nahm.
„Durchaus, ja", murmelte er in sein Glas und verengte leicht die smaragdgrünen Augen. „Lernen wir uns doch erst mal richtig kennen", fügte er nun hinzu und zog unter dem Tisch eine dünne Mappe hervor, die er auf den Tisch fallen ließ.
Neugierig betrachtete Scarlett die Mappe. War das die Mappe, in der sich ihr Profil befand? Und wie meinte er das? Das klang fast, als wäre sie auf einem Blinde Date. Eigentlich hatte sie gehofft es geschäftlicher angehen zu lassen.
Langsam und mit bedachter Bewegung stellte Darwin das Glas zurück auf den Tisch und zog darauf seinen Stuhl näher an den Tisch. Bereits als er die erste Seite aufschlug, konnte Scarlett es sich einfach nicht nehmen unauffällig auf die Seiten zu schielen. Hatte sie es sich doch gedacht. Es war ihr Portfolio, mit Bild, Informationen und Referenzen.
Das machte sie doch ein wenig nervös. Immerhin wusste er viel mehr über sie, als sie über ihn.
„Da Sie sicherlich eine Menge über mich wissen, wäre es dann nicht gerechter, wenn Sie mir erst einmal etwas über sich erzählen?", fragte Scarlett und versuchte erst einmal herauszufinden, wie Darwin so war.
„Nein", erwiderte er geradewegs heraus mit einem Lächeln, ehe er sich ihrer Mappe besah. „Hier steht du bist gebürtige Amerikanerin. Hast du andere Wurzeln?", fragte er gleich darauf und blickte auf, um sie fragend anzusehen.
Scarlett verengte bei diesem Verhör ein wenig die Augen. „Mein Vater war zwar schwarz, ist aber Amerikaner", erklärte sie zögerlich. Sie konnte nicht sagen wann die Familie ihres Vaters nach Amerika gekommen war. Das war schon mehrere Generationen her. So lange, dass im Grunde nur die dunklere Hautfarbe geblieben war. Obwohl ihre Haut nicht richtig dunkel sondern sonnengebräunt war. Trotzdem war sie sich nicht sicher, was sie von der Frage halten sollte. Warum wollte er das wissen?
Ihr gegenüber nickte langsam, während seine Hand sein Kinn stützte und sein Finger gegen seine Unterlippe tippte. „Fremdsprachen?", setzte er fort und diese Unterhaltung schien mehr und mehr wie ein Bewerbungsgespräch zu klingen.
„Ich spreche Deutsch ganz gut", erklärte Scarlett zögerlich. Diese Fragerei machte ihr Bauchschmerzen. Sie sollte doch nur ein Escort-Girl sein. Aber der junge Mann schien jemand sehr spezielles im Sinn zu haben, bei den Fragen, die er stellte.
„Wirklich? Woher?", erwiderte er scheinbar überrascht und zog nun die Augenbrauen fragend zusammen.
„Ich habe ein Studium in Servicemanagement begonnen, in dem ich diese Sprache lernen konnte", erklärte sie und fühlte sich ein wenig sicherer. Immerhin wusste sie, was sie dazu sagen konnte.
„Servicemanagement?", wiederholte er und entspannte seine Haltung wieder, indem er sich zurücklehnte, die Mappe jedoch offenließ. „Klingt als würdest du dich auskennen", mutmaßte er.
„Im Servicemanagement und im Umgang mit Menschen, da ich für meine Studienfinanzierung einen Job als Kellnerin angenommen habe", erklärte Scarlett und entspannte sich ebenfalls ein wenig. Was meinte er damit, dass sie sich auskannte? In was?
Eine Weile schwieg er, ehe er sich mit einem plötzlichen Lächeln wieder nach vorne lehnte, kurz bevor der erste Gang serviert wurde. „Gefällt dir das Restaurant?", fragte er plötzlich, als wäre es aus Höflichkeit. Doch irgendwas war merkwürdig an seiner Stimme, als wäre diese ganze Unterhaltung ein einziges Minenfeld.
Scarlett entschied sich dazu sich ebenfalls nach vorn zu beugen, die Ellenbogen auf den Tisch zu stellen, die Hände zu verschränken und ihr Kinn darauf abzulegen, so dass sie Darwin nun doch recht nah war. „Mir gefällt die Gesellschaft", erwiderte sie statt einer direkten Antwort, auch wenn sie nicht wusste, ob das so angebracht war.
Erneut kam dieses kurze auflachen, von dem sie nicht wusste ob es schelmisch oder ironisch war. Doch es schien auf jeden Fall sein ganz eigenes zu sein. „In was für einem Lokal hast du bedient?", fragte er nun und beachtete kaum das Carpaccio, was vor ihm serviert wurde.
„Ich schätze weniger exquisite Lokale", gab Scarlett ausweichend von sich. Es waren zwar auch ein paar bessere darunter gewesen, doch nur wenn diese Probleme mit dem Personal hatte.
Sie lehnte sich ein Stück zurück, damit man ihr das Essen servieren konnte. Es sah fabelhaft aus und Scarlett lief das Wasser im Mund zusammen.
„Keine Erfahrung in gehobeneren Kreisen?", hackte er Stirnrunzelnd nach und griff bereits nach dem Besteck, welches in langen Reihen, neben seinem Teller platziert war.
„Ein wenig im Hotelmanagement", gab Scarlett ein wenig ausweichend von sich. Wieso fragte er das? Was sollte sie nur für ihn tun?
„Demokrat oder Republikaner?", setzte er nahtlos fort, als würden sie sich in einem Schlagabtausch befinden.
„Demokrat", war die Antwort, die fast schon ein wenig seufzend klang. Diese Fragerei machte sie mürbe. Daher griff sie nach ihrem Besteck, um wenigstens das Essen zu genießen.
„Ich nehme an du hast keine Manieren studiert, oder?", fragte er plötzlich als wäre es eine vollkommen normale Frage. War das eine Beleidigung gewesen? Der Ton war normal, doch der Inhalt durchaus bedenklich.
„Ich kenne keinen Ort, an dem man so etwas studieren kann", erklärte sie und fühlte sich, als würde sie über Eis laufen, das jeden Moment unter ihren Füßen nachgeben würde.
„Das war auch eher auf deine seufzende Antwort bezogen. Sowas solltest du in den nächsten drei Monaten unterlassen", erwiderte er nüchtern und nahm einen ersten Bissen von dem dünnen Rindfleisch.
„Ich bin nicht davon ausgegangen, dass diese Sache politisch wird", erklärte sie und ärgerte sich darüber schon den ersten Fehler begangen zu haben. Aber umso neugieriger war sie auf das, was sie die nächsten 3 Monate erwarten würde, wenn er schon auf solche kleinen Dinge achtete. Warum war das so wichtig? Wo wollte er sie dabeihaben?
„Weniger politisch, als mehr Etikette. Aber ich werde dir wohl ohnehin einen Crashkurs verpassen müssen... beziehungsweise wird West das übernehmen", erklärte er sorglos, als würde sie wissen wovon er sprach.
Was sie aber definitiv nicht wusste. „Würden Sie mir dann bitte erklären, was genau ich in den 3 Monaten für Sie tun soll? Ich würde gerne wissen worauf ich mich einlasse", versuchte es Scarlett erneut, denn die Vorstellung ein Crashkurs in Etikette wäre wichtig, gefiel ihr nicht sonderlich. Aber wenn sie dieses Restaurant sah, konnte sie sich denken in welchen Kreisen Darwin verkehrte. Da war Etikette wahrscheinlich wirklich sehr wichtig.
Noch immer kauend von einem Stück Fleisch schielte Darwin auf, ehe er sich den Mund mit der Serviette säuberte und Scarletts Blick aufnahm. „Das... werde ich nicht hier besprechen. Doch lass dir gesagt sein, dass du in den nächsten Monaten an meiner Seite auftreten wirst, bis wir uns in drei Monaten durch einen schlimmen Streit trennen werden", erklärte er und lächelte nachdem er seine Worte beendet hatte, geradezu dreist.