Hope
Als es zur Pause klingelt, beginnen die Schüler gemächlich ins Schulgebäude zu trotten. Den meisten von ihnen sieht man an, dass sie die letzte Nacht kaum zum Schlafen genutzt haben können. Mir konnte das als Tochter des Direktors nicht passieren. Gestern hat mich das zwar gestört und ich habe es mir nicht nehmen lassen zu diskutieren, doch jetzt bin ich froh darüber.
Gemeinsam mit den beiden Mädchen, mit denen ich mich gerade noch unterhalten habe, schließe ich mich dem Strom an. Wenn ich mich nicht täusche gehören beide zu den neuen Schülern, von denen mein Dad mir berichtet hat. Wie in jedem Jahr hat er an fünf Teenager Stipendien verteilt. In diesem Jahr durfte ich ihm bei der Auswahl helfen. Schließlich geht es dieses Mal um die Stufe, die ich auch besuche. Stipendien werden allerdings nur an Schüler vergeben, deren Eltern es sich sonst nicht leisten können.
Ein Großteil meiner Mitschüler ist davon nicht wirklich begeistert und argumentieren, dass die Stipendiaten nicht zu uns passen würden. Doch ich sehe das ganz anders. Diese Leute können schließlich auch nichts dafür, dass ihre Eltern nicht in Geld schwimmen. Die Chance auf eine der besten Ausbildungen in ganz New York und Maine darf man ihnen aber trotzdem nicht verwehren.
Diese Einstellung ist es aber auch, die meinen Vater dazu veranlasst hat, mich regelrecht dazu zu zwingen den Neuen in der ersten Pause die Schule zu zeigen. Das ist das Einzige, wovon ich nicht gerade begeistert bin.
"Wo müssen wir jetzt hin?", fragt mich die Blonde der beiden. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die Namen der Mädchen gar nicht kenne und beschließe sie bei der nächsten Gelegenheit zu fragen. Jetzt ist dafür nämlich nicht der richtige Zeitpunkt.
"Da entlang", ich deute nach links und wir lösen uns aus dem Schülerstrom. Glücklicherweise haben die beiden Mädchen mir mitgeteilt, was sie gleich für Fächer haben. Dadurch weiß ich, dass sie in den ersten beiden Stunden mit mir Unterricht haben. Das erleichter es mir erheblich.
Ich führe die beiden zu unserem Kursraum und prüfe, ob die Tür schon offen ist. Tatsächlich ist das der Fall, weshalb ich mit den Mädchen im Schlepptau eintrete.
Nach wenigen Metern bleibe ich jedoch stehen und versteife mich. Der Raum ist schon mit einigen Leuten gefüllt und es haben sich sogar schon Grüppchen gebildet. Mein Blick liegt allerdings auf einer ganz bestimmten Person. Ich bin unfähig den Blick von ihr abzuwenden.
Bereits im letzten Jahr haben wir uns zum ersten Mal getroffen und sogar miteinander geredet. Seitdem hatten wir aber leider wenig miteinander zu tun. Vergessen habe ich sie seitdem trotzdem nicht. Schon von Anfang an war da etwas, was mir an ihr gefallen hat. Was es war, kann ich allerdings nicht genau sagen.
Ihr Name ist Jil Cole und wir gehen schon seit Jahren in die gleiche Klasse. Warum wir also erst im letzten Jahr wirklich mehr oder weniger realisiert haben, dass der jeweils andere existiert, ist mir nicht klar. Ziemlich schade eigentlich. Das Mädchen hat blondes Haar, welches sie meistens zu einem Zopf bindet, und wunderschöne, haselnussbraune Augen, die sich in diesem Moment für einige Sekunden auf mich heften.
Ich halte den Atem an und versucht nicht rot zu werden. Wenige Sekunden später wendet sie sich dann jedoch wieder ihrer besten Freundin Thalia – ich kann sie nicht ausstehen – zu. Das Prickeln, welches sich über meinen ganzen Körper ausbreitet, haftet aber noch einige Sekunden länger an mir.
Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass mein Körper so reagiert. Auch auf dem Schulhof hat mich dieses ominöse Kribbeln bereits einmal an diesem Tag heimgesucht. Schon da hat er sich so angefühlt, als würde mich jemand beobachten. Scheinbar es dann wohl Jil, denn das Prickeln ist das Gleiche.
Der Gedanke, dass sie mich heimlich beobachtet, gefällt mir irgendwie. Sie gefällt mir und das hat sie, wenn ich ehrlich bin, schon von Anfang an. Sie hat jedoch noch nie irgendwelche Andeutungen gemacht. Aber wie auch? Schließlich ist sie heterosexuell und das lässt meine Chancen gen null schrumpfen.
"Hope? Geht es dir gut?", fragt dieses Mal nicht die Blonde, sondern die Braunhaarige. Ich blinzele mehrmals und drehe mich zu ihr herum: "Äh, ja klar." "Wo sollen wir uns hinsetzen?", die Stimme der Blonden ist unsicher. Ich sehe sie ein wenig überrascht an: "Du kannst dich einfach hinsetzen, wo du möchtest." War es auf ihrer Schule etwas anders oder denkt sie, dass es in dieser Schule anders ist? Nur weil die Schule teuer ist, heißt das ja nicht, dass es Platzkärtchen gibt, die die Schüler auf einen Platz festnageln.
"Setzen wir uns nach vorne, Iz?", fragt die Blondine daraufhin. "Okay", erwidert 'Iz' und führt die anderen zu zwei Plätzen in der ersten Reihe, wo noch alles frei ist. Das vertraute Verhalten der beiden und der Spitzname verraten mir, dass sie sich bereits ziemlich gut kennen und unter Umständen sogar befreundet sind. Ob sie vorher auch schon auf der gleichen Schule waren?
Als beide sich gesetzt haben, mache ich mich selbst auf die Suche nach einem geeigneten Platz. Ich schiebe mich an den anderen Schülern vorbei, bis ich einen freuen Tisch in der vorletzten Reihe gefunden habe, von dem aus man gut auf die Tafel sehen kann.
Damit ihn mir kein anderer mehr wegschnappen kann, lasse ich mich auf den Stuhl fallen und packe schonmal meinen Collegeblock und mein Etui aus. Vereinzelt trudeln weitere Schüler ein, während ein Großteil der Leute, die schon hier sind, ihre Sachen ebenfalls auspacken. Während ich ihnen dabei zusehe, bemerke ich, dass Jil eine Reihe vor mir sitzt. Zufall? Oder doch eher Schicksal?
Zwar unterhält sie sich mit der dunkelhaarigen Thalia, doch beobachten kann ich sie ja trotzdem, wobei ich mich aber auch nicht wirklich gut fühle und mir dabei stattdessen wie eine kranke Stalkerin vorkomme. Schließlich habe ich doch sowieso keine Chance bei ihr und werde es wohl auch nie haben.
In diesem Moment öffnet sich die Tür des Klassenzimmers erneut und unser Lehrer tritt ein. Er heißt Mr. Gererra und hat uns schon im letzten Jahr in Mathe unterrichtet.
"Guten Morgen", er bleibt vor der Tafel stehen und sieht uns freundlich an: "Ich hoffe, dass Sie alle schöne Ferien hatten und nun bereit für das neue Schuljahr sind." Darauf antwortet ein Teil der Klasse wie auf Knopfdruck mit einem genervten Seufzen.
"Ja, ich mag Ferien auch, aber wenn ihr so immer auf Arbeit reagiert, endet ihr später als Hartz vier – Empfänger", tadelt er die Klasse: "Ich habe mein Abitur schon." Der letzte Satz bringt selbst mich dazu mit den Augen zu rollen. Ist das irgendwie der Standardsatz nahezu aller Lehrer?
Daraufhin beginnt der Lehrer unbeirrt mit dem Unterricht und verteilt Arbeitsblätter, an denen ich mehr oder weniger konzentriert arbeite. Ich bin nicht schlecht in der Schule, aber dafür auch keine Streberin. Durchschnitt halt.
Nach einer gefühlten Viertelstunde öffnet sich die Tür erneut und ein, mir mehr als nur bekanntes, Mädchen tritt in den Raum hinein. Es ist Tessa Grayham, das wohl beliebteste Mädchen der Stufe – vielleicht auch der Schule – und die beste Freundin von Jil.
Auf ihren Lippen zeichnet sich ein zufriedenes Grinsen ab, als sich ihr die Köpfe aller Schüler zuwenden: "Hey."