Eine Woche Zeit! Für Hawe nahezu unendlich viel Zeit. Analytische Fähigkeiten, die ihm einst den beruflichen Erfolg erst ermöglicht hatten, sind auch im privaten Leben sehr gut zu gebrauchen. Ordnen sie doch die ansonsten chaotisch und mit Übermacht auf ihn einprasselnden Gedanken an das bevorstehende Wochenende. Schließlich ist er kein geübter Gastgeber und dementsprechend nervös.
Montag ist nochmal der Garten dran, Rasenmahd, Laub einsammeln, Gartennebeneingangsstor streichen, Dies und Das ordnen. Er gibt erst Ruhe, wenn alles perfekt ist. Wenn die verbliebenen Blätter an Strauchwerk und Bäumen nicht ohnehin die für diese Jahreszeit typische Färbung angenommen hätten, Hawe hätte gerne nachgeholfen.
Dienstag, Mittwoch und Donnerstag gehen für den täglichen Blödsinn drauf, welcher sowieso anfällt. Dieser ist nicht sonderlich erwähnenswert und schon gar nicht, bei einer Haushaltsgröße wie der von Hawe und seinem berenteten Lebensumständen.
Am Freitag herrscht Alarmstimmung. Seine Nervosität kennt kaum noch Steigerungsmöglichkeiten und er findet sich selbst in einer Art Prüfungssituation wieder. All das, sind natürlich selbstverschuldete Stresssituationen. Dabei wäre das überhaupt nicht nötig. Alles läuft, dank fast militärischer Präzision, glatt wie der Börsengang der Telekom.
Betten beziehen im ganzen Haus, immerhin zwei! Staubsaugen, Boden wischen, einkaufen, Bäder putzen und und und. Die Fenster waren letzte Woche dran und es hatte zum Glück seither nicht mehr geregnet.
Als er ziemlich erschöpft am Freitagabend auf der Terrasse im Halbschatten des Nussbaumes in den wirklich bequemen verstellbaren Gartenstuhl sinkt, ist er sicher, dass er nichts vergessen hat und er sich selbst und seine Habe in altersgemäßer Bestform präsentieren wird.
Bestform, davon scheint Marianne am Montag noch Lichtjahre entfernt zu sein. Nichts ist klar, alles in ihr fährt Karussell. Es ist eines mit langen Ketten und es gibt keine Möglichkeit selbst die Stopptaste zu betätigen. Also macht sie es so, wie sie es in solchen Situationen in denen sie ihr Leben nicht mehr in den Griff zu haben scheint immer handhabt, sie wartet einfach ab, bis irgendwer auf den Notausknopf drückt. Das passiert dann auch unversehens im Verlaufe der Woche. Alles fügt sich irgendwie zusammen. Hätte der Schöpfer ein Drehbuch geschrieben, in dem tausende kleine unsichtbare Helfer eifrig alles umsetzen, hätte es nicht besser und unbeschwerter klappen können. Als sie am Donnerstag noch, nach ihrem harten langen Tag im Amt, einen Frisörtermin ergattert, kann eigentlich gar nichts mehr schief gehen und ihre Zuversicht gewinnt die Oberhand.
Am Freitag packt sie schon mal das Köfferchen. Nach dem dritten Versuch alles vorgesehene zum überleben in der Ferne im dem kleinen Etwas unter zu bringen, legt sie erst einmal eine Teepause ein und bildet eine gedankliche Streichliste.
Nach der Reduktion auf das Wesentliche, passt sogar am nächsten Morgen der Kulturbeutel, ihre Brieffreundin mit Ostsozialisierung Carola, nennt das Waschtasche, in den Koffer. Bester Dinge mit Sonne von oben und Rückenwind startet Marianne ihr vollgetanktes und Blitz sauberes Wägelchen in Richtung unbekanntes Terrain. In der Gegend von Hawes Wohnort war sie schon einmal, unbekannt für sie ist nur der weitere Werdegang des Wochenendes. Aber gerade das macht Marianne Spaß und sie fühlt sich so lebendig, wie lange nicht mehr.
153,2 Kilometer, wenn es gut läuft zweieinhalb Stunden, sagt die Naviapp auf dem vollgeladenem Mobilfunkgerät. Es läuft nicht nur gut, es läuft ausgezeichnet, nichts los auf den Straßen. Marianne meidet seit der ersten Begegnung mit Hawe grundsätzlich Autobahnen. Der eifrig arbeitende Japaner, bringt sie zuverlässig und entspannt zur Zieladresse. Ein wenig verwundert sucht Marianne nun die entsprechende Hausnummer in einer unterkühlten, aufgeräumten Vorortsiedlung. Alles sieht eher verlassen aber gepflegt aus, kein Leben auf der Straße. Keine Frauen, die mit schweren Einkaufstaschen beladen, den Wochenvorrat an Dosenbier nach Hause schleppen. Keine marodierenden Jugendbanden, die die andere verhasste Klicke aus der Nachbarschaft verjagt. Keine frisch verliebten Teenager, die sich auf Bänken und hinter Bäumen wegducken, um beim kennenlernen des jeweils anderen Geschlechts nicht von gleichaltrigen beobachtet, oder noch schlimmer, von den eigenen peinlichen Eltern ertappt werden zu können. Nicht einmal parkende Autos versperren die Straßenränder, die stehen alle auf den parkähnlichen Grundstücken hinter gut gesicherten und oftmals blickdichten Begrenzungsanlagen. Alles im allen unwirklich. Sorgen scheinen die Bewohner der Häuser, so es die wider erwarten doch gibt, nicht zu haben, jedenfalls keine finanziellen. Ihr, sagen wir mal, nicht ganz unauffälliges Auto, will hier auch nicht wirklich rein passen. Gedanken solcher Art würden sich jedem anderem, nur nicht Marianne auf drängeln. Sie fährt schon das zweite mal im Kreis, weil die Errichter der Grenzbefestigungen am Wegesrand, scheinbar die Hausnummern mit Absicht nicht oder nur winzig klein und sicherlich unleserlich auf dem meistens betongrauen Untergrund hinterlassen haben. Entnervt und sicher, dass sie sich in ziemlicher Nähe des Zielhauses befindet, hält sie einfach an. Beim aussteigen sieht sie neben einem Tor ein Schild mit zwei parallel verlaufenden kursiven Strichen. 11! Das muss es sein. Klingel und Namensschild hätten wohl das architektonische Gesamtensemble komplett ruiniert und so hat man offensichtlich auf solch Nichtigkeiten zumindest an der Straße verzichtet.
Der Beschreibung nach, könnte sie am Ziel ihres momentanen Wunsches Angelangt sein. Da das Tor offensteht und weit und breit niemand zu sehen ist den sie hätte fragen können, stapft sie wacker den Hügel zum Haus hinauf. Der Weg dort hin ist so breit, dass dort Massenszenen von Monumentalfilmen hätten gedreht werden können. Neben der Tür des Hauses prangt dann die Klingel, eingebettet in eine metallisch matt glänzende Platte mit eingravierten Buchstaben des Bewohners. Hanswerner P……! Na bitte, alles richtig gemacht Marianne. Ihr linker Daumen drückt den Knopf und irgendwo tief in den Eingeweiden der hinter dem Bollwerk von Haustür liegenden Räume, war ein dumpfer Gong mehere Male zu vernehmen. Mariannes Körper straffte sich unwillkürlich als sie bemerkte, dass das gewaltige Portal lautlos geöffnet wurde. Das freundliche Gesicht des Mannes den sie erwartet hatte zu sehen, begrüßt sie nun herzlich aber unsicher. Unsicher, ob er einen Schritt auf sie zu machen soll oder lieber einen Schritt zur Seite, die Hand geben oder eine leichte Umarmung. Sicher ist er nur, dass es auf jeden Fall falsch ist.
Zum Glück für Hawe übernimmt das dynamische Dämchen die Initiative. Eine Hand ausgestreckt und mit der anderen bereit zum förmlichen Druck auf den Oberarm, nimmt Marianne dem taumelnden Hawe diese offenbar komplizierte Entscheidung ab. Er tritt nun zur Seite und bittet sie einzutreten. In der großzügigen Eingangshalle des Hauses stehen jetzt zwei die das Buch mit den Regieanweisungen nicht zur Hand haben. Marianne spielt gekonnt ihr Stärke aus. Unverkrampft improvisiert sie und beweist Führungsstärke. Zuerst geht sie auf die Toilette. Frisch machen- oder wie heißt das?
Begeistert von der durch die raumhohen Fliesen vorgegebenen Farbgestaltung des Gäste-WCs, hellbraun mit orange-blau, kommt sie erholt und erleichtert zurück zum wartenden Hawe. Gemeinsam schlendern sie nun in die Küche, da Hawe meint, Marianne ein Getränk anbieten zu müssen. Beiläufig entsteht eine lockere Konversation. Nach dem ersten großen Schluck Wasser, bittet Marianne um eine Hausführung, mit Inspektion der für sie vorgesehenen Übernachtungssituation.
Alles verläuft zu Mariannes Wohlgefallen. Gästezimmer mit verriegelbarer Tür und eigenem Bad, besser können die Voraussetzungen nicht sein.
Nach dem sie ihren Wagen zum Leidwesen der neugierigen Nachbarn, in die Tiefgarage gefahren hat, das Köfferchen aufgeschlagen neben Ihr Bett gelegt hatte, schlawenzelten der Hausherr und die Gästin zum eigentlichen Grund der Begegnung, dem Stadtfest! Ein ausgedehnter Spaziergang an einem warmen Spätsommerwochenende. Was kann es Schöneres geben?