Als sie im Zentrum des herausgeputzten Städtchens ankommen waren, war der Festumzug der Handwerkszünfte schon vorbei. Ein bedauerlicher aber von beiden durchaus zu verkraftender Verlust auf der Erlebnisseite. Stattdessen war ein Bummel von der Vorortsiedlung, in welcher sich Hawes Bleibe befindet, auf einer von alten Kirschbäumen gesäumten Allee hinunter in den sanften Talkessel mitten in die im Krieg unzerstörter gebliebene mittelalterliche Residenzstadt durchgeführt worden. Ein malerischer Anblick durch und durch während des gesamten Weges. Das Wetter hätte für den Besuch des Stadtfestes nicht besser sein können. Milder, sonniger Altweibersommer mit einer sanften Brise Frischluft aus den umliegenden Wäldern.
Auf dem Weg in die Stadt, fragte die mit einer gesunden Neugier ausgestattete Marianne, ihren Begleiter, faustgroße Löcher über die Geschichte des Ortes, berühmte Persönlichkeiten der Stadthistorie, besondere Spezialitäten der örtlichen Nahrungs- und Genussmittelproduktion, über Sehenswürdigkeiten und und und in den Bauch. Eine Fragestunde mit einer Sechsjährigen im Kindermuseum hätte nicht sehr viel anders ausgesehen. Zum Glück konnte Hawe die meisten der doch zum Teil tiefgründigen Fragen erschöpfend beantworten. Es war sehr bequem für Hawe, er konnte seine aus den späten Dienstjahren gewohnte Rolle, die des netten älteren Herren, der zu allem Wichtigen und fast jedem möglichen Unsinn um seine Meinung gefragt wurde, mit Genuss spielen. Damit war er in der Lage, souverän den galanten Vertreter des Bildungsbürgertums zu mimen, der er auch ist. Er hatte ja auch fast immer die korrekte Antwort auf alle Fragen, es ging ja auch um Fakten der Geschichte. Bei Fragen zum Hier und Jetzt, bei Fragen zu seinem gefühlsmäßigem Befinden, hätte nicht so gern Auskunft gegeben. Denn er war, hmm, am besten beschreibt man es mit, verwirrt. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass Marianne jetzt neben ihm her stolzierte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Selbstbewusst aber zurückhaltend, fast bescheiden wirkte ihr Wesen, ihr großes Interesse an Stadt, Landstrich und Leute machte sie nur noch sympathischer, falls das noch ging. Und wenn Hawe gewusst hätte, dass das Interesse an Landstrich und Leute auch besonders ihn einschloss, hätte sein Herz wohl einen Aussetzer gehabt. Aber er wusste es nicht, jedenfalls jetzt noch nicht. Auf dem Markt und den umliegenden Sträßchen war der Teufel los. Die ohne Ausnahme noch intakte Infrastruktur des Ortes mit kleinen und mittelgroßen Läden und Kaffees rings um, bildete den Rahmen und die zusätzlichen Verkaufsstände fliegender Händler, verstärkten den Eindruck, ALLES und JEDES, HIER und JETZT kaufen zu können. Sie boten alles feil, was keiner noch nie nicht vermisst hatte. Marianne hätte sich nicht gewundert einen Stand zu finden, an dem man Sklaven kaufen oder eine Schiffspassage mit Vasco de Gama gebucht werden kann. Leider gab es der Art nicht. Aber die Realität war auch sehr abwechslungsreich. An den zahlreichen Ständen mit kulinarischen Verführungen wurde Marianne bewusst, dass sie eigentlich auch mal schwach werden könnte. Zumindest was das Kulinarische angeht, war sich über diesen Punkt im klaren. Da Hawe in mindestens diesem Punkt auch mit Marianne übereinstimmte, suchten die beiden nun eine Möglichkeit, ihre verabredeten Gelüste zu stillen. Der Möglichkeiten sind zahlreich. Vom Würstelstand, über gegrillte Insekten, Jamswurzel aus der Sahelzone, Indisches Irgendwas mit Knoblauch und Ingwer, Schweine-, Kalb- und Lammhälften, Burger, Veggie und Sushi, „Leipziger“ Allerlei aus dem Fettbad, Backofen, Waffeleisen. Es wurde dann für die Dame Rote Beete und Feldsalat mit Hartkäse und für Hawe beste Hausmannskost vom örtlichen Biofleischer der einen Marktausschank betreibt. Dazu einen halben Liter Primer Cru Apfelwein, Bestlage, Erzeugerabfüllung. Wenn das Zeug, was hier nur regional vermarktet wird, Cidre genannt werden würde, was man guten Gewissens machen könnte, wäre es fünf mal teurer und würde auch in Paris oder Berlin serviert werden. An einem stillen Tisch am Rande des Trubels, nahmen sie nun platz und begannen mit ihrer Stärkung. Gemeinsam essen, könnte mir auch öfter gefallen, dachte Hawe eine Idee zu laut. Für Marianne war es kein sonderlich großer Schock, vielmehr fühlte sie sich in ihren Beobachtungen bestärkt. Nahm sie Ihren Gastgeber doch als Menschen war, der sich wohlfühlt. Er strahlt, glänzt, blüht. Unmöglich, dass so ein Mann, der zuvorkommend, unverhofft gesprächig, unabhängig und nicht unattraktiv ist, kein doofy, nervy oder stino ist, seine Zeit freiwillig mit ihr verbringen möchte, denkt sie. Wenn Marianne wüsste, was Hawe bisher für ein tristes Dasein geführt hatte, sie würde sich wundern, welchen ungewollten Einfluss sie nach so kurzer und loser Bekanntschaft auf ihn hat. Nach dem die Teller ratzekahl leer waren und der gegorene Apfelmost die Kehlen hinlänglich benässt hatte, trudelten sie mit einem leichten drive um die Marktstände. „Tücher aus aller Welt“ war kein Stand von jemanden der T und B verwechselte, vielmehr wurden Baumwolle, Plüsch, Nicki, Hanf, Leinen, … mit und ohne (Elastan), unifarben oder mit Batik, Naturbelassen, Usedoptik, Nadelstreifen, undundund in Rollen,Ballen und Zeltbahnen angeboten. Nebenan gesellten sich Stände mit Knöpfen, Bürsten, Holzschnitzereien, Handgearbeiteten Skulpturlampen, Mundgeblasenen Glasvasen, Fußgedrehter Keramik, Schokoladenmanufakturen, Bonbonfabriken, Eismacher, Klosterbrauereien, Erzeugergenossenschaften. Fachverlage für alles Schöne, selbsternannte Artdirektoren mit zweifelhaften Diplomen und Zertifikaten und andere Überlebenskünstler rundeten das Bild ab. Der vom Fachwerk geprägte Platz mit Vor- und Rücksprüngen an Dächern und Fassaden, Erkern, Gauben, Gassen, Torbögen, Balkonen, Schnitzereien, Sonnenuhren, Fahnen, Giebelwandbildern, Brunnen und nicht zuletzt die grobe originalgetreue Pflasterung trug zur ideellen Verschiebung der Zeitachse um mindestens 400 Jahre bei. Als dann pünktlich zur einsetzenden Dämmerung Gaukler, Hexen und Narren in schönen Kostümen das Heft der Handlung in die Hand nahmen, war es für unsere beiden dann doch zu viel.
Gemeinsam strebten sie sichtlich geschafft den Heimweg entgegen. Am Rande der Altstadt befanden sie sich wieder in der Jetztzeit und Hawe beschloss einem in Auto in Taxifarbe zu winken, auf das sie den Heimweg zeitlich abkürzen können.
Der freundliche Fahrer der Droschke fuhr gemächlich in die Vorortsiedlung. Marianne wunderte sich, dass der Weg zu Fuß in die Stadt eine wunderbare Ewigkeit zu dauern schien und nun zurück in unromantischem von Plastik und Kunstleder dominierten Innenraum der Limousine, in gefühlten fünf Minuten zu erledigen war. Um so besser!
Vor der Nr. 11 angekommen, leerte sich die Rückbank und der Fahrer danke für das Trinkgeld des netten vermeintlich harmonischen Paares.
Auf der Terrasse gab es zum bestaunenswerten städtischem Feuerwerk noch einen GuteNachtTrunk! Dann zog sich Marianne mit dem Dank für diesen einzigartigen Tag und dem augenzwinkernden Verweis auf „artig“ in ihr zugewiesenes Gemach zurück. Halb zwölf, mehr geht jetzt nicht, oder? Die Tür wurde nach dem Toilettchen und kurzer Überlegung nicht verriegelt. Man(n) weiß ja nie!
Hawe saß noch kurz auf der Terrasse und war glücklich wie lange nicht. Als ihm die Kühle der Nacht von seiner Wolke zurück auf die Erde holte, stellte sich (schlag)artig die Müdigkeit ein und er registrierte, dass er nicht mehr zwanzig war. Nicht mehr zwanzig, aber auch noch nicht tot. Nicht übertreiben, alter Junge, sagte er sich. Für den Start, lass ich es gut sein? Teufel links, Engel rechts, Jein!