Sachte fielen letzte, dicke Flocken des nächtlichen Schneefalls zu Boden und vollendeten, das zarte weiße Kleid, welches die moderne Stadt zierte. Zahlreiche Bäume an Straßen und in Parks glitzerten mit neuen Kronen aus Schnee. Das warme Licht von Straßenlaternen spiegelte sich nicht nur im Weiß der Bäume, sondern auch in den Fenstern der Häuser. Die Sonne suchte sich langsam ihren Weg hinter den Gebäuden hervor, noch waren nur die Hochhäuser vom Schein der Sonne berührt, alles andere lag im Schatten. Noch war es ruhig in der Stadt.
Mit der Zeit regte sich mehr und mehr der Trubel. Rollos wurden hochgezogen, Fenster zum Lüften geöffnet und Tee sowie Kaffee frisch gekocht. Hier und dort waren schon einige Bewohner länger auf den Beinen. Manch einer stand schon seit Stunden in der Bäckerei und bereitete in den großen Industrieöfen die letzten Brote vor. Züge wurden verstärkt in den Betrieb genommen und Busse wie Straßenbahnen traten ihre ersten Fahrten an.
Im Schatten der mehr zum Leben erwachenden Stadt huschten zwei kleine und sonderlich aussehende Wesen umher. Auf jeweils vier Pfoten sprangen sie durch dunkle Gassen und an Wänden hinauf. Weiter und weiter trieb es sie nach oben. Mit schnellen und geschickten Wendungen blieben sie von den Menschen unbemerkt. Auf dem Dach von einem der höchsten Häuser angekommen, spähten zwei aus dem Schatten der umliegenden Häuser hervorlugenden Nasen vorsichtig nach unten.
Sie schienen das Treiben zu mustern und nach einer kurzen Verständigung mit Geschnurre und klickähnlichen Geräuschen, huschten sie auseinander und schlugen jeweils einen eigenen Weg ein. Während die Wesen erneut durch die Gassen jagten, schlug weit in der Ferne laut eine Kirchenturmuhr und verkündete den Anbeginn der achten Stunde des Tages.
Unter dem mahnenden und schrillen Geheule des Metallweckers suchte Scarlett verzweifelt nach der Socke, welche zu jener an ihrem rechten Fuße passen sollte. Socken flogen durchs Zimmer und verbreiteten Chaos, während Scarlett in einer Schublade ihrer kleinen Kommode wühlte. Doch keine Chance, die Socke tauchte nicht auf und der Wecker, der schrillte unbeeindruckt weiter.
Mit einem angenervten Schnauben griff die schwarzhaarige, junge Dame nach einer weißen Socke, welche der an ihrem rechten Fuß zumindest weitestgehend ähnelte. Danach stapfte Scarlett durchs Zimmer zum Nachttisch unterm Fenster und spendierte dem Wecker einen kostenlosen Flug gegen die Wand, wo er nach einem letzten, eher kläglich klingenden Geräusch endlich verstummte.
Erleichtert über das Ende vom nervigen Geheule des Weckers, zog Scarlett schnell die Socke an und griff nach ihrer Umhängetasche aus dunklem, gut gepflegten Leder. Mit nur wenigen Schritten war Scarlett aus der Wohnung raus, schloss nur noch ab und jagte dann die Treppen des Mehrstockhauses hinunter. Die junge Studentin musste sich sputen, wollte sie nicht die Straßenbahn verpassen und damit alle anderen, auf die sie umsteigen musste.
Unten angekommen drückte Scarlett die schwere Glastür auf und zog tief die kalte Morgenluft ein. Es gab nichts erfrischenderes, als die morgendliche Luft nach einem Schneefall. Trotz des Stresses schritt die junge Dame mit einem zufriedenen Lächeln durch die kleine Menschentraube und machte sich auf den Weg zur Straßenbahn. Wagte aber zuvor einen kleinen Abstecher beim Café um die Ecke.
Mit einem heißen Kaffee in der Hand stand Scarlett schließlich auf dem Bahnsteig und wartete, denn sie hatte Glück, die Straßenbahn verspätete sich um nur wenige Minuten. Während die junge Frau da stand, an ihrem Getränk vorsichtig nippend, bemerkte sie erst, wie viele Pärchen doch breit grinsend am Bahnsteig gegenüber standen. Dann fiel der Schwarzhaarigen in edlem erscheinenden Mantel aus rubinrotem Stoff und schwarzem Plüsch auf, dass auffallend viele Leute mit Blumensträußen unterwegs waren und hatte der Barista beim Café ihr nicht einen fröhlichen Valentinstag gewünscht?
Als die Straßenbahn einfuhr, fiel es Scarlett, wie Schuppen von den Augen. Es war der 14. Februar, Valentinstag! Ein Tag, bei dessen Namen sie meist angesäuert die Augen zusammenkniff und mit erhobener Nase den Kopf abwandte. Valentinstag erinnerte die junge Frau immer zu an die fehlgeschlagenen Beziehungen in ihrem Leben. Zugegeben, zwei Beziehungen waren für andere Leute mit siebenundzwanzig Jahren nicht viel, aber für Scarlett entschieden zu viel.
Mit fast finsterer Miene stellte sie sich mit verführerisch rotem Lippenstift möglichst nach hinten in die Straßenbahn und versuchte angestrengt, nach draußen zu blicken, um den Anblick der noch glücklichen Paar in der Bahn auszuweichen. Aber die Tatsache, dass Valentinstag war, brachte schon unangenehme Erinnerungen hervor.
Zuerst die von David, ihre erste Liebe und Beziehung aus der Grundschule, wenn man es überhaupt eine Beziehung nennen konnte. Scarlett kam aus gutem Hause, ihre Familie hatte viel Anstand und vor allem Geld, sowie Einfluss. Ihre Eltern hatten vieles, aber dafür überraschend wenig Zeit für ihre einzige Tochter. So kam es, dass Scarlett oft mit den Kindern anderer recht einflussreicher Familien spielte, darunter war David. Durch den Kontakt der Eltern und später der gemeinsamen Zeit in der Grundschule wurden beide erst gute Freunde. Aber immer öfter sagten die Erwachsenen Sprüche wie:
»Oh seht nur! Der kleine David und die süße Scarlett, welch ein niedliches Paar sie doch sind.« »Ob sie später vielleicht eines Tages heiraten werden?« »David ist wie ein kleiner Frauenheld und Scarlett wird eines Tages mit Sicherheit eine wunderschöne, junge Frau sein, der alle Männer zu Füßen liegen werden!«
Da schien es beiden Kindern nur logisch, sich auch wie ein Paar zu verhalten. Mit der Zeit hatte Scarlett auch David lieb gewonnen und spürte in seiner Nähe Schmetterlinge im Bauch. Doch nach einem halben Jahr zerbrach die schöne Zeit, David hatte sich in ein anderes Mädchen verliebt und Scarlett war mit einem Mal abgeschrieben. Die restliche Zeit der Grundschule war für das junge Mädchen die Hölle, sie war einsam, denn aufgrund ihrer Familie wurde sie von vielen Mitschülern mit Abstand behandelt. Außerdem hatte sich Scarletts Liebe zu David in Hass verwandelt, er hatte ihr noch kleines, unschuldiges Herz einfach gebrochen. Dabei hatten die Erwachsenen doch gesagt, dass ihr eines Tages die Männer zu Füße liegen würden, wieso also tat David es nicht?
Scarlett zuckte kurz zusammen, als die Durchsage der Straßenbahn sie aus ihren Gedanken riss. Verwirrt schaute sie sich schnell um und huschte dann noch gerade rechtzeitig aus der Bahn, kurz bevor sich die Türen schlossen. Zurück in der kalten Luft wurden Scarletts Gedanken wieder klarer und mit einem energischen Schnauben leerte sie ihr Getränk in einem Zuge. Wie lächerlich, sich wegen einem Tag so sehr mit alten Zeiten zu beschäftigen. Mit einem Blick nach hinten entdeckte die junge Frau einen Mülleimer und schmiss in jenen kurzerhand den leeren Pappbecher, welchen sie zuvor ordentlich und mit Kraft in einer Hand zerknüllte.
Sich vorne an den Bahnsteig stellend, versuchte Scarlett, die Zeit damit zu verbringen die Landschaft mustern. Es war schon weniger städtisch. Alles wirkte auch ein gutes Stück älter und irgendwie trostlos, trotz, dass sich die Sonne langsam ihren Weg am Horizont lang suchte. Bisher kamen die Sonnenstrahlen nicht bei den Menschen unter am Boden an, aber wenn man den Kopf in den Nacken legte und Gebäude in der Ferne musterte, konnte man doch den goldenen Schein erkennen.
Ein junges Paar zog Scarletts Aufmerksamkeit auf sich. Ein Junge und ein Mädchen, beide im punkigen Stil gekleidet, standen Händchen haltend und nah beieinander, sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter abgeleckt und er stand aufmerksam da, als wollte er auch schauen, dass niemand ihre Zweisamkeit stören würde.
Ein kurzes, bitteres Lächeln huschte über Scarletts Lippen und sie vergrub ihr Gesicht ein Stück tiefer im Mantel. Das Pärchen weckte Erinnerungen an die zweite Beziehung der jungen Frau. Während sie still schweigend, mit leicht gesenktem Kopf da stand und auf die nächste Straßenbahn wartete, verlor sich Scarlett erneut in alten Erinnerungen, dieses Mal in jene an einen Jungen namens Liam.
Es war in der Mittelstufe gewesen. Liam war als neuer Mitschüler in die Klasse gekommen und wurde sofort zu einem der beliebtesten Jungen aus der Stufe. Er sah sehr gut aus, war sportlich, spontan und schrieb vergleichsweise gute Noten, er liebte Punkrock und änderte seinen Stil immer mehr passend zur Musik. Er war ein herausfordernder Rebel, ganz zum Leidwesen der Lehrer und war dennoch ein leicht verschlossener Typ. Allgemein ein interessanter Charakter, auf den schnell unzählige Mädchen standen. Liam selber schien seine Beliebtheit unter den Mädchen recht egal, aber die Gleichgültigkeit, mit der Scarlett ihn behandelte, machte ihn neugierig.
So entstand bald eine hitzige und temperamentvolle Dynamik zwischen den beiden. Scarlett, die Vorzeigeschülerin aus gutem Hause und mit dem besten Benehmen und Liam, der wilde Mädchenschwarm, der gerne sein Ding durchzog und nur wenig von sich selber preisgab. Noch während die beiden in eine Art Rivalität verfielen, wurde ihren Mitschülern schnell klar, dass Liam und Scarlett eine gewisse Chemie verband.
Während dieser Rivalität war Scarlett voller Freude und nutzte den Antrieb ihres Ehrgeizes und genauso erging es Liam, der mit einem Mal ebenfalls zum Vorzeigeschüler zu werden schien. Als der Abschlussball der Neuner anstand, war es bei einem innigen Tanz auf der Mitte der Tanzfläche, dass aus der Rivalität eine junge Liebe entstand. Und beide genossen jene in vollen Zügen. Während Liam in Scarletts Leben eine wildere Welt brachte, so gab Scarlett ihm Sicherheit. Beide dachten, ihre Zeit würde nie enden, doch nach einem Jahr, war ihr Glück zu Ende.
Denn mit einem Mal hatten Scarletts Eltern doch für sie Zeit, aber auch nur, wenn es um den wilden Jungen aus den schlechten Verhältnissen ging, der eindeutig ein schlechter Einfluss für ihre glückliche Tochter war. Es brauchte nicht viel für die reiche Familie, um dafür zu sorgen, dass Liam wegen eines angeblichen Drogenhandels von der Schule flog und nie wieder auftauchte, wenn auch gegen seinen Willen. Und Scarlett? Sie blieb mit einem gebrochenen Herzen und noch größerem Hass auf ihre Eltern alleine zurück.
Ein kräftiger Windzug und das laute, schrille Geräusch von Eisen auf Schienen ließ die junge Frau umherwirbeln und erschrocken zurückspringen. Knapp vor ihr rauschte die Straßenbahn vorbei und kam schließlich zum Stehen. Kurz stand Scarlett wie versteinert da, sie war etwas zu nah an der Bahn gewesen, der Sog hatte ordentlich an ihr gezogen und wäre sie nicht schnell nach hinten gesprungen, hätte das ganze schiefgehen können.
Die Türen öffneten sich und ein paar Leute stiegen aus. Scarlett wartete und nutze die Zeit, um einmal tief durchzuatmen. Schließlich trat sie in die Straßenbahn und suchte sich wieder ganz hinten einen Platz, dabei hatte sie nicht bemerkt, wie sich ein kleines Wesen auf vier Pfoten zwischen ihre Beine hindurch gehuscht und mit in die Bahn gestiegen war.
Die Straßenbahn war sehr leer, keiner war mit Scarlett im hintersten Abteil und mit einem Seufzen ließ sich die schwarzhaarige Frau auf einem Platz in der Ecke am Fenster fallen. Der Tag fing wirklich prima an, wenigstens hatte sie das Gerangel mit den Erinnerungen jetzt schon hinter sich, vielleicht blieb ihr mehr Gefühlschaos dann für den Rest des Tages erspart.
Kurz betrachtete sie ihre Spiegelung im Fenster, dann strich sie über ihr glattes, gepflegtes Haar und wischte sich verwundert etwas Nasses aus dem rechten Augenwinkel. Scarlett schluckte schwer. Ihre Kehle war trocken, auf ihrem Finger glitzerte eine kleine Träne und schnell schaute sie aus dem Fenster, während sie das lästige Salzwasser an ihrer schwarzen Hose vom Finger abwischte.
Scarlett versuchte sich gerade auf die Landschaft zu konzentrieren, als ein Geräusch von Krallen auf Stoff sie aufhorchen ließ. Verwirrt blickte sie nach vorne, zum Sitz vor ihr und zog scharf die Luft ein. Zwei kleine, dunkel-türkise Hörner lugten über den Rand der Lehne hervor. Fassungslos starrte Scarlett auf das Wesen, welches sich langsam am Stoff hochzog und sie mit großen Augen anschaute.
Das seltsame Wesen erinnerte vom Körperbau her an ein Wiesel, es hatte haselnussbraunes Fell mit einem weißen Bauch und dunklen Tatzen. Die Tatzen aber bestanden nicht nur aus Fell, sondern schienen mit Schuppen gepanzert, welche als kleine, scharfe Krallen endeten und den gleichen Farbton, wie die Hörner hatten.
Das Wesen hatte große, dunkle Augen, die vertrauensvoll und doch ängstlich wirkten, seine Schnauze war ebenfalls mit ein paar dunklen Schuppen gepanzert und das Näschen zuckte neugierig, während das wieselähnliche Wesen Scarlett musterte.
Scarlett hingegen konnte nicht mehr tun, als unentwegt zu starren. Das komische Etwas vor ihr könnte aus einem Fantasyroman entsprungen sein, aber so was tun fiktive Figuren nicht, also wieso gab es das Wesen und wieso, um alles in der Welt, war es nun hier vor Scarlett selber?
Ängstlich versuchte Scarlett, zurückzuweichen, als das Wesen sich ordentlich auf die Sitzlehne vor ihr setzte, sich ihr etwas entgegen beugte und interessiert schnupperte. Mit einem Satz sprang es plötzlich auf Scarletts Schoß. Kreischend vor Schreck fuhr sie ein Stück aus dem Sitz, aber nicht weit, denn das kleine Wesen klammerte sich sofort jaulend fest und Scarlett hielt überrascht inne.
Das kleine Wieselwesen schien mehr Angst zu haben als sie selber. Vorsichtig glitt Scarlett zurück in den Sitz und das Wesen beobachtete sie dabei, ohne sich zu rühren.Während die Straßenbahn gleichmäßig vor sich hin ratterte, schauten sich beide Passagiere unsicher an. Schließlich schien das Wesen sich zu entspannen und rollte sich auf Scarletts Schoß zusammen. Die junge Frau musterte mit einem leichten Lächeln das niedliche Fellknäuel. Tiere hatten sie bisher eher gemieden und das, wo Scarlett als kleines Kind eine große Freundin der Tiere gewesen war.
Nach kurzem Zögern, strich Scarlett mit einer Hand vorsichtig über das Fell des Wesens, welches zuerst zusammenzuckte, aber dann wohlig zu schnurren anfing. So verstrich die Fahrt bis zum nächsten Bahnsteig und Scarlett, sowie Tokin, wie sie das Wesen im Stillen taufte, genossen die Ruhe und Nähe, welche das Gefühl der Einsamkeit verscheuchten.
Als die Straßenbahn hielt, waren die Sonnenstrahlen dem Erdboden sehr nahe, erreichten aber noch nicht ganz Scarletts Kopf. Die junge Frau stand auf, doch zuvor huschte Tokin von ihrem Schoß und huschte zwischen den Beinen einsteigender Fahrgäste hinaus. Sofort folgte sie ihrem neuen Freund. Draußen auf dem Bahnsteig schaute sich Scarlett mit zusammengekniffenen Augen um. Wo war der Kleine denn hin?
Ein auffallendes Klickgeräusch, ähnlich wie das eines Delfins, ließ Scarlett nach unten schauen und da war er. Tokin hockte wenige Meter vor ihr unter einer Bank versteckt, als sich Scarletts und seine Blicke trafen, huschte er direkt weiter und sofort eilte die junge Frau dem Wesen hinterher. Sie hatte das Gefühl, dass Tokin ihr vielleicht etwas zeigen wollte. Immer wieder hielt er kurz an, wartete, bis sie Blickkontakt hatten und huschte dann schnell und von anderen unbemerkt weiter.
Ihr eigentliches Ziel, ihre Arbeit, welche sie neben der Uni verfolgte, vergessend, war Scarlett sogar überrascht, als sie sich in einer Straßenbahn wiederfand, die in die vollkommen andere Richtung fuhr, als in die sie eigentlich musste.
Ihre Zweifel, einem komischen Wieselwesen, für dessen Existenz es keine Erklärung gibt, einfach so zu folgen, würden eben von jenem Aspekt verscheucht. Scarlett hatte Fantasy geliebt, aber ihre Eltern hatten es ihr verboten. Scarlett hatte als kleines Kind Tiere geliebt und zur Zeit der Grundschule sich oft einen Hamster gewünscht. In der Mittelstufe hatte sie endlich gelernt, wie befreiend es sein kann, aus dem Alltag auszubrechen und mal nicht das zu tun, was von ihr erwartet wurde. Nun folgte sie einem seltsamen Wesen, dass sie irgendwohin zu führen schien. Was würde sie wohl dieses Mal lernen?
Was der jungen Frau mit dem schwarzen Haar und roten Lippen zuerst auffiel, war, wie sich das Gefühl von Glück und Freude in ihr breit machte. Wie lange hatte sie sich schon ein Abenteuer gewünscht und gehofft, eine nette Freundschaft zu schließen? Zu lange, auch, wenn man sich natürlich drüber streiten könnte, inwiefern ein unbekanntes Wesen, dass sie spontan Tokin taufte, eine gute Freundschaft war.
Ein Klickgeräusch riss Scarlett aus ihren Gedanken und wie auf Kommando stieg sie aus der Bahn, welche gerade angehalten hatte. Kaum war sie auf dem Bahnsteig, folgte sie Tokin, welcher zielbewusst vorauslief.
Und so ging das Spiel für zwei weitere Straßenbahnen weiter. Tokin lief vor, Scarlett hinterher in irgendeine Straßenbahn, wenn jene wieder anhielt und Tokin klickte oder schnurrte, stieg Scarlett aus und Tokin lief wieder voraus zu nächsten Bahn.
In der letzten Straßenbahn, es war eine recht kleine, war dieses Mal kein einziger Passagier, zuvor war es in jeder Bahn voll gewesen, nur jetzt war es mit einem Mal still und ruhig. Scarlett nutzte die Chance, um sich kurz zu setzen und auszuruhen. Tokin sprang auf die Lehne vor der jungen Frau und ließ sich schnurrend ein paar Streicheleinheiten am Kopf gefallen, was Scarlett ein glückliches Lächeln auf die sonst so ernsten und verschlossenen Lippen zauberte. Mittlerweile war Scarlett von schönster Landschaft umgeben, überwiegend offene Wiesen und Felder, auf denen die nun vollkommen aufgegangene Sonne ihren warmen Schein warf.
Mit einem Mal klickte Tokin wieder und Scarlett stand auf. Dieses Mal lief das kleine Wesen nicht zur Tür, sondern kletterte an der Frau hoch und machte es sich auf ihrer Schulter bequem. Grinsend wartete die junge Dame, bis sich die Türen leise zischend öffneten und stieg aus, um sich überrascht an einem Bahnsteig zu einer kleinen Stadt wiederzufinden.
Neugierig schaute sich Scarlett um. Hinter ihr waren die Wiesen und Felder, vor ihr war eine Treppe, die vom Bahnsteig runterführte. Von der Erhöhung aus, konnte man schon eine kurze und dichte Baumallee erkennen, welche wohl zum innersten der Stadt führte und in der Ferne waren schon moderne Häuser zu erkennen, die einladend im Sonnenschein glitzerten.
Unentschlossen blieb Scarlett auf dem Bahnsteig, sie wusste nicht, ob sie wirklich der Baumallee folgen und zur Stadt gehen, oder lieber nach der nächsten Verbindung zur Arbeit suchen sollte, damit sie letzten Endes doch noch dort ankam. Aber Tokin nahm ihr die Entscheidung ab, indem er auffordernd klickte, was die junge Frau aus ihren Gedanken riss.
Wie auf Kommando ging sie los. Tokin hatte es wohl geschafft, sie auf das Klicken zu trainieren und während Scarlett mit einem ergebenen Seufzer sich zur Treppe begab, schnurrte das Wesen auf ihrer Schulter zufrieden.
Die Baumkronen, der schmalen Allee, waren geschmückt mit einigen kleinen Knospen, aus denen sich schon vereinzelt hellgrüne Blättchen ihren Weg zum Sonnenlicht suchten. Zwischen den starken Ästen fiel der warme Schein der Sonne hindurch und ließ den dunklen Weg aus Pflastersteinen an manchen Stellen hell aufleuchten. Eine erste warme Brise fuhr über das Land und ließ das frische Gras am Rand der Allee, sowie die Baumkronen leise rascheln und knarzen. Scarlett genoss das Gefühl vom Wind in ihrem langen Haar. Für einen Moment blieb sie sogar stehen, verharrte, um das Gefühl der Freiheit und Sorglosigkeit in ihren Erinnerungen und im Herzen aufzunehmen.
Langsam ging Scarlett schließlich weiter, mit dem Kopf leicht im Nacken, den Blick dem Himmel entgegen und grübelte, wie es sein konnte, dass hier schon der Frühling seinen frühen Anfang bekommen hatte.
Die junge Frau wurde erneut, wie schon oft am Tag, aus ihren Gedanken gerissen, aber dieses Mal nicht auf unangenehme Weise, sondern durch das Geräusch von sich schnell näherten Schritten. Tokin gurrte fröhlich und hob den Kopf. Kurz verwirrt, aber auf ihren neuen Freund vertrauend, blickt Scarlett nach vorne, die Allee entlang.
Zunächst tauchte ein seltsames Wesen auf, es schien auf vier Pfoten zu laufen, ähnelte einem Wiesel und hatte goldenes Fell. Scarlett traute ihren Augen kaum. Das kleine Wesen sah genau wie Tokin aus! Nur hatte es kein braunes und dunkles Fell, sondern überwiegend güldenes, mit Weiß an Bauch, Tatzen und Nase. Mit schnellen und flinken Sprüngen war das andere Wieselwesen nur wenige Meter von der jungen Frau entfernt, als Tokin ihr plötzlich von der Schulter sprang und loslief. Überrascht wollte Scarlett ihrem kleinen Freund hinterherrufen und preschte sofort los, aus Angst, ihn noch aus den Augen zu verlieren.
Doch sie kam nicht weit. Von der Verwunderung über das andere Wesen abgelenkt, hatte Scarlett den groß gewachsenen Mann übersehen, der mit einem sportlichen Sprint den kleinen Vierbeiner eingeholt hatte. Zwar bemerkte der Mann die junge Frau noch, aber da war es schon zu spät und mit Wucht stießen Scarlett und der Unbekannte ineinander. Unsanft prallten beide aneinander ab, den Mann riss es vor Schreck mit einem Satz nach hinten, letztlich zu Boden. Scarlett strauchelte zunächst, fing sich aber und fand schnell wieder ihre Balance.
Sofort, als sie sich gefangen hatte, trat die schwarzhaarige Frau zum Unbekannten und reichte ihm die Hand. »Verzeihen Sie bitte, es war nicht meine Absicht, Ihnen weh zu tun. Leider hatte ich mich von Tokin ablenken lassen und da war ihre Ankunft mir vollkommen entgangen.«
Als Antwort lachte der Mann kurz. »Du redest ja witzig«, meinte er und schaute auf. Das erst sanft erscheinende mit Lachfalten gezierte Gesicht des jungen Mannes, wurde schlagartig blass und seine Miene wirkte wie versteinert. Scarletts Augen weiteten sich, ihre Beine fühlten sich mit einem Mal weich, wie Pudding an und mit einem dumpfen Geräusch fiel sie auf die Knie. Unentwegt starrte sie den jungen Mann an.
»Liam?«, brachte sie schließlich mit zittriger Stimme hervor, während sich ihre Augen langsam mit Tränen füllten. Und da waren sie wieder, die alten Erinnerungen. Die erfüllende Rivalität, die befreiende Liebe und dann der unbeschreibliche Schmerz von ihrem einst gebrochenem Herzen. Wobei, war es jemals verheilt?
»Scarlett … ?«, hauchte der junge Mann ungläubig und streckte vorsichtig eine Hand nach dem Gesicht der hübschen Frau aus. Ab da konnte Scarlett nicht mehr an sich halten. Den Tränen freien Lauf lassend nickte sie, ergriff die Hand ihres einst Geliebten und beide zogen sich in eine lange Umarmung, während beiden Tränen über die Wangen liefen.
Scarlett hätte niemals zugeben, dass sie Liam immer vermisst hatte, sie mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Freundes nie abgeschlossen hatte und alles dafür getan hätte, ihn wiederzusehen. Nie hätte sie es zugeben, bis heute, bis zu diesem Valentinstag, wo sie sich endlich wieder in der Umarmung Liams sicher und geborgen fühlen konnte.
Ein hohes Schnurren ließ beide Menschen aufschauen. »Fiona?«, fragte Liam. »Tokin?«, fragte Scarlett. Doch anstelle einer Antwort, wuselten beide Wesen zu ihrem jeweiligen Menschen. Tokin kletterte auf Scarletts Schulter und umschmuste sie laut schnurrend, Fiona tat das Gleiche bei Liam. Der jungen Frau fiel ein trauriger Ausdruck in den zuvor so vertrauensvollen Augen ihres neuen Freundes auf.
»Tokin?« Das braune wieselähnliche Wesen gurrte zur Antwort und schaute Scarlett geradewegs in die Augen, dann beugte es sich vor und stupste mit seiner kleinen Nase, die von Scarlett an.
Im nächsten Moment sprang Tokin von Scarletts Schulter und jagte in Richtung eines Waldes davon – nur kurz hielt er inne, um sich nach dem goldenen Wesen namens Fiona umzudrehen. Fiona verabschiedete sich bei Liam, indem sie ihre Stirn an seine drückte und leise gurrte, dann jagte auch sie davon und die beiden Wesen verschwanden mit großen Sprüngen aus dem Sichtfeld von Liam und Scarlett, welche auf der Allee zurückblieben.
Während Fiona und Tokin durch Büsche und Geäst huschten, auf dem Weg zu den nächsten Menschen, die ihre Hilfe gebrauchen könnten, standen Liam und Scarlett endlich auf und Hand in Hand gingen sie den Weg unter den Bäumen, sowie dem strahlend blauen Himmel lang, auf zur kleinen Stadt abseits vom Großstadttrubel, um in einem Café alles nachzuholen, was sie die vergangenen Jahre vom jeweils anderen verpasst hatten.
~ Ende ~