Celine betrat die Studentenparty auf der alten Burgruine, die etwas ausserhalb der Stadt lag. Dicht verborgen im Wald, zerbröckelt und uralt, bot sie den perfekten Ort für eine gruseliges Halloweenfest.
Seufzend begrüsste sie den Begrüsser, der bereitstand, um allen schon einmal ein Bier in die Hand zu drücken, sobald man das Gelände betrat.
Sie war schon öfter hier draussen gewesen und kannte das Bild der heruntergekommenen Mauern in und auswendig. Die anderen Studenten hatten sich bereits verteilt, tanzten zwischen den halb zerfallenen Steinen und unterhielten sich. Zum Glück war es eine recht warme Oktobernacht, ansonsten würden sich hier alle schlotternd aneinanderdrängen.
Suchend sah Celine sich nach ihrer besten Freundin Emilia um, die sie erst dazu gebracht hatte, herzukommen. Viel lieber hätte sie es sich einfach mit »Der grosse Gatsby« in ihrem Zimmer verkrochen und sich in der Welt versinken lassen, die F. Scott Fitzgerald für sie geschaffen hatte.
Aber wenn Emilia sie mit ihren grossen blauen Augen anschaute, ein schelmisches Grinsen auf den Lippen, dann konnte sie ihr einfach nicht widerstehen.
Celine liess weiter den Blick schweifen, bis sie ihre beste Freundin endlich weiter hinten, am Rande der Party, entdeckte. Celine bewegte sich durch die Menge, vorbei an den schwitzenden Körper der anderen Studenten, die als lauter Monster verkleidet waren.
»Schau nicht so mürrisch«, tadelte Emilia sie grinsend als sie bei ihr ankam. »Das ist eine Party. Keine Suizid-Selbsthilfegruppe.«
»Halt die Klappe«, knurrte Celine zurück. Sie hatten sich gegenseitig geschminkt und sich beim Anziehen der Kostüme geholfen. Eigentlich hatte Celine zuerst unverkleidet gehen wollen, aber Emilia konnte das natürlich nicht zulassen. »Wenn du das schon tust, dann tu‘ es gefälligst richtig«, hatte sie mit den Händen in die Hüften gestemmt,(?) gemeint.
Emilia stand in ihrer ganzen blonden Pracht als böse Eiskönigin vor ihr und musterte sie streng von oben bis unten.
»Ich brauch jetzt einen Drink, wenn du willst, dass ich diesen Abend überlebe«, meinte Celine zu ihrer besten Freundin. »Und nein ich meine nicht dieses Pfützen Bier, das ich hier in der Hand halte«, fügte sie hinzu als sie deren Blick bemerkte.
Zu zwei machten sie sich auf den Weg zur Bar, in Anführungs-und Schlusszeichen, die sich bei dem ehemaligen Turm, der Burg befand.
Musik dröhnte aus den Lautsprechern, welche mit einem Generator verbunden war und schoss ihr durch den Körper, so dass sie die Vibration des Beats bis tief in ihre Knochen spürte.
Zu ihrer linken war eine Art Bartresen aufgestellt worden. Zusammen mit Emilia ging sie auf den Barkeeper, zu und bestellte zwei Bourbons.
»Eine Frau mit Geschmack«, vernahm sie auf einmal eine Stimme zu ihrer Rechten. Die Stimme klang leicht heiser und war so tief, dass es ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Langsam drehte sie den Kopf zu dem Mann um.
Sein Blick war so intensiv, dass es ihr den Atem verschlug, aber es war vor allem die Farbe der Augen, die dieses merkwürdige Gefühl in ihr auslösten.
Die Iris leuchtete wie Gold.
Sein Blick fesselte sie. Ihre Beine schienen aus Zement zu sein, so schwer fühlten sie sich an. Ihre Zunge fühlte sich trocken an und sie musste sich räuspern, bevor sie ihm antwortete. Irgendetwas an diesen Augen kam ihr bekannt vor, aber sie konnte diese nicht einordnen.
»Ich trinke nur Bourbon«, antwortete Celine eine gefühlte Ewigkeit später. Der junge Mann neben ihr bestellte sich einen Whiskey on the Rocks. Zu dritt stiessen sie an, wobei Emilia ihr einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zuwarf, der wohl so viel heissen sollte wie »Ran an den Mann«.
»Ich bin übrigens Nate«, stellte der Kerl sich vor und streckte ihr die Hand entgegen. Etwas überrascht ergriff sie diese und erwiderte: »Ich bin Celine.«
In seinen Augen blitzte etwas auf, als sie ihm ihren Namen sagte. Aber es verschwand so schnell wieder, dass sie dachte, sie hätte es sich bloss eingebildet.
»Freut mich dich kennenzulernen, Celine.« Er lächelte sie an und zeigte dabei eine Reihe perfekter weiss strahlender Zähne. Wobei ihr auffiel, dass sein Händedruck aussergewöhnlich kräftig war. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Knochen kurz davor waren zu brechen.
Emilia hob kurz die Hand, als sie sich wieder in die Menge stürzte. Sie war ein richtiges Partygirl, das jede Art von Risiko liebte und sich in jedes Abenteuer stürzte.
»Gehst du auch in Basel zur Universität? Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal da gesehen habe.« Celine war eine absolute Niete was Small Talk anging, aber da ihre beste Freundin sie im Stich gelassen hatte, um sich in die tanzende Menge zu stürzen, war sie auf sich alleine gestellt.
»Nee, ich war lange auf Reisen und habe jetzt daran gedacht sesshaft zu werden«, antwortete Nate mit einem merkwürdigen Unterton.
»Wo bist du so umhergereist?« Sie war ein paar Mal mit ihren Eltern in den Ferien gewesen, aber nie weit weg.
»Ein bisschen quer durch Europa«, erwiderte achselzuckend. Sofort wurde sie neidisch auf ihn. Sie war erst einmal ausserhalb der Schweiz gewesen und das war zum 30. Hochzeitstag ihrer Eltern, als sie nach Paris geflogen waren.
»Und wieso hast du dich entschieden hierherzukommen? Hier gibt es nichts. Und du hast schon die ganze Welt gesehen. Was also suchst du an einem Ort wie Reinach?«
Nate fuhr sich durch die dunklen Haare, während Celine darauf wartete, dass er antwortete. »Ich bin hier in der Nähe aufgewachsen.«
Überrascht sah sie ihn an. »Woher kommst du? Basel?«
»Jup«, antwortete er etwas abwesend.
»Ich hab‘ auch mal dort gewohnt, aber da war ich noch recht klein.« Bis sie drei Jahre alt wurde, hatten sie in der Grossstadt gelebt, aber dann war das mit Jonathan passiert und ihre Eltern wollten weg aus der Basel, weiter raus aufs Land.
Sie selbst hatte keine Erinnerungen an Jonathan. Er war Papas Sohn aus einem One-Night-Stand, wobei Jonathans Mutter ihn einfach vor Papas Türe abgestellt hatte. Da hatte er bereits mit Mama zusammengelebt. Sie haben ihn grossgezogen und Mama hat ihn behandelt, als ob er ihr richtiger Sohn war.
»Willst du tanzen?«, riss Nate sie aus ihren Gedanken. Sie hob den Blick, der bisher auf den verschiedenen Flaschen gelegen hatte, die wackelig auf einer halb zerstörten Mauer aufgereiht worden waren, nach oben, um in diese faszinierenden goldenen Augen zu schauen. Er hatte den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen.
»Klar«, brachte sie stotternd hervor und ergriff seine ausgestreckte Hand. Während er sie auf die Tanzfläche führte, wo nun alle paarweise zu dem langsamen Lied tanzten, liess sie den Blick über die Menge schweifen, auf der Suche nach Emilia.
Mit Schwung zog Nate sie an seine Brust. Er legte ihr die Hände auf die Taille, woraufhin sie die Arme um seinen Nacken schlang. Sie schaukelten leicht zur Musik hin und her, wobei er kein einziges Mal den Blick von ihr nahm.
Sie genoss es mit ihm zu tanzen, es gab ihr das Gefühl beschützt zu werden. Sie fühlte sich geborgen, durch seine Arme, die er um sie gelegt hatte.
Das strahlende Lächeln mit den Vampirzähnen und den Grübchen war atemberaubend.
Die dunklen Haare, die sich leicht um seine Ohren lockten passten perfekt zu dem dunkelroten Umhang, den er sich um die Schultern gelegt hatte.
Und seine goldenen Augen zogen sie einfach in seinen Bann.
»Dein Kostüm gefällt mir«, flüsterte er ihr ins Ohr, was dafür sorgte, dass sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten.
»Danke, deins ist aber auch echt cool.« Kaum hatte sie das gesagt, huschte so etwas wie ein ironisches Lächeln über sein Gesicht, aber das verschwand schnell wieder.
Als das Lied zu Ende war, sagte sie, dass sie sich mal auf die Suche nach Emilia machen würde. »Vielleicht sehen wir uns ja später noch einmal«, meinte Nate mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Verwirrt über diesen gutaussehenden und charmanten Typen machte sich Celine auf die Suche nach ihrer besten Freundin. Sie irrte durch die Menschenmenge, bis sie ihre beste Freundin schliesslich etwas entfernt an einen Stein gelehnt, fand.
Emilia sah schon recht betrunken aus und schien mit sich selbst zu reden.
»Hey, alles klar bei dir?«, fragte Celine ihre beste Freundin. Sie murmelte etwas unverständliches, bevor sie den Blick hob. Ihre ganze Schminke war verschmiert, die Augen schwammen in Tränen.
»Ich weiss nicht, irgendwie habe ich einfach Angst, dass ich durch die Prüfungen falle«, murmelte sie. Dann verzog sie die Lippen zu Lächeln, das die Dunkelhaarige aber nicht täuschen konnte. »Aber egal. Viel wichtiger: Wie ist es mit Nate gelaufen?«
»Er ist echt charmant, gutaussehend und ich mag ihn auch, aber du weißt ja, dass ich nicht so der Beziehungstyp bin, also...«, antwortete sie schulterzuckend.
»Stimmt, Celine, die einsame Wölfin.« Emilia schüttelte grinsend den Kopf.
Mittlerweile war es stockdunkel, nur leicht konnte sie die Bäume um sich herum erahnen. Der Wald war für sie schon immer ein Zufluchtsort gewesen. Die Stille, die dort herrschte, half ihr die Gedanken zu ordnen.
Auf einmal erklang ein fürchterlicher Schrei. Es war ein panikerfüllter Laut, der einem durch Mark und Bein ging. Sofort waren die beiden Frauen auf den Beinen und rannten zum Ostteil der Party, wo sich bereits eine Menschentraube gebildet hatte.
Celine drängelte sich nach vorne, um zu sehen was dort am Boden war.
Ihr Mageninhalt rumorte gefährlich, als sie sah was es war.
Eine Studentin lag dort auf dem verstaubten Boden, ihr Blick starrte leer an die Decke. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass sie sie sogar kannte. Es war Alice, die ebenfalls Medizin studierte.
Sie war tot.
Aber das war nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste war, dass sie über und über mit Blut beschmiert war. Am Hals hatte sie eine riesige Bisswunde, direkt bei der Halsschlagader.
Ihre Kleider waren zerrissen, ihre Haare klebten von ihrem Blut aneinander.
Was für ein Tier hatte das getan?
So viel Celine wusste, gab es hier in diesem kleinen Wald keine Tiere, die so etwas hätten tun können.
Ein weiterer Schrei ertönte, der sie aus ihren Gedanken riss. Eine andere junge Frau, Li, die beste Freundin von Alice, sank vor der Toten auf die Knie und murmelte immer wieder ungläubig »Nein, nein! Das kann nicht sein« vor sich hin. Ihr Gesicht war von Trauer überzogen und sie krümmte sich über der Leiche zusammen.
So musste Mama ausgesehen haben, als das mit Jonathan passiert war, schoss es Celine durch den Kopf.
Kurz nach Jonathans 18. Geburtstag war er von einem Tag auf den anderen verschwunden. Ihre Mama hatte ihr die Geschichte zum ersten Mal erzählt, als sie etwa sechs Jahre alt war und gefragt hatte, wer der Junge auf den Bildern, die im ganzen Haus verteilt waren, war.
Caroline, Celines Mama, war am Abend nach der Arbeit nach Hause gekommen und hatte einen weissen Briefumschlag auf dem Küchentisch vorgefunden. Fein leserlich geschrieben hatte »Mama, Papa und Celine« draufgestanden. Mit zitternden Fingern hatte sie den Briefumschlag geöffnet. Sie zog ein dickes Blatt Papier hervor und fing an zu lesen.
Mama, Papa und auch Celine
Ihr wart, nein ihr seid einfach wundervoll.
Mama du hast mich nie anders behandelt als Celine, mich grossgezogen als wäre ich dein Sohn. Und nicht der, irgendeiner Fremden, die mich vor deiner Tür abgesetzt hat.
Ich glaube keine Mutter der Welt hätte mir mehr Liebe und Geborgenheit schenken können als du.
Papa, du bist einfach cool. Ich weiss, man sollte in diesem Alter die eigenen Eltern nicht mehr cool finden, weil das out ist und so weiter, aber ich kann gar nicht anders. Du musst jetzt alleine auf die beiden wunderschönen Frauen bei uns Zuhause aufpassen, wenn ich nicht mehr da bin, aber ich bin sicher, dass du das hinkriegst.
Ach Celine, meine süsse kleine Celine.
Ich weiss, dass du das noch nicht lesen kannst, aber später schon.
Du bist jetzt schon so schlau und ebenso mutig.
Verfolge immer deine Träume und gib niemals auf mein kleiner Panther.
Ich hab’s im Gespür, du wirst mal die ganze Welt sehen.
Ich habe euch alle drei furchtbar lieb, aber ich kann nicht bei euch bleiben.
Ich kann euch nicht erklären weshalb, aber ihr seid nicht schuld daran.
Bitte sucht nicht nach mir.
Ich liebe euch.
Danke für das Leben, das ihr mir geschenkt habt.
Euer Jonathan
Weinend war ihre Mutter auf dem Küchenboden zusammengebrochen, hatte sich vor und zurückgeschaukelt. Dann war Papa zusammen mit Celine nach Hause gekommen.
Auch er hatte den Brief gelesen und war auf dem Parkett zusammengesunken. Sie hatte dort gesessen und nicht verstanden, weshalb ihre Eltern so traurig waren.
Sie hatte nicht wirklich Erinnerungen an ihren grossen Bruder. Verschwommene Bilder von ihm, aber keine handfesten Momente mit ihm, an die sie sich erinnerte.
Celine blinzelte, wie um zurück in die Realität zu gelangen.
Sie konnte Alice‘ Anblick nicht länger ertragen und drehte sich um, drängte sich durch die Menge wieder nach draussen in den Wald.
Ihr war schlecht.
Nicht so, dass sie sich übergeben müsste.
Viel mehr, als ob sie keine Luft mehr bekäme und ihr Magen zog sich zusammen.
Diese Leiche zu sehen, völlig zerfetzt, das war irgendwie einfach zu viel für sie gewesen. Celine hatte überhaupt keine Probleme mit Blut, vielmehr war es ihr toter, starrer Blick gewesen, der zu viel gewesen war.
Es war die erste Leiche, die sie gesehen hatte.
Irgendwie war der Anblick verstörend. Es war, als wäre Alice auf einmal eine Wachsfigur, die Haut bleich und der Blick starr.
Während sie versuchte sich zu beruhigen, lief sie, ohne es zu bemerken, immer tiefer in den kleinen Wald hinein. Ihr Herzschlag beruhigte sich langsam wieder und ihre Hände hörten auf zu schwitzen. Das Rauschen der Blätter, das durch den leichten Wind verursacht wurde, beschwichtigte ihre Nerven.
Ein leises Schluchzen durchdrang ihre Gedanken. Sie riss den Kopf nach oben und lauschte, versuchte herauszufinden von wo das Geräusch kam. Mit einem etwas mulmigen Gefühl in der Bauchgegend folgte sie dem Schluchzen weiter in den Wald hinein.
Durch den leichten Schein des Mondes konnte Celine, die Umgebung vor sich erkennen. Die Schultern nach oben gezogen, den Rücken gebeugt, sass jemand an einen Stein gelehnt da.
Als sie näher kam, erkannte die junge Frau wer es war.
Nate.
Was tat er hier draussen?
Langsam ging sie auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stehen blieb. »Hey...Alles klar bei dir?«
Er antwortete nicht, hörte aber auf zu schluchzen.
»Was tust du hier draussen?«, versuchte sie es weiter.
Immer noch keine Antwort.
»Nate. Sieh mich an.«
Er hob den Blick. In seinen goldenen Augen schwammen Tränen.
Erst jetzt bemerkte sie, das Blut an ihm. Seine Hände waren rot, ebenso rannen ihm kleine Blutspuren die Mundwinkel hinunter.
Erschrocken wich sie zurück.
»Was ist passiert?« Obwohl sie das Blut an ihm sah, sie Angst verspürte, lief sie nicht davon.
Nate stiess eine Mischung aus bitterem Lachen und Schluchzen aus. »Celine, du bist eine schlaue Frau, du weißt ganz genau was passiert ist.«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Die Hinweise waren alle da. Und tief in ihrem Inneren hatte sie es wohl gewusst, nur nicht akzeptieren wollen.
»Du hast...Alice...du warst das?!«, presste sie hervor.
Resigniert nickte der Mann vor ihr.
Falls er denn überhaupt ein Mann war.
»Wie..so? Wieso? Wieso hast du sie umgebracht?«
Er sah sie sehr lange an, bevor er antwortete. »Ich kann nicht anders. Es liegt in meiner Natur.«
»Es liegt nicht in der Natur irgendeines Menschs zu töten«, erwiderte sie. Ehrlich gesagt hatte sie keine Ahnung, wieso sie nicht schon längst abgehauen war.
Nates goldene Augen schimmerten unheimlich, als er sie ansah. »Vielleicht bin ich ja kein Mensch.«
»Und was bist du dann?«
Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, das seine weissen blitzenden Zähne preisgab, die gar nicht mehr so weiss waren, sondern blutrot.
Seine Zähne!
Sein Kostüm!
»Nein. Nein«, kopfschüttelnd wich sie zurück. »Es gibt keine...keine...«
»Nur weil du es nicht aussprichst, ist es nicht weniger wahr«, meinte Nate zynisch.
Celine konnte es nicht wahrhaben. Solche Wesen waren Mythen.
Sie waren nicht real.
Das war nicht die Wirklichkeit.
Das war bloss ein Traum.
»Ich will jetzt aufwachen«, murmelte sie.
Nate stand in einer einzigen fliessenden Bewegung auf. »Ich bin ein Vampir. Und ich hasse jede einzelne Sekunde von meinem verdammten ewigen Leben.«
»Aber...aber wieso?« Ihre Stimme brach.
Seufzend fuhr sich der Mann vor ihr durch die dunklen Haare. »Wieso ich ein Vampir bin? Wieso ich es hasse? Wieso ich sie umgebracht habe? Wieso ich hier bin?«
Sie schluckte. Alle diese Fragen waren ihr durch den Kopf gegangen.
»Ich werde dir all deine Fragen beantworten.« Seine Stimme war sanft, beruhigend.
Obwohl ihre Knie vor Angst zitterten, war da diese Neugier, die sie drängte, näher an ihn heranzugehen und ihm zuzuhören.
Unsicher trat sie ein paar Schritte nach vorne. »Celine, was tust du da?!«, schrie eine Stimme in ihrem Kopf sie an.
»Fang...fang an zu erzählen.«
Er lehnte sich an einen Baum, etwa zwei Meter von ihr entfernt. »Also fangen wir ganz vorne an. Ich bin in Basel aufgewachsen. Ich hatte eine wundervolle Mama, einen coolen Papa und meine kleine Schwester war einfach super süss. Eines Abends ging ich mit ein paar Freunden aus, wir waren in einer Bar etwas ausserhalb von Basel.
Wir tranken natürlich was und wenn man betrunken ist, achtet man nicht mehr sonderlich darauf, wer an seinem Getränk vorbeikommt. Irgendjemand hat mir was in den Drink geschüttet, dass da ganz bestimmt nicht reingehört hätte. Ich hab‘ später im Internet ein bisschen recherchiert und rausgefunden, dass es wohl Vampirblut war, dass mir in mein Cocktail geschüttet wurde.
Als ich mich dann auf den Nachhauseweg machte, kam der Typ, der mir wahrscheinlich auch sein Blut untergemischt hatte und rempelte mich an. Wir haben angefangen zu prügeln und es ist eskaliert. Er hat...Ich bin gestorben.« Celine stolperte ein paar Schritte nach hinten. Sie hatte auch schon Mythen gehört über Vampire, aber so zu erfahren, dass man wirklich sterben musste um ein Vampir zu werden, das war beängstigend.
»Du bist tot«, stellte sie unnötigerweise fest.
»Ich habe danach versucht den Vampir wiederzufinden und um zu erfahren, weshalb er mir sein Blut gegeben und mich danach umgebracht hat. Aber ich habe ihn nie gefunden und deshalb weiss ich nicht, wieso er mich zum Vampir gemacht hat«, erwiderte der Vampir mit einem Grinsen.
»Ich bin hier in ebendiesem Wald aufgewacht. Verstört und wütend, aber vor allem sehr, sehr hungrig. Ich bin nach Hause gegangen, weil ich wusste, dass meine Familie nicht Zuhause war. Dort habe ich dann festgestellt, wer oder besser gesagt, was ich jetzt war. Ich wusste, dass ich nicht weiter bei ihnen bleiben konnte, ich war eine Gefahr für alle in meinem Umfeld. Bin ich immer noch«, er deutete auf die Ruine. »Auf jeden Fall habe ich meiner Familie einen Brief geschrieben und bin abgehauen.«
»Du bist einfach so gegangen?«
»Was hätte ich denn tun sollen? Ich muss töten. Es liegt in meiner Natur. Ich bin eine Gefahr für alle in meinem Umfeld. Ich habe mich nicht unter Kontrolle«, presste er hervor. »Somit hätten wir die Fragen, wieso ich ein Vampir bin und wieso ich es hasse einer zu sein, abgehakt.«
Sie fragte sich, wie er das Ganze so locker nehmen konnte. Er tötete Menschen!
»Ich habe sie umgebracht, weil sie geblutet hat und ich Hunger hatte.«
»Ja, aber sie war unschuldig. Sie hat dir nichts getan«, erwiderte sie und warf die Hände in die Luft.
»Ich. Kann. Es. Nicht. Kontrollieren«, knurrte er.
Und zum ersten Mal seit sie hier mit ihm stand, hatte sie wirklich Angst vor ihm.
»Da war noch ein weiterer Punkt«, flüsterte er.
Seine Persönlichkeit war irgendwie verwirrend. Seine Gefühle war ein einziges Hoch und Tief. In einem Moment war er wütend, im nächsten grinste er übers ganze Gesicht. Dann war er wieder zynisch und auf einmal ängstlich. Celine fragte sich, ob das an seinem Vampir Dasein lag oder ob es einfach sein Charakter war.
»Wieso ich hier hergekommen bin. Die wohl wichtigste der vier Fragen. Ich bin hier, weil ich sehen wollte wie es meiner Familie geht«, seine Stimme war mit jedem Wort leiser geworden. »Meine kleine Schwester, verdammt. So klein ist sie gar nicht mehr.«
Irgendwie hatte sie auf einmal einen sehr abwegigen Gedanken. »Wie alt bist du?«
»37«, erwiderte Nate mit einem Lächeln, das mehr zu sein schien, als nur ein Lächeln. »Und ich war 18 als ich von Zuhause abgehauen bin.«
»Nate. Jonathan«, flüsterte sie leise vor sich hin.
»Ich wusste doch, dass du es rausfindest mein kleiner Fuchs.«
Es waren diese goldenen Augen.
Von Anfang an.