Es waren einmal vor langer Zeit drei Brüder. Sie lebten in einem Land mit Flüssen aus Tinte, Bergen aus Papier und Bäumen aus Schreibfedern.
Die drei Brüder lebten zusammen mit ihrem Vater auf einem ärmlichen Hof. Der Vater war sehr alt und ihre Mutter schon vor langer Zeit gestorben. Deshalb hatte der Vater seine drei Söhne nur umso mehr lieb, und die drei Brüder mochten einander sehr.
In diesem Land mit seinen Flüssen aus Tinte, seinen Bergen aus Papier und seinen Bäumen aus Schreibfedern lebten die Menschen nur vom Schreiben. Jeder schrieb: Kurzgeschichten und Gedichte, Essays und Novellen, Fachbücher und Romane, Dissertationen und Streitschriften und vieles mehr. Am Hof des Königs lasen sieben mal sieben Kritiker den Text siebenmal durch. Jeder Text wurde nach seiner Qualität bewertet, nach Länge und Sprache, nach den Metaphern und Stilmitteln, nach seiner Aussage und seiner Originalität. Und am Ende wurde jeder Text dem König vorgetragen, der Geschichten über alles liebte. Dann hörte der König seine sieben mal sieben Kritiker an und beschloss aus diesen Meinungen und seiner eigenen, wie viel ein Text wert war, und der Schreiber wurde aus der Schatzkammer des Königreichs entlohnt.
Nun war es so, dass der Vater der drei Brüder nicht mehr schrieb. Dabei war er einmal ein großer Autor gewesen, der Romane von solchem Herzblut schrieb, dass unzählige Menschen seine Figuren und Welten kannten. Seine Frau, die vor langer Zeit gestorben war, hatte Gedichte verfasst, so schön, dass sie einen Stein zum Weinen bringen konnten. Sie hatte die Sonne nachts scheinen und Wasser in Flammen aufgehen lassen können. Seitdem sie gestorben war, konnte der Vater keine Feder mehr auf ein Blatt Papier setzen, und keine Tinte mehr fließen lassen. Zuerst hatten sie von dem Gold leben können, das noch von früher geblieben war. Nachdem dieses aufgebraucht war, hatten die drei Söhne geschrieben, um sich und ihren Vater zu ernähren. Sie waren nicht gut, aber auch nicht schlecht darin. Und so waren sie nicht arm und nicht reich, aber sehr glücklich.
Doch dann kam der Tag, da der Vater am Morgen nicht aus dem Bett aufstand. Und als der Abend kam und die Sonne sich hinter den Bergen senkte, rief er seine drei Söhne zu sich.
„Meine Söhne, ich werde bald sterben“, sprach er zu ihnen. „Ich werde fortgehen und eure Mutter wiedersehen und von den Sternen aus über euch wachen. Doch ich muss etwas von euch verlangen. Viel zu lange habt ihr nun hier gewohnt und mich alten Mann gepflegt und mir auf dem Hof geholfen. Ich will, dass ihr euch eurem eigenen Schreiben zuwendet. Immer nur habt ihr geschrieben, um mir zu helfen. Nun schreibt für euch. In euch ruht das Feuer von tausend Ideen, die Melodie von tausend Träumen und der Atem von tausend Seelen.“
Nach diesen Worten starb der Vater, und die drei Brüder weinten bitterlich an seinem Bett. Und sie weinten drei Tage und drei Nächte um ihren Vater.
Am vierten Tage aber machten sie sich daran, den letzten Wunsch ihres Vaters zu erfüllen. Jeder der Brüder ging in seine Schreibstube und setzte sich an seinen Schreibtisch, vor sich ein leeres Blatt Papier, ein Tintenfass und eine Schreibfeder.
Der älteste Bruder saß im größten Zimmer, mit einem gewaltigen Schreibtisch und einem großen Holzstuhl wie ein Thron. Er tauchte die Feder schwungvoll in die Tinte und setzte den Kiel auf das Papier, doch ach – all seine Gedanken waren wie weggeblasen und verstummt. Und das Papier blieb weiß wie frisch gefallener Schnee.
Der zweite Bruder saß im mittleren Zimmer, mit einem einfachen Schreibtisch und einem Stuhl wie ein Edelmann. Auch er tauchte die Feder in die Tinte und setzte den Kiel langsam auf das Papier, doch ach – all seine Gedanken waren wie weggeblasen und verstummt. Und das Papier blieb weiß wie frisch gefallener Schnee.
Der jüngste Bruder saß in einer kleinen Schreibkammer, vor einem wackligen Schreibtisch und auf einem bloßen Hocker. Er tauchte die Feder zögerlich in die Tinte und setzte den Kiel so sanft wie den Flügelschlag eines Schmetterlings auf das Papier, doch ach – all seine Gedanken waren wie weggeblasen und verstummt. Und das Papier blieb weiß wie frisch gefallener Schnee.
Da traten die Brüder, einer nach dem anderen, in die Wohnstube und sie erkannten, dass sie vom Fluch der weißen Seite befallen waren. Sie würden nicht schreiben könnten, nicht einen Satz, nicht ein Wort, nicht einen Buchstaben, bis der Fluch gebrochen war.
Da suchten die Brüder Rat bei dem weisesten Mann des Königreichs, und das war der König selbst, denn er hörte alle Geschichten seines Landes und wusste mehr, als nur das, was zwischen den Zeilen stand. Als die Brüder vor ihn traten und ihre Bitte vortrugen, von dem Fluch der weißen Seite befreit zu werden, da wurde das Antlitz des Königs dunkel vor Kummer.
„Diesen Fluch kann niemand von euch nehmen, denn ihr müsst ihn selbst brechen. Geht zur Quelle der Fantasie. Doch ihr müsst den Weg allein finden und ohne Hilfe. Der Weg ist gefährlich. Viele üble Gesellen werde euch in die Irre leiten wollen, viele Bösewichte euch Illusionen vorspiegeln. Doch darf ich euch nicht den kleinsten Rat geben, denn jeder von euch muss den Weg selbst finden – und ganz alleine.“
Da erschraken die Brüder und fragten nach, ob sie wirklich allein würden gehen müssen.
„Ja, ihr müsst euch trennen“, sprach der König. „Denn wer den Weg mithilfe anderer findet, hat ihn nicht gefunden.“
Da gingen die Brüder in bedrücktem Schweigen fort. Und vor den Toren des Palastes trennten sie sich schweren Herzens voneinander und jeder zog für sich los in die weite Welt, den Weg zu finden, um den Fluch der weißen Seite zu brechen.
Der älteste Bruder wanderte und suchte drei Tage, da stand am Wegesrand plötzlich eine zarte Jungfrau in einem Gewand aus weißer Seide. Sie lächelte und der älteste Bruder fragte sie, ob sie ihm den Weg zur Quelle der Fantasie weisen könnte.
Da nickte die Jungfrau und deutete auf den Horizont: „Seht Ihr dort im Osten den höchsten Gipfel, so hoch, dass auf seinem Gipfel manchmal der Mond von seinem Weg über den Himmel ausruht und die Sterne dort mit den Nordlichtern ihren Reigen tanzen? Dort oben findet Ihr die Quelle der Fantasie.“
„Und wie gelange ich dorthin? Ich muss den direkten Weg nehmen und darf nicht von ihm weichen“, fragte der älteste Bruder.
„Es gibt keinen direkteren Weg als durch die Luft. Geht zum nächsten Dorf und fragt dort nach dem Weisen Ikshamir, er wird Euch führen.“
Der älteste Bruder bedankte sich und ging zu dem nächsten Dorf. Und im nächsten Dorf fragte er nach Ikshamir.
„Unser Herr Ikshamir der Weise ist fort“, gaben ihm die Dorfbewohner zur Antwort. „Er ging in den Süden, wo die helle Sonne niemals untergeht.“
Der älteste Bruder beschloss, Ikshamir zu suchen und ging nach Süden. Wie er aber so ging, kam er an eine Stelle im Feld, da lagen unzählige Schafe gerissen da und Fliegen surrten. Ein fürchterliches Wolfsrudel hauste hier und tötete alle Tiere der braven Hirten. Doch der älteste Bruder hatte keine Furcht und er ging zum Bau des Rudels und jagte die Wölfe mit dem Schwert hinfort und das Rudel floh in Entsetzen. Und in ihrem Bau fand der älteste Bruder ein Horn von Gold, dessen Ruf die Geschöpfe der Luft an seine Seite rufen würde und er nahm es an sich.
Dann kehrte er direkt auf den Weg zurück und lief weiter nach Süden, um den Weisen Ikshamir zu finden. Wie er aber so ging, kam er an eine Stelle im Fluss, da trieben die Fische mit dem Bauch nach oben und waren zu hunderten tot. In einer Windung des Flusses hauste eine schreckliche Meerhexe und sie tötete alle Fische. Der älteste Bruder aber hatte keine Furcht und er ging zum Hause der Meerhexe. Und er rief alle Vögel des Himmels zu Hilfe, und sie lenkten das Fischweib ab, sodass der älteste Bruder ihr aufgequollenes, verschrumpeltes Herz mit dem Schwert durchbohren konnte. Und in dem Haus der Meerhexe fand er einen Stab aus Alabaster und mit Saphiren besetzt, dem eine große Zauberkraft innewohnte, und er nahm ihn an sich.
Dann kehrte er direkt auf den Weg zurück und lief weiter nach Süden, um den Weisen Ikshamir zu finden. Wie er aber so ging, stieß er auf eine Stelle im Wald, wo alle Bäume verbrannt und verseucht waren. Ein Basilisk hauste dort, ein gar grausiges Monster. Der älteste Bruder aber hatte keine Furcht und er betrat den Bau des schrecklichen Monsters. Und er rief alle Vögel des Himmels zu sich, den Basilisk abzulenken. Wie er aber das Schwert schwang, wurde dieses vom Gift des Basilisken zersetzt und war nicht mehr. Da nahm der älteste Bruder den Zauberstab und stieß die Spitze bis tief in das schwarze Herz des Untiers und der Basilisk starb. In seinem Hort aber fand der älteste Bruder einen Gefangenen und dieser war ein Greif mit goldenem Gefieder und Augen wie Rubinen. Er war Ikshamir, der Weise, den der grausige Basilisk gefangen hatte.
Der älteste Bruder bat Ikshamir, ihn zur Quelle der Fantasie zu führen.
„Steig auf meinen Rücken“, erwiderte der Greif. „Ich fliege dich auf der Stelle hin.“
Und so geschah es. Nach drei Tagen der Wanderung kam der älteste Bruder an seinem Ziel an. Aber der Bruder stand allein auf dem Gipfel des höchsten Berges und fand die Quelle nicht und auch Ikshamir wusste nicht, wo diese zu suchen sei, und so wurde der Fluch des ältesten Bruders nicht gebrochen.
Auch der zweite Bruder wanderte und suchte drei Tage, da stand am Wegesrand eine wunderschöne Fürstentochter mit einem Umhang aus rotem Brokat. Sie lächelte und der zweite Bruder fragte sie, ob sie ihm den Weg zur Quelle der Fantasie weisen könnte.
Da nickte die Fürstentochter und deutete auf den Horizont: „Seht Ihr dort im Osten den höchsten Gipfel, so hoch, dass auf seinem Gipfel manchmal der Mond von seinem Weg über den Himmel ausruht und die Sterne dort mit den Nordlichtern ihren Reigen tanzen? Dort oben findet Ihr die Quelle der Fantasie.“
„Und wie gelange ich dorthin? Ich muss den direkten Weg nehmen und darf nicht von ihm weichen“, fragte der zweite Bruder.
„Seht Ihr die Straße im Sonnenschein, die nach Osten führt? Folgt ihr, sie führt Euch direkt auf den Berg.“
Der zweite Bruder folgte diesem Weg. Doch da traf er auf einen Hirtenknaben, der am Wegesrand saß und weinte.
„Was hast du, Junge?“, fragte der zweite Bruder.
Da sagte der Knabe: „Ein schreckliches Wolfsrudel hat all unsere Schafe gefressen. Nun sind die Wölfe tot, aber wir haben noch immer keine Schafe!“
„Das ist der Lauf der Welt!“, sprach der zweite Bruder.
„Bitte, hilf mir! Mein Vater hat keine Wolle mehr zu verkaufen und wir hungern.“
Der zweite Bruder überlegte, dann fragte er: „Ich bin auf der Suche nach der Quelle der Fantasie. Mein Auftrag eilt. Kannst du mir denn etwas geben, was mir hilft, die Quelle zu finden, wenn ich dir neue Schafe bringe?“
Der Knabe überlegte und dann nickte er. „Oben auf dem Hügel sind viele alte Gräber, da liegt ein Schild, der jeden Angriff blocken kann. Ich hole ihn dir, wenn du versprichst, mir zu helfen!“
Da willigte der Bruder ein und er ging vom Pfad ab, und in ein nahes Dorf und er kaufte dort eine Herde Schafe und trieb sie zurück zu der Stelle, wo der Knabe wartete.
„Habt Dank!“, rief der Hirtenknabe und er überreichte dem zweiten Bruder den Schild, der alle Angriffe abwehrte.
Nun kehrte der zweite Bruder auf die Straße zurück und ging weiter nach Osten und zum Berg. Da kam er in ein Dorf, in dem die Menschen wehklagten und weinten.
„Was habt ihr denn, gute Leute?“, fragte der zweite Bruder.
Da sagten die Fischer: „Ein schreckliches Unglück hat unseren Fluss befallen und alle Fische vergiftet. Nun ist die böse Hexe tot, die das getan hat, aber die Fische sind immer noch fort.“
„Das ist der Lauf der Welt!“, sprach der zweite Bruder.
„Bitte, hilf uns! Unsere Netze sind leer und wir hungern.“
Der zweite Bruder überlegte, dann fragte er: „Ich bin auf der Suche nach der Quelle der Fantasie. Mein Auftrag eilt. Könnt ihr mir denn etwas geben, was mir hilft, die Quelle zu finden, wenn ich euch neue Fische bringe?“
Die Dorfbewohner überlegten und nickten dann. „Nicht weit von hier ist eine alte Burg, darin liegt ein mächtiges Schwert, das jeden Feind niederschlagen kann. Wir holen es dir, wenn du versprichst, uns zu helfen!“
Da willigte der Bruder ein und er ging vom Pfad ab, und zum Meer und er grub einen mächtigen Graben von einem Fluss zum anderen und brachte so neue Fische zum Dorf.
„Habt Dank!“, rief die Fischer und sie überreichten dem zweiten Bruder das Schwert, das alle Feinde töten konnte.
Nun kehrte der zweite Bruder auf die Straße zurück und ging weiter nach Osten und zum Berg. Die Sonne sank bereits und er hatte viel Zeit verloren. Da traf er auf einen Jäger, der am Waldrand saß und bitterlich weinte.
„Was hast du denn, guter Mann?“, fragte der zweite Bruder.
Da sagte der Jäger: „Ein schreckliches Untier hat meinen Wald verwüstet. Nun ist der Basilisk erschlagen, aber die Bäume sind immer noch fort.“
„Das ist der Lauf der Welt!“, sprach der zweite Bruder.
„Bitte, hilf mir! Es sind keine Tiere mehr im Wald und meine Familie hungert.“
Der zweite Bruder überlegte, dann fragte er: „Ich bin auf der Suche nach der Quelle der Fantasie. Mein Auftrag eilt. Kannst du mir denn etwas geben, was mir hilft, die Quelle zu finden, wenn ich dir neue Bäume bringe?“
Der Jäger überlegte und dann nickte er. „Ich habe ein Pferd, das ist schnell wie der Wind und stark wie ein Berg. Ich schenke es dir, wenn du mir neue Bäume bringst!“
Da willigte der Bruder ein und er ging vom Pfad ab. Er holte die Samen von tausend Bäumen und pflanzte sie im Wald und da kehrten die Tiere des Waldes zurück.
„Habt Dank!“, rief der Jäger und er gab dem zweiten Bruder das Pferd, so schnell wie der Wind und so stark wie ein Berg. Und der zweite Bruder ritt eilig zum Gipfel des höchsten Berges.
Nach drei Jahren der Wanderung kam der zweite Bruder an seinem Ziel an. Und er traf den ältesten Bruder dort. Gemeinsam suchten sie die Quelle, aber die Brüder konnten sie nicht finden und auch der Weise Ikshamir wusste nicht, wo diese zu suchen sei, und so wurde der Fluch der beiden Brüder nicht gebrochen.
Auch der jüngste Bruder wanderte und suchte drei Tage, da stand am Wegesrand eine alte, gebeugte Frau in einem Mantel aus schwarzen Lumpen. Der jüngste Bruder fragte sie, ob sie ihm den Weg zur Quelle der Fantasie weisen könnte.
Da nickte die Alte und deutete auf den Horizont: „Seht Ihr dort im Osten den höchsten Gipfel, so hoch, dass auf seinem Gipfel manchmal der Mond von seinem Weg über den Himmel ausruht und die Sterne dort mit den Nordlichtern ihren Reigen tanzen? Dort oben findet Ihr die Quelle der Fantasie.“
„Und wie gelange ich dorthin?“, fragte der jüngste Bruder.
„Es gibt keinen Weg, den ich Euch weisen könnte“, antwortete da die alte Frau. „Doch ich rate Euch, geht nach Westen in das Tal der Dornen und Schatten.“
Das verwunderte den jüngsten Bruder. „Aber der Berg liegt im Osten und du weist mich nach Westen. Der König riet mir, niemals vom Wege abzukommen, denn dann würde ich den Fluch der weißen Seite niemals brechen können.“
Da hob die Alte ihren Stock und hieb dem jüngsten Bruder auf den Kopf. „Dummkopf! Es gibt keinen geraden Weg, den du verlassen könntest. Der Weg ist, wohin du deine Füße setzt, und das wird der einzig Richtige sein! Der König hat dich belogen.“
„Das glaube ich nicht!“, beharrte der jüngste Bruder. „Du bist eine Täuschung, vor der der König mich warnte!“
„Der König weiß von deinen Eltern, dummer Junge, und er weiß, dass in deinen Adern das Blut des Talents fließt. Der König aber ist geizig und will sein Gold nicht gerne teilen und deshalb will er nicht, dass seine Untertanen gute Texte schreiben und viel Gold bekommen!“, sprach die Frau weiter. „Doch geh nach Osten, wenn du mir nicht glaubst, folge der breiten Straße oder fliege auf dem Rücken eines Greifs zum Berg, und überzeuge dich selbst!“
Mit diesen Worten verschwand sie in eine Wolke von Rauch und der jüngste Bruder stand alleine am Wegesrand.
Er aber schloss die Augen und horchte in sich hinein, wem er vertraue – dem König in seinem Schloss umgeben von Texten, oder der garstigen Alten. Und da lenkte der jüngste Bruder seine Schritte nach Westen und er betrat das Tal der Schatten und Dornen und alle Lichter blieben hinter ihm zurück, denn in diesem Tal wohnte der Tod und seine Armee der Geister.
Der Bruder lief für lange Zeit und sein Weg war sehr beschwerlich, denn er führte durch Gräben und Rankengewächse. Da hörte er plötzlich Wolfsgeheul und schon schlossen ihn die schwarzen Schatten toter Wölfe ein und umzingelten ihn.
„Wer seid ihr?“, fragte der jüngste Bruder die Bestien, und da antworteten die Wölfe:
„Einst waren wir brave Hirten und wir lebten auf der Ebene. Wir schrieben Geschichten von großer Schönheit. Wir schrieben von Angst und Schrecken und mutigen Herzen, die die Furcht überwanden. Unsere Geschichten waren wie Lichter in der Nacht, da wurde der mächtige König neidisch und er verwandelte uns in Wölfe und sagte allen, wir wären tot. Wir aber waren fortan dazu verflucht, Schafe zu reißen und gejagt zu werden, bis jemand uns anhört.“
„Das tut mir leid“, sagte der jüngste Bruder.
Da schwiegen die Wölfe einen Moment und sagten dann: „Du hast uns angehört und den Fluch gebrochen, wir sind frei.“ Und da waren es keine Wölfe mehr, sondern einfache Hirten. „Gerne würden wir dir etwas geben zum Dank. Aber das Horn, das die Vögel ruft, wurde uns geraubt von jenem, der uns erschlagen hat. Und der Schild, der alle Angriffe abwehrt, lag in unseren falschen Gräbern auf den Hügeln und wurde gestohlen. Wir haben nur diesen Stein, den wir dir geben können.“
Der jüngste Bruder nahm den Stein wie ein fürstliches Geschenk entgegen und dankte den Hirten und sie kehrten zurück zu ihrem friedlichen Leben.
Der Bruder lief weiter für lange Zeit und sein Weg war sehr beschwerlich, denn er führte durch Gräben und Rankengewächse. Da hörte er wütendes Zetern wie von einem Weib, das Gift und Galle spuckt, und am Rande eines Sumpfes traf er auf eine Meerhexe.
„Wer bist du?“, fragte der jüngste Bruder die giftige Hexe, und da antwortete sie:
„Einst war ich die Tochter eines Fürsten der Fischer und lebte in einem Dorf. Ich schrieb klangvolle Balladen von größer Schönheit. Ich schrieb von Kriegen und Blutvergießen und von friedlichen Geistern, die den Hass überwanden. Meine Geschichten waren wie Salben auf tiefen Wunden, da wurde der mächtige König neidisch und er verwandelte mich in ein grässliches Fischweib und sagte allen, ich wäre tot. Ich aber war fortan dazu verflucht, den Fluss zu vergiften und Fische zu töten, bis jemand mich anhört.“
„Das tut mir leid“, sagte der jüngste Bruder.
Da schwieg die Meerhexe einen Moment und sagte dann: „Du hast mich angehört und den Fluch gebrochen, ich bin frei.“ Und da war es keine garstige Meerhexe mehr, sondern eine schöne Fischerstochter. „Gerne würde ich dir etwas geben zum Dank. Aber mein Zauberstab wurde mir geraubt von dem, der mich erschlagen hat. Und das Schwert, das alle Feinde tötet, lag in meiner verlassenen Burg und wurde gestohlen. Ich habe nur diesen Stock, den ich dir geben kann.“
Der jüngste Bruder nahm den Stock an wie ein herzogliches Geschenk und dankte der Fischerstochter und sie kehrte zu ihrem friedlichen Leben zurück.
Der Bruder lief weiter für lange Zeit und sein Weg war sehr beschwerlich, denn er führte durch Gräben und Rankengewächse. Da hörte er bitterliches Weinen, und wie er weiterging, fand er einen grässlichen Basilisken mit giftigem Zahn und tödlichem Blick.
„Wer bist du?“, fragte der jüngste Bruder das schreckliche Untier, und da antwortete es:
„Einst war ich ein König über dieses Land und ich formte es zu einem Reich der Geschichten. Meine liebe Frau war gestorben und das Leid zerfraß mich, doch in Büchern und Liedern fand ich Trost. Dieses Geschenk wollte ich meinem Volk machen und so schuf ich ein Reich, in dem Geschichten das höchste Gut sind. Und ich schrieb selbst von Trauer und Leid und von Freundschaft und Liebe, die die Tränen überwand. Dann aber kam eine schreckliche Zauberin und sie verwandelte mich in ein fürchterliches Biest und nahm meine Gestalt und meinen Platz ein. Ich aber war fortan dazu verflucht, Papier zu verbrennen und ich floh in den Wald. Denn selbst mein vertrauter Berater, der weise Ikshamir, erkannte mich nicht.“
„Das tut mir leid“, sagte der jüngste Bruder.
Da schwieg der König einen Moment und sagte dann: „Du hast ein reines Herz. Ich sehe, dass in dir das Feuer von tausend Ideen, die Melodie von tausend Träumen und der Atem von tausend Seelen ruht. Du kannst die Zauberin besiegen. Gerne würde ich dir etwas geben für diese Aufgabe, aber mein Berater, der Greif Ikshamir, dient nun jenem, der mich erschlagen hat. Und mein Pferd, das so schnell wie der Wind und so stark wie ein Berg ist, wurde einem anderen geschenkt. Ich habe nur diesen räudigen Kater, den ich dir geben kann.“
Der jüngste Bruder nahm den Kater an wie ein königliches Geschenk und fragte den König: „Ist denn der Fluch nicht gebrochen, nun, da ich deine Geschichte hörte?“
Da schüttelte der König traurig den Kopf und sprach: „Mein Fluch existiert, solange die furchtbare Zauberin lebte, denn solange ist auch mein Land nicht frei.“
Da ging der Bruder mit dem Stein, dem Stock und dem Kater los und lief durch das Tal der Schatten und Dornen, bis er plötzlich, obwohl er nach Westen gegangen war, vor dem höchsten Berg im Osten stand. Und es waren dreißig Jahre der Wanderung vergangen.
Doch die schreckliche Zauberin, die die Gestalt des Königs trug und voller Neid und Missgunst auf dem Thron saß, hörte, dass die braven Hirten und die Tochter des Fischerfürsten zurückgekehrt seien, und sie ahnte, was geschah. Tief in ihrem verdorbenen Herzen hasste sie jede Form von Fantasie und sie wusste, dass sie den jüngsten Bruder aufhalten musste. Und so verwandelte sie sich in einen gewaltigen Drachen und flog zum höchsten Berg. Sie setzte sich dort auf die Spitze und ihre Schwingen waren so gewaltig, dass sie den Himmel überdeckten. Und alles wurde schwarz.
Dort auf dem Gipfel suchten der älteste Bruder und der mittlere Bruder immer noch nach der Quelle. Und als es nun dunkel wurde, waren sie blind und hilflos. Die Zauberin sprach aber mit der Stimme des Königs: „So habt ihr den Berg mit der Quelle gefunden! Narren – ich warnte euch, niemals vom Weg abzuweichen, doch das war eine Lüge, denn der direkte Weg ist der falsche. Ich war es, die euch wies, den Berg so schnell wie möglich zu besteigen, damit ihr die Quelle niemals finden werden, und ich wies euch auf die Pfade, auf denen ihr die Wölfe, die Meerhexe und den Drachen treffen werdet, auf dass ihr meine Spuren verwischt!“
Da wurde den Brüdern klar, dass sie getäuscht worden waren. Und Ikshamir, der Greif, erkannte, dass der Basilisk in Wahrheit der König gewesen war und klagte laut auf.
„Den Fluch werdet ihr niemals brechen“, sagte die Zauberin und der mächtige Drache hob die Pranke, um die beiden Brüder zu zerquetschen.
Da erreichte der jüngste Bruder den Berg und rief: „Halt!“ Und er hob den Stein, dem ihm die Hirten gegeben hatte und wollte ihn werfen, aber der Drache schlug ihn und der Stein fiel auf die Erde. Wie aber der Stein auf die Erde fiel, sprang ein Funke hervor, denn es war ein Feuerstein. Der Funke sprang in das Fell des Katers, und der räudige Kater wurde ein helles Irrlicht und sprang an die Spitze des Stocks. Und aus dem Stock in der Hand des jüngsten Bruders wurde eine Fackel, die hell strahlte wie die Sonne und den Drachen blendete. Und alle Augen richteten sich auf den Berg, wo die drei Brüder standen und der schwarze Drache, der die Zauberin war.
„Verzaget nicht!“, rief der jüngste Bruder dem älteren Bruder und dem zweiten Bruder zu. Und er sprach Worte von Mut, Friede und Freundschaft und stärkte die Herzen aller, die ihn hörten.
Da erhob sich der mittlere Bruder. Und er stieg auf das Pferd des Königs, das so schnell wie der Wind und so stark wie ein Berg war. Er nahm den Schild, der alle Angriffe blockte und das Schwert, das alle Feinde tötete, und er ritt gegen den Drachen.
Die Zauberin in Gestalt der Flammenechse spie Feuer und Gift und Kälte, doch der Schild blockte alles ab. Das Pferd wich den wütenden Pranken aus und so durchbohrte der zweite Bruder die Brust des Drachen. Und da schrumpfte die Zauberin und sah aus wie der König, und dann verfiel auch diese Form und sie stand in der Gestalt einer Königin da, gekleidet in ein schwarzes Gewand aus Neumondshimmel. Und ihre Magie war so stark, dass der zweite Bruder sie nicht mehr erreichen konnte.
Da stieg der älteste Bruder auf den weisen Greifen Ikshamir. Und er blies das Horn, das alle Vögel herbeirief und sie kreisten um das Haupt der Zauberin und lenkten sie ab. Und mit dem Zauberstab aus Alabaster und Saphir konnte der älteste Bruder das Herz der Zauberin durchbohren, und dieses Herz war schwarz wie die Angst und kalt wie Wintersschnee.
Da schrie die Zauberin auf und fiel. Ihr Leib wurde zu Flocken wie Asche und verwehte im Wind; und der böse Zauber war gebrochen. Da öffnete sich knirschend eine verborgene Pforte im Stein und heraus sprudelte ein Fluss, den die böse Zauberin dort verschlossen hatte, und das Wasser glänzte in allen Farben des Regenbogens. Der mächtige Strom verteilte sich überall im Land, und wer von ihm trank, dem kamen Ideen wie unzählige Glühwürmchen. Das war die Quelle der Fantasie und sie war vom Fluch der bösen Zauberin befreit worden.
Der König kehrte zurück in seine Halle und saß auf dem Thron und er machte die drei Brüder zu seinen Erben und Königssöhnen. Die drei Brüder aber entdeckten, dass der Fluch der weißen Seite gebrochen war.
Und so schrieb der älteste Bruder von fabelhaften Welten weit jenseits aller Vorstellungskraft und der zweite Bruder schrieb Geschichten von Rittern mit ehrlichen Herzen. Der jüngste Bruder aber schrieb Gedichte, so klar wie reine Seen oder Augen voller Tränen und seine Geschichten waren die wertvollsten von allen. In den Herzen der drei Brüder loderte das Feuer von tausend Ideen wie ein Waldbrand, brandete die Melodie von tausend Träumen wie ein ganzes Meer, das singt, und tobte der Atem von tausend Seelen wie ein wilder Sturm.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so schreiben sie noch heute.
~ Ende ~
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!