Als Lisa die Augen aufschlug, sah sie einen grünen Busch vor sich. Verwirrt rieb sie sich die Augen und bemerkte, dass sie sich nicht geirrt hatte. Lisa sass tatsächlich in einem Busch.
«Pia? Lynn?» Unsicher schaute sie umher, konnte ihre Freundinnen aber nirgends sehen.
Stattdessen bemerkte sie, dass ihre Kleider irgendwie verschwunden waren. Statt der blauen Jeans und dem rosa Pullover trug sie jetzt schwarze, lockere Hosen mit Falten, schwarz glänzende Lederschuhe und eine weisse Bluse. Sie sah genau aus wie die Schüler, die sie vorhin auf dem Foto gesehen hatte.
Vorsichtig stand Lisa auf und spähte zu dem grossen Haus hinüber, das jetzt direkt neben ihr stand. Irgendwie musste sie in das Bild hineingekommen sein.
Schnell schaute sie nach oben und erwartete schon fast, dass sie dort die Gesichter ihrer Freundinnen sehen würde, die auf sie hinabstarrte, aber über ihr war nur der blaue Himmel, übersäht mit ein paar Schäfchenwolken.
Als sie einen Schrei hörte, duckte sie sich schnell wieder und im nächsten Moment jagte ein seltsames Tier über ihren Kopf hinweg.
Es sah aus wie ein riesiger Löwe mit Flügeln, Krallen und einem gebogenen Schnabel. Das Tier hatte einen langen Schwanz und die Federn an den Schwingen gingen von Dunkelblau über Violett zu Rot bis hin zu sonnigem Gelb.
Staunend sah Lisa dem Greifen nach und trat ein paar Schritte aus ihrer Deckung heraus.
In diesem Moment knallte etwas mit voller Wucht gegen sie.
Erschrocken machte sie einen Satz nach hinten und sah, dass sie mit einem Mädchen zusammengestossen war, das eine dicke Brille auf der Nase trug und die Haare zu Zöpfen geflochten hatte. Das Mädchen hatte die gleichen Sachen an wie sie selbst und sah sich ängstlich um.
«Entschuldigen Sie wertes Fräulein, könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich mich befinde?» Das Mädchen schob sich die Brille auf ihrer Nase nach oben und blinzelte heftig.
«Hä?» Lisa war verwirrt.
«Ob Sie mir sagen könnten, wo ich bin.» Die Fremde wurde ungeduldiger.
«Tut mir leid, aber ich weiss auch nicht, wo wir sind.» Lisa zuckte mit den Schultern, dann hielt sie dem Mädchen ihre Hand hin. «Ich bin Lisa.»
«Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin Margarethe.»
Bei dem Namen musste Lisa grinsen. «Margarethe? So heisst heute doch niemand mehr!»
«Ich muss Sie wirklich bitten. Meine Grossmutter heisst auch Margarethe und die Mutter meiner besten Freundin ebenfalls.» Seufzend fasste sie sich an den Kopf. «Da sass ich eben noch gemütlich am Kamin und im nächsten Moment lande ich hier… in dieser lächerlichen Kleidung!»
Lisa runzelte die Stirn, denn ihr war plötzlich ein schrecklicher Verdacht gekommen.
«Margarethe, aus welchem Jahr kommst du?»
«Ich? Ich lebe im Jahre 1823»
«1823? Dann… bist du 200 Jahre älter als ich….»
Margarethe schaute Lisa verwirrt an. «Sie meinen… wir kommen nicht aus derselben Zeit?»
«Ja, genau das meine ich! Und bitte, sag du.»
Kopfschüttelnd gingen die beiden Mädchen weiter auf das grosse Haus zu. Der Garten rund um das Gebäude herum war voller Wege, Hecken und Teiche. Und überall sassen seltsame Wesen und flogen exotische Vögel herum.
«Ich weiss zwar nicht, was passiert ist, aber mir gefällt es hier!», Lisa grinste. Margarethe nickte nur. Sie war noch immer etwas blass um die Nase, als die zwei den Platz direkt vor dem Haus erreichten, wo sich bereits andere Schüler versammelt hatten.
«…deine Schuld!» hörten sie plötzlich eine aufgeregte Jungenstimme.
Als sie sich umdrehten sahen sie ein paar Meter entfernt zwei Jungen stehen, die genau gleich aussahen. Beide hatten sie schwarze Haare, mandelförmige Augen und trugen die gleiche Uniform wie Lisa und Margarethe.
«Wenn du das Buch erst gar nicht angefasst hättest, wäre nichts passiert!», schimpfte jetzt der zweite der Zwillinge.
Neugierig ging Lisa näher zu den Jungen hinüber, aber die waren so sehr mit streiten beschäftigt, dass sie das blonde Mädchen gar nicht bemerkten.
«Sorry, dass ich mich hier einmische, aber seid ihr zufälligerweise auch in ein Foto hineingesogen worden?»
Überrascht schauten die Jungs auf. «Ja, wieso?», fragte der eine schliesslich.
«Naja, bei mir und dem Mädchen da drüben,», Lisa zeigte auf Margarethe, die etwas abseits stehen geblieben war, «ist das nämlich auch passiert.»
Die Zwillinge nickten überrascht.
«Und aus welchen Jahr kommt ihr?», fragte Lisa weiter.
Jetzt sahen die Jungen verwirrt aus. «Äh… 2386, woher denn sonst. Ihr etwas nicht?»
Mit offenem Mund schüttelte Lisa den Kopf. «Ich komme aus dem Jahr 2019 und Margarethe aus dem 19. Jahrhundert.»
«Das ist voll krass! Ich bin übrigens Zac und das ist mein Zwillingsbruder Daw.»
Die vier Kinder unterhielten sich weiter, währendem sie zu der Gruppe von anderen Schülern hinübergingen.
«Meint ihr, die kommen alle aus einer anderen Zeit?», flüsterte Zac neugierig.
«Keine Ahnung!» Lisa schüttelte den Kopf.
«Pst! Leise jetzt!» Daw verdrehte genervt die Augen.
Aus dem grossen Haus vor ihnen, trat eine Frau in einem grünen Kostüm heraus uns schaute mit prüfendem Blick zu den Kindern. Sie hatte ein Klemmbrett unter den Arm und die Haare zu einem Dutt gebunden. Eigentlich sah sie genau aus wie eine dieser bösen Internat Leiterinnen aus Filmen, fand Lisa.
«Liebe Schülerinnen und Schüler,», begann sie zu sprechen. «herzlich Willkommen im FWH, dem Zuhause für magischen Geschöpfe. Unsere Aufgabe hier ist es, die magischen Wesen zu beschützen und zu behüten. Jeder von euch ist aus einem ganz bestimmten Grund hier. Niemand zufällig. Ihr kommt von den verschiedensten Orten und seid die Besten überhaupt für diesen Job. Auch wenn ihr euch das jetzt vielleicht noch nicht vorstellen könnt, so seid ihr von unglaublicher Wichtigkeit! Nun folgt mir bitte und lasst mich euch die Anlage zeigen.»
Mit diesen Worten drehte sie sich herum und stiess das grosse Tor auf, das ins Innere des geheimnisvollen Hauses führte.
«Habt ihr eine Ahnung, wofür FWH stehen könnte?», fragte Daw.
«Vielleicht für Fantastische-Würstchen-Hotdogs.» Lisa kicherte, aber die anderen schauten sie nur verwirrt an.
«Entschuldige Lisa, aber was ist ein Hotdog?», wollte Margarethe wissen.
Lisa schaute zwischen den Zwillingen und dem Mädchen mit den Zöpfen hin und her. «Ihr wollt mir sagen, dass ihr nicht wisst, was ein Hotdog ist?»
Einstimmiges Kopfschütteln.
«Also, das ist ein Brot und dann macht man…»
Ein Räuspern liess Lisa verstummen. Als sie sich umdrehte, stand hinter ihr ein alter Mann und schaute sie an. Oder besser gesagt, seine Hände schauten sie an. In seinem Gesicht gab es nur einen riesigen Mund und eine krumme Nase, aber dafür waren auf seinen Handtellern zwei grosse, wässrige Augen, die die Kinder böse anschauten.
«Ins Gebäude mit euch, und zwar etwas plötzlich!», knurrte der grosse Mund.
Schnell drehten die Kinder sich herum und folgten der Gruppe durch das grosse Eingangstor in eine Eingangshalle hinein. Von dort aus liefen sie eine Treppe hinauf, wo die anderen Schüler standen und der Leiterin des FWH zuhörten.
«Die Schulzimmer, Unterkünfte und Aufenthaltsräume findet ihr auf der rechten Seite des Gebäudes. Die Stallungen und Trainingsplätze sind auf der anderen Seite des Hofes. Und merkt euch gut: Wehe, ich erwische einen von euch, der sich auf der linken Seite herumtreibt. Dort habt ihr nichts verloren!»
Mit diesen Worten ging die Dame eine weiter Treppe auf der rechten Seite nach oben und die Schüler folgten ihr.
«Na, was meint ihr, sollen wir nach links gehen?» Zac grinste frech.
«Das wäre eine äusserst schlechte Idee….» Margarethe drehte sich um und lief den anderen Schülern hinterher.
«Ach kommt schon. Da wird sicher nichts passieren!» Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er in dem Gang links. Lisa und Daw blieben alleine zurück.
Soll Lisa Zac in den verbotenen Teil des Hauses folgen, oder doch lieber zusammen mit Margarethe und den anderen Schülern nach rechts gehen?