«Wartet auf mich!»
Lisa war schon halb in den Gang hineingegangen, als sie plötzlich Margarethes Stimme hinter sich hörte. Das Mädchen hatte bemerkt, dass ihre neuen Freunde den anderen Weg genommen hatten und war ihnen hinterhergelaufen.
«Was macht ihr denn da? Hab ihr nicht gehört, was die Dame vorhin gesagt hat? Wir sollen da nicht hineingehen. Ich möchte keinen Ärger bekommen.»
«Ach komm schon. Das merkt gar niemand. Wir gehen nur ganz schnell hinein.» Entschlossen zog Lisa Margarethe an ihren Arm hinter sich her, in den düsteren Gang hinein.
Zu viert liefen sie immer weiter in das Labyrinth aus Gängen hinein. Bogen mal nach links und mal nach rechts ab, wo es eben gerade spannender aussah.
«Wow! Leute kommt schnell und seht euch das an!», rief Zac in diesem Moment und die beiden Mädchen beeilten sich, den Zwillingen hinterher zu laufen.
In dem Gang war das Licht schummrig und an den Wänden hingen lauter Bilder von Männern in Anzügen und Uniformen. Zac und sein Bruder Daw waren vor einer riesigen Glasscheibe stehen geblieben und starrten darauf, oder besser gesagt, dahinter.
Als Lisa und Margarethe bei den Zwillingen angekommen waren, konnte Lisa sehen, dass es die Scheibe eines riesigen Aquariums war. Dahinter schwamm ein Tier mit Tentakeln, auf denen überall gefährlich aussehende Hörner und Klauen wuchsen. Das tintenfischähnliche Wesen trieb reglos im Wasser, als ob es schlafen würde, aber die grossen Augen in der Mitte des Kopfes waren weit geöffnet.
«Meint ihr, das Ding ist tot?», wollte Zac wissen.
Daw schüttelte den Kopf: «Das glaube ich nicht. Ich denke, das Tier beobachtet uns.»
Margarethe trat hektisch einen Schritt nach hinten und umklammerte Lisas Arm.
«Lasst uns doch bitte weitergehen. Ich finde das Tier äusserst unpässlich.» Das Mädchen verzog das Gesicht und zu viert liefen sie weiter den Gang hinunter.
Nach ein paar Minuten bliebt Zac, der wie immer der Vorderste war, wie angewurzelt stehen.
Daw öffnete den Mund um zu fragen was los war, aber Zac hob einen Finger an die Lippen. «Hört ihr das auch?», flüsterte er.
Die anderen Lauschten in die Dunkelheit hinein. Zuerst hörte Lisa nichts, aber dann war da plötzlich ein Geräusch. Es klang, als ob jemand mit einem scharfen Gegenstand über Stein ritzen würde. Und das Geräusch wurde lauter.
«Was ist das?» Margarehtes Stimme zitterte, als sie ihre neuen Freude ansah.
Lisa schüttelte nur stumm den Kopf. Sie brachte keinen Ton heraus.
«Es kling wie Krallen. Krallen, auf einem Steinboden…» Noch während Daw die Worte aussprach, begriff er, was er gerade gesagt hatte. In seinem Kopf schien es zu rattern, aber er schaffte es nicht auszusprechen, was er dachte.
Zac sagte schliesslich, was seinem Zwillingsbruder nicht über die Lippen kam: «Da ist irgendetwas mit Krallen und es kommt auf uns zu…»
«Lauf! Lauft um euer Leben!» Lisa war aus ihrer Starre erwacht und zerrte Margarethe hinter sich den Gang entlang. Hinter sich hörte sie die beiden Jungen rennen.
Das Kratzen hinter ihnen wurde lauter.
Plötzlich kam Lisa schlitternd zum Stehen. Vor ihr teilte sich der Weg. Links und rechts bog ein Gang ab. «Leute, wisst ihr wo wir hin müssen?»
Nervös schüttelte Daw den Kopf. Zac zeigte nach rechts den Gang hinunter: «Lasst uns einfach diesen Weg nehmen.» Lisa nickte ihm zu und lief weiter, als Margarethe plötzlich rief: «Wartet! Das ist der falsche Gang.»
Die anderen drei drehten sich zu ihr um. «Der falsche Gang?», fragte Zac überrascht. «Woher willst du das wissen?»
«Später. Wir müssen weiter!» Mit diesen Worten rannte Margarethe den linken Gang entlang.
Die anderen zögerten nur einen Moment. Als sie ein lautes Brüllen hörten, machten sie sich so schnell sie nur konnten daran, Margarethe hinterher zu kommen.
Das Mädchen führte ihre Freunde sicher durch die verwinkelten Gänge und hielt erst an, als sie wieder auf dem Podest standen, wo sie sich vorhin von ihrer Gruppe getrennt hatten.
«Was war das gerade?», keuchte Zac völlig erschöpft. Die anderen schüttelten nur die Köpfe. Verschreckt gingen sie die Treppe nach oben und dann den Flur hinunter, den ihre Klasse genommen haben musste.
Gemeinsam gingen sie den Flur entlang und genossen das helle Licht, das durch die grossen Fenster hineinfiel.
«Sag mal Margarethe, wie hast du eigentlich gewusst, welchen Weg wir nehmen mussten?», fragte Lisa neugierig.
Das Mädchen mit den Zöpfen lächelte: « Ich habe bei jeder Abzweigung ein Blatt aus meinem Block auf den Boden fallen lassen.»
«Das ist voll krass!», staunte Zac. «Wie bist du darauf gekommen?»
«Ich habe einfach an Ariadne und ihren Faden gedacht. Aber weil ich keinen Fade hatte, musste ich etwas anderes nehmen.» Die anderen nickten beeindruckt.
Nach einer Weile hörten die Kinder Stimmen und bogen um eine Ecke. Dort stand ihre ganze Gruppe vor einem grossen Tor und plapperte wild durcheinander.
Als die Frau mit dem Dutt in dem grünen Kleid die vier sah, eilte sie zu ihnen hinüber.
«Kinder, wo wart ihr denn?»
«Äh… Margarethe ist hingefallen und hat sich am Fuss weh getan», flunkerte Lisa schnell. Die Frau sah zu Margarethe hinüber und diese hüpfte etwas hilflos auf einem Bein herum.
«Brauchst du einen Arzt?», fragte sie besorgt.
«Nein, nein, es geht schon wieder. Es tut fast nicht mehr weh, Madame», sagte das Mädchen schnell.
Die Frau nickte erleichtert. «Dann ist ja gut. Kommt mit. Es gibt gleich Mittagessen.»
Zusammen mit den anderen Kindern betraten sie den grossen Saal, in dem viel grosse Tische und lange Bänke standen. Schnell verteilten sich die Schüler im ganzen Raum und plapperten und lachten wild durcheinander.
Am oberen Ende des Saales, auf einer kleinen Bühne, stand ein Mann mit einem Bart und einem schwarzen Mantel. Es schaute zu den Kindern hinunter und beobachtete alles. Nach ein paar Minuten klatschte er schliesslich in die Hände und bat um Ruhe. «Liebe Schülerinnen und Schüler. Es freut mich sehr zu sehen, dass ihr alle gesund und munter seid. Ich bin Mr. Strodoff der Direktor des FWH. FWH steht für Fabelwesenheim. Wir kümmern uns hier um magische Geschöpfe und geben ihnen ein Zuhause. Mehr darüber werdet ihr morgen in eurer ersten Unterrichtsstunde erfahren. Aber jetzt wünsche ich euch erst mal einen guten Appetit!» Mit diesen Worten stieg der Mann von der Bühne hinunter und die Schüler reihten sich zur Essensausgabe ein.
Lisa spürte wie ihr Magen knurrte und fragte sich, ob es wohl Spaghetti mit Tomatensauce oder vielleicht sogar Pizza oder Pommes gäbe, aber leider wurde sie enttäuscht.
Als sie lesen konnte, was auf dem Schild stand, verzog sie angewidert die Nase.
«Menü 1: Rindenauflauf mit Moordressing. Menü 2: Tesorfilet mit Steinsuppe und Wildkräutern.»
Hilfesuchend drehte sie sich zu Margarethe um: «Weisst du was ein Tesor ist?»
Das Mädchen mit dem Zöpfen schüttelte nur den Kopf: «Ich will das beides nicht essen.»
«He, du da. Menü 1 oder 2?» Die Frau mit den kurzen Haaren, die für das Essen verantwortlich war, schaute Lisa fragend an.
«Na los, entscheide dich!»
Soll Lisa Menü 1, den Rindenauflauf mit Moordressing, oder doch das zweite Menü mit Tesorfilet, Steinsuppe und den Wildkräutern essen?