Der Mond erhellte nur einzelne Flecken des Waldbodens, währendem der Rest im Schatten lag. Schon seit Stunden stolperte Anna mühsam über Äste und Steine, auf der Suche nach ihrer besten Freundin. Leila war vorhin einfach davongerannt und hatte Anna alleine im Schatten der Schlossmauer stehen gelassen. Die Zweige knackten unter ihr, als die junge Frau plötzlich ein Schluchzen vernahm.
Als sie aus den Bäumen heraus auf die kleine, in Mondlicht getauchte Lichtung trat, sass Leila zusammengesunken im hohen Gras und ihre Schultern bebten, währendem sie mit sich selbst sprach. Es waren unverständliche Laute, eine Mischung aus Lachen und Schreien.
«Leila?» Vorsichtig trat Anna an das Mädchen heran, wagte es aber nicht, sie zu berühren.
Einen Moment lang war es still, bevor ein Kichern die Stille der Nacht durchriss. Aber es war nicht das glockenhelle Geräusch, dass Anna von ihrer besten Freundin gewohnt war, sondern ein Lachen so voller Verzweiflung, dass sie erschrocken zurückfuhr.
Langsam drehte Leila sich zu Anna herum und grinste sie an. Ihr Kleid war über und über mit Dreck und Blut beschmiert, wobei Zweiteres zweifellos von ihr selbst stammte. Rote Kratzer zogen sich über ihr ganzes Gesicht, über ihre Arme, ihr Dekolleté. Ein Blick auf die abgebrochenen Fingernägel und das Blut an Leilas Händen reichte, um zu wissen, wie es zu den Verletzungen gekommen war.
Der irre Glanz in den Augen der jungen Frau liess sie aussehen wie ein wildes Tier und als sie sich an den Haaren riss und zu schluchzen begann, ging Anna besorgt näher heran. Sie kniete sich vor Leila auf den Boden und nahm deren Hände in ihre.
«Leila? Alles in Ordnung bei dir?», fragte sie besorgt. Diese antwortete nicht.
Stattdessen stiess sie Anna von sich und erhob sich schwankend.
Sie blickte zum Mond, bevor sie sich wieder herumdrehte und Anna direkt anschaute. Ihr ganzer Körper zitterte und aus ihrer Miene sprach nichts weiter als purer Zorn.
Erschrocken über die Boshaftigkeit im Gesicht ihrer Freundin sprang Anna auf, um mit Leila auf einer Augenhöhe zu sein.
«Verdammt! Was ist eigentlich los mit dir?» Sie wurde wütend. Wieso führte Leila sich so auf. Es war doch bloss ein Kuss gewesen.
«Was los ist? Du fragst was los ist? Du bist schuld! Du bist an allem schuld!», schleuderte Leila ihr entgegen. Im nächsten Moment knallte es und die Frau starrte überrascht auf die Hand, mit der sie sich selbst geschlagen hatte.
«Nein, nein! Du bist nicht schuld! Vergiss was ich gesagt habe!» Erneut füllten Tränen ihre Augen.
«Ist das dein Ernst? Was soll das werden, wenn ich fragen darf?»
Leila krümmte sich, als ob sie schreckliche Schmerzen hätte. «Ich…ich kann das nicht. Ich kann das alles nicht!», schrie sie.
«Was kannst du nicht?» Anna konnte nicht verhindern, dass ein gewisses Mass an Hohn in ihren Worten mitschwang.
«Du. Ich kann das nicht mehr ertragen! Du machst mich wahnsinnig. Schau, was du mit mir anrichtest!»
Anna sah verwirrt aus. Sie hatte doch nichts getan, oder doch?
«Du darfst dir nicht die Schuld an dem geben», fuhr Leila flehend fort. «Du kannst nichts dafür, dass ich bin, wer ich bin!»
«Was auch immer du hast, du kannst immer mit mir reden und ich bin immer für dich da!»
Ein Lachen war die Antwort. Wie oft die Frau diese Worte doch schon gehört hatte. Wie oft die Lüge in ihren Ohren wiedergehallt war.
«Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt, was ich durchmache!» Leila schluckte schwer. «Ich…», sie schluchzte auf, «Du kannst dir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, so viel Hass und so viel Liebe zugleich für eine Person zu empfinden! In mir drin, da ist eine neue Seele entstanden. Eine Seele, in der Hass und Liebe so dich miteinander verwachsen sind, dass das eine nicht ohne das andere existieren kann…»
Jetzt weinte sie wieder, aber selbst in der Dunkelheit und trotz den Tränen konnte Anna den Glanz in den Augen ihrer Freundin sehen. Der Glanz des Wahnsinns.
Leila hob den Blick. «Es kann nur eine von uns geben. Wir beide zusammen, das kann ich einfach nicht. Du bist Schuld an allem! Und wenn ich je wieder normal leben will, dann darf es dich nicht mehr geben.»
Entschlossen trat Leila auf ihre Freundin zu und diese tat nichts weiter als dazustehen und zu versuchen die Informationen zu verarbeiten, die ihr durch den Kopf schossen.
Doch noch bevor die Dunkelhaarige ihr Ziele erreicht hatte, sank sie zu Boden.
«Nein, nein, NEIN! So darf es nicht sein. Ich muss gehen!»
Sie änderte abrupt die Richtung und wankte auf das andere Ende der Lichtung zu. Da, wo jenseits der Bäume die Schlucht lag, die so tief war, dass man von oben den Boden nicht sehen konnte.
«Leila! Bleib sofort stehen!» Anna war ihr hinterher gerannt und an Rande der Bäume stehen geblieben.
Leila drehte sich um. Sie lächelte.
«Danke! Danke für alles!»
Sie raffte ihr Kleid und ging bis an den Rand der Schlucht, wo sie sich ein letztes Mal zu ihrer besten Freundin umwandte. «Du hast meinem Leben einen Sinn gegeben, aber trotzdem warst du zum Schluss die, die meinem Leben den Sinn genommen hat.» Eine einzelne Träne rann ihr schimmernd aus dem Augenwinkel. «Ich liebe dich! Ich habe ich immer geliebt!»
«Leila, tu das nicht!» Annas Stimme war flehend, als sie vorsichtig auf die andere Frau zutrat.
«Es tut mir leid.»
Ein weiter Schritt in Richtung Leila.
«Ein Teil meines Herzens wird für immer die gehören!»
Noch ein Schritt. Mittlerweite trennte die beiden nur noch ein guter Meter.
Jetzt war Leilas Stimme nur noch ein Wispern: «Es tut mir leid.»
Dann liess sie sich nach hinten fallen.
Wie zarte Finger umwehte ihr Kleid sie, als sie rückwärts in die Tiefe stürzte.
«NEIN!» Mit einem Schrei brachte Anna den letzten Meter bis zum Rand der Schlucht hinter sich und streckte ihre Hand nach Leilas aus.
Diese lächelte Anna bloss an und ihre Lippen formten ein einziges Wort, bevor die Dunkelheit sie verschluckte.
Lebe!