Eine Frage beschäftigt mich. Auf den ersten Blick ist es eine einfache; Welcher Mann ist glücklicher? Der Mann, der in einer Zwangsjacke am Boden liegt oder der andere - ohne Jacke - der direkt daneben steht und an den Gitterstäben rüttelt?
Mein erster Gedanke war, es müsse doch der an den Gitterstäben sein. Er hat noch seine Bewegungsfreiheit, er kann stehen und gehen, wie und wohin er will. Er kann sich dazu entscheiden seine Hände zu benützen, um an den Gitterstäben zu rütteln. Er nutzt seinen freien Willen dazu dort zu stehen und fest entschlossen zu demonstrieren. Aufzuzeigen, zu schreien, sich bemerkbar zu machen. Auch wenn die Gitterstäbe ihn endgültig beschränken, er hat doch seine Freiheit im Käfig.
Andererseits... Den Käfig wird er nie verlassen. Ob er das weiß? Ob er verdrängt, dass es so sein wird? Dass egal, wie sehr er sich IN dem Käfig bewegen kann, er niemals außerhalb des Käfigs sein wird? Oder ist es ihm gar bewusst, dass er dort bleiben wird und versucht sich mit seinem schreienden Freiheitsdrang etwas zu beweisen? Oder will er gar den Wärtern zeigen, dass sie keine Macht über ihn haben, da sie ihm scheinbar seine Freiheit nicht nehmen konnten?
Und dennoch... so wird er sich seine Finger an den Stäben blutig rütteln und nichts wird sich ändern. Er wird treten und schimpfen, und doch bleiben wo er ist. Gefangen bei den Gitterstäben, unfähig von dort wegzutreten, weil ihn sein Schicksal bindet. Der Zwang, Freiheit zu suchen und zu demonstrieren kettet ihn an die Gitterstäbe, der Freiheit am nächsten. Er ist im Käfig unter Gefangenen ein Gefangener. Ein Sklave des Freiheitsdrangs.
Ganz anders verhält sich der Mann in der Zwangsjacke, der am Boden liegt. Still und ruhig ist er geworden. Abgeschlossen mit dem Schicksal. Ein trauriges Bild. Jedoch, so scheint es, schimmert unter dem Gesichtsausdruck des Gefesselten viel öfter ein Lächeln hervor, als unter dem des Kämpfenden an den Gitterstäben. Nachdem sein Schicksal besiegelt ist, scheint es ihn nicht mehr zu belasten. Den Kopf hat er frei für andere Dinge. Kleine Dinge. Dinge, die ihm Freude bereiten. Selbst wenn er seine Hände nicht mehr benutzen kann, kann er üben mit den Füßen und mit dem Mund zu arbeiten und sich jeden Tag über Fortschritte im Können zu erfreuen. Dinge wie Freiheit belasten ihn nicht, selbst wenn er die Jacke sprengt steht er vor den Gitterstäben des Käfigs. Er muss nichts mehr denken. Er kann denken, was er will. Je länger ich dieses Bild betrachte, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass der Mann mit der Zwangsjacke freier ist, als der an den Stäben. Sein Willen zwingt ihn zu nichts. Er muss nichts tun, außer leben. Um nichts kämpfen. Ein freier Mann. Ohne Schicksal, Zwang und ohne Vorbestimmung frei.
Dann aber wieder zurück zum Mann an den Stäben. Er kämpft einen bitteren Kampf, jeden Tag vergebliche Müh. Sisyphus lässt grüßen. Und trotzdem! Trotz der Schwielen an seinen Händen, trotz des Schweißes, trotz des fehlenden Fortschritts, so kämpft er. Denn er hat einen Traum: Freiheit. Möglicherweise nicht nur für sich. Er weiß, dass er für etwas Größeres da ist. Es erfüllt ihn, dafür zu leiden. Für sich genommen weiß er, dass er das "Richtige" tut. So steht er mit glühenden Augen da und verliert mit Freude stets den Kampf für das Einzige, was er begehrt. Somit ist ihm seine eigene, selbst gewählte Unfreiheit die größte Freiheit, die er sich wünschen könnte.
Der Mann am Boden wiederum hat kein Ziel. Er weiß nicht, wofür er zu leben hat, er tut es einfach. Sollte ihm eines Tages, während seiner Zehen- und Mundübungen der Gedanke kommen, für was er denn lebe, so wird er aufs dramatischste erschüttert. Für nichts. Er hat nichts wofür er leben könnte. Der Alltag geht nicht unter, wenn er nicht mehr ist. Er ist ersetzbar und wertlos geworden. Sogar für sich selbst. Somit ist er im Alltag frei, aber tot im Inneren.
Der Mann an den Stäben ist im Alltag gebunden, aber lebendiger denn je. Kampf bis in den Tod. Blut bis zum Erbrechen. Ja, das ist Siegeslust, das ist das pure Leben. Und dann ist da nur mehr eine Frage: Was, wenn er das erreicht? Was, wenn die Gitterstäbe brechen und er in die Freiheit wankt? Gehen kann, wohin er will? Er wird laufen und rennen, sehen wo er bleibt, tun wovon er in seiner Gefangenschaft geträumt hat und erzählen, wofür er gelebt hat. Nur dann wird die Euphorie abflauen. Und er wird ein normaler, freier Mann unter freien Männern sein. Und beginnen sich leer zu fühlen. Er war ein Freiheitskämpfer. Er hat getan, was nötig war, unter allen Umständen, um jeden Preis. Nur was, wenn jetzt nichts mehr nötig ist? Was tun? Wofür kämpfen? Was ist ein Soldat ohne Schlacht, ein Krieger ohne Krieg? Der Krieger in ihm ist tot. Er begreift, dass sein Kampf für die Freiheit ihn lebendig gemacht hat und die Freiheit sein Ende ist. Nun verflucht der freie Mann die Freiheit und wünscht sich seine verbluteten Gitterstäbe zurück, weil sie das waren, was er in seiner Freiheit gewählt hatte. Und die Freiheit hat ihm das einzige genommen, was er wollte; für sie zu kämpfen.
Nun, wenn auch dem Gefangenen mit der Zwangsjacke seine Fesseln genommen werden, was dann? Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und glaubte ans Sterben, wenn es gegangen wäre, hätte er sich selbst beseitigt. Nun hat er seine Hände wieder und könnte es tun. Doch er zögert. Er muss es nicht. Es ist seine Wahl. Er bemerkt, dass er mit seinen Händen mehr tun kann, als nur sich selbst zu vernichten. Er bemerkt, dass er die Wände seines Käfigs viel besser erkunden kann, ohne Zwangsjacke. Er macht Dinge, die er vorher nicht konnte. Die Stäbe stören ihn nicht, er kannte sie, als er in der Jacke steckte und die Jacke war sein einziges Gefängnis. Nun ist er frei. Er kann seine Hände benutzen und ist unglaublich geschickt mit Füßen und Mund geworden. Außerdem sprüht er vor Energie, denn er hat sein eigenes Leben verschont und weiß, was er damit anfangen kann. Er kann leben. Er ist voller Energie und Tatendrang im einzigen Raum, den er kennt. Er hat von der einen Grenze zur anderen gefunden und sie verstanden. Er hat gelernt, was er lernen kann, wenn er seine Grenzen akzeptiert und das Beste aus den kleinen Dingen macht. Er hat wahre Freiheit gefunden und kann das Leben genießen. Und er kann sich in seiner Freiheit dazu entscheiden gegen die Gitterstäbe zu kämpfen.
Und nun ein letztes Mal zu unserem inzwischen freien Mann. Wo er frei in seiner freien Welt ist und nicht mehr weiß, was er tun will oder soll. Niemand sagt es ihm und niemand versteht ihn. Es macht ihn verrückt. Sein normaler Alltag ist der, den er im Käfig hatte, nur ohne Willen, ohne Drang zur Freiheit. Es ist dasselbe nur schlechter. Er erklärt es seinen neuen Freunden. Sie verstehen ihn nicht. Der freie Mann beschließt in seiner Freiheit durchzudrehen, da es ihn stört, dass ihn die anderen belächeln oder nicht ernst nehmen. Schlussendlich holt man ihn ab um ihn mit Zwangsjacke in einen Käfig zu bringen.