Severus drehte sich noch einmal um, bevor er den Krankenflügel verließ. Das widerliche Geräusch des spuckenden Kindes zwang ihn zum Innehalten. Ohne größer darüber nachgedacht zu haben, murmelte er einen leichten Heilzauber. Dann erst ging er. Natürlich mangelte es ihm in diesem Moment an Konsequenz. Er erlaubte sich diesen Augenblick der Schwäche, wie sich andere eine kleine Praline erlauben. Die Magie legte sich zärtlich über Harry, der sofort Erleichterung spürte. Er trank einen weiteren Schluck Wasser. Der schlechte Geschmack in seinem Mund verschwand. Sein aufgewühlter Bauch beruhigte sich. Dann schlief er ein.
Der Zwischenfall hatte sich gegen 10:00 Uhr ereignet. Am späten Nachmittag um 17:00 Uhr wachte Harry endlich auf. Er erinnerte sich natürlich an die Dummheit, die er begangen hatte. Leise zog er sich an und benutzte einen kräftigen Frischezauber. Wenigsten ein bißchen erfrischen wollte er sich, bevor alles über ihm zusammenbrach. Natürlich musste er sich sofort bei Severus melden. Bestimmt hatte der Tränkemeister seine Eltern bereits über den Diebstahl informiert. Traurig trottete Harry den Korridor in Richtung von Severus Quartier. Dieses Mal gab es keine Ausreden mehr. Lucius würde ihn wegschicken. Ein Mitglied der Familie Malfoy stahl nicht. Wo sollte er denn dann hin? Er hatte doch niemanden außer den Malfoys. Er fühlte sich hundeelend und reagierte nicht einmal auf einen dämlichen Kommentar von Ronald Weasley, der ihm entgegen kam. Vielleicht könnte er ja doch auf Malfoy Manor bleiben und die Hauselfen bei der Arbeit unterstützen. Eventuell würden die Malfoys dem zustimmen. Er war doch fleißig und konnte viele Hausarbeiten. Außerdem könnte er dann manchmal mit Draco reden. Allerdings brauchten die Hauselfen keine Hilfe.
Oder er konnte seinen Paten bitten, ihn vorrübergehend aufzunehmen. Dauerhaft konnte er dort auch nicht bleiben. Nicht einmal Sirius Black würde jemanden bei sich haben wollen, der klaute.
Harry stand vor Severus Tür und klopfte ängstlich an. „Ja, bitte.“, erklang Severus Stimme neutral. Wie befürchtet saß Severus in seinem Sessel und sah ihn sehr ernst an. „Setz´ Dich bitte.“, sagte der Professor deutlich. „Ich habe auf Dich gewartet.“ Nervös nahm Harry auf der Sofakante Platz. Die reine Angst und ehrliche Reue standen ihm auf der Stirn. Zunächst fragte Severus zu Harrys Überraschung: „Hast Du schon etwas gegessen?“ Der Junge schüttelte den Kopf. Er hatte das Gespräch direkt hinter sich bringen wollen. Severus hatte damit gerechnet.
Der Lehrer klatschte nach einem Hauselfen, der kurz darauf mit etwas Tee und trockenen Butterkeksen wiederkam. „Iß erst einmal ein paar Kekse.“ Natürlich sorgte er sich um den Jungen, der noch immer schmächtig wirkte. Draco dagegen hatte einen deutlichen Wachstumsschub hinter sich gebracht. Er war jetzt etwas größer als sein Bruder. Schüchtern und ungläubig nahm Harry ein appetitlich duftendes Gebäck. Er kaute schweigend darauf herum und trank brav mit Honig gesüßten Fencheltee. Seine Scham wuchs immer weiter. Severus war so freundlich zu ihm, und was tat er? Onkel Vernon hatte recht gehabt, Harry war nichts als ein nutzloser Freak. „Warum hast Du mich nicht einfach gefragt, ob Du die Zutaten nehmen kannst?“ Die Enttäuschung von Severus war unüberhörbar, was daran lag, dass der erfahrene Manipulator sie mit Absicht durchscheinen ließ. Harry redete leise: „Ich wollte nicht, dass Du merkst, dass ich nicht richtig mitkomme.“ „Das Du nicht richtig mitkommst?“ Der Lehrer stutzte. Harrys Notenspiegel wies ein ausgesprochen einheitliches Bild auf. Außer in Verteidigung gegen die Dunklen Künste stand Harry durchgängig auf Ohnegleichen.
Lucius, Mr. Eleven und er sprachen die Ergebnisse von Testaten und Übungen jeden Woche durch. Die beiden Jungs hatten nur selten mal ein „Erwartungen übertroffen“. „Ich bin immer müde und habe oft Kopfschmerzen. Sie kommen immer so plötzlich in der Großen Halle, in den Korridoren oder in VgddK. Damals im Verbotenen Wald hatte ich sie auch. Dann kann ich gar nicht richtig denken.“ Severus Erwartung hatte sich erfüllt: die Jungen leisteten, was immer von ihnen gefordert wurde und schienen vollkommen überfordert. Er blieb dennoch kühl. „Hast Du das erste Mal jemanden bestohlen?“ Wenn es möglich gewesen wäre, wäre Harry noch röter geworden. Wahrheitsgemäß antwortete er: „Nein, das habe ich schon öfter gemacht.“ Severus Herz setzte einen Takt aus. Seine Miene zeigte kein Gefühl: „Wen, wie oft und warum?“
Lange starrte Harry die Butterkekse an. Der erfahrene Lehrer hielt das Schweigen aus. Nach einiger Zeit fragte er nach: „Harry?“. „Ich habe heimlich Geld aus Tante Petunias Börse genommen…“, stockend redete er weiter. „Drei oder viermal 2 Pfund genommen. Davon habe ich mir im Supermarkt bei der Grundschule diese eingeschweißten Würstchen gekauft, weil Onkel Vernon mir verboten hat, etwas zu essen. Beim Bäckerstand im Geranienweg habe ich mal einen Muffin gestohlen.“ Severus vermied es einen Moment lang, in Harrys ängstliche Augen zu blicken. Aus purem Hunger hatte sich das Kind das Stehlen angewöhnt. Das war verständlich, konnte aber so nicht weitergehen.
„Es tut mir leid, Severus. Bitte sag Mum und Dad nichts davon. Sie schicken mich dann weg.“ Der Junge weinte nicht, weil er wusste, dass der Lehrer dies nicht gutheißen würde. Severus hatte längst vergessen gehabt, dass er zu Mitleid fähig war. Umso überraschter war er, als er dieses Gefühl tief in sich aufglimmen fühlte. „Lucius und Narzissa werden Dich nicht wegschicken. Trotzdem bestiehlt man keine Freunde und Familienmitglieder. Die Dursleys kann man nicht als Familie zählen. Du kannst Draco, Lucius, Narzissa, Sirius und mich jederzeit fragen, wenn Du etwas brauchst. Niemand ist Dir dann böse. Aber wenn Du uns bestiehlst, sind wir böse und sehr enttäuscht. Gegen Deine Kopfschmerzen gebe ich Dir den Trank der klaren Gedanken. Ich habe immer ein paar Phiolen auf Vorrat – ein gutes Mittel. Wenn er nicht hilft, kommst Du zu mir. Und Du bekommst folgende Strafe. Du wirst die nächsten zwei Wochen in Zaubertränke mit Ronald Weasley zusammenarbeiten, damit Du Deine Privilegien zu schätzen lernst. Auch die Hausaufgaben für Zaubertränke wirst Du mit ihm gemeinsam machen.“ Die Strafe fiel ausgesprochen milde aus, wenn man davon absah, wie wenig sich die Jungs verstanden.