Die bildschöne Schneeeule, die seinem Patenkind Harry gehörte, rieb sich sacht an Sirius. Er steckte ihr gedankenverloren einen Eulenkeks zu. Er brauchte eine eigene Eule, stellte er fest. Er hielt den Brief wie einen kostbaren Schatz in den Händen und öffnete nervös das Siegel. Harry hatte ihm geschrieben. Er gab Hedwig einen weiteren Eulenkeks aus der Dose am Fenster. Die Keksdose füllten die Hauselfen regelmäßig nach, weil er durch den juristischen Kram viele Eulen mit noch mehr Papier bekam. Harry benutzte tatsächlich ein eigenes Siegel, das er von den Malfoys bekommen hatte. Narzissa hatte es eigens für ihn entwickelt, während Draco das Familienwappen als Siegel verwendete. Sie sagte dazu, man dürfe Harrys leibliche Eltern nicht in Vergessenheit geraten lassen.
Im Hintergrund des Siegelbildes dominierte ein mächtiger Phönix. Davor hatte die Künstlerin das Malfoy-M platziert. Die Initialen HP schienen von den Bögen des starken M beschützt. Der Potter-Phönix – ein vertrauter Anblick, der Sirius gut tat. Das Siegel spiegelte die Situation des Jungen perfekt wieder. Es gefiel Sirius, dass die Erinnerung an Lily und James darauf verewigt worden war. Die Handschrift auf dem Pergament bewies, wie viel Harry schrieb. Man konnte sie mit Fug und Recht als für einen Elfjährigen ausgeschrieben bezeichnen. „Hallo Sirius, wie geht es Dir? Mir geht es gut und Draco auch. Wir fahren bald zusammen in die Jagdhütte. Leider kennt Draco keine Marshmallows. Könntest Du welche in Muggellondon besorgen? Dann rösten wir sie über dem Feuer. Herzliche Grüße, Dein Harry.“ Muggelsüßigkeiten zu einem Ausflug mit den Malfoys mitzubringen: die Idee hätte auch von Sirius selbst stammen können. Allerdings vermutete er, dass Harry die Ironie an der Sache nicht verstand. Selbstverständlich würde er die Marshmallows beschaffen und die Gelegenheit nutzen, in Little Whinging vorbeizuschauen.
Er vermisste sein Motorrad sehr. Es stand noch immer bei Rubeus Hagrid, mit dem er keinen Kontakt aufgenommen hatte. Bisher hatte er mit niemandem aus dem Phönixorden Kontakt aufgenommen. Er empfand die Lage einfach als zu unübersichtlich. Wer Freund und wer Feind war, ließ sich derzeit nicht genau sagen. Also blieb Sirius Black vorsichtig. Wenn ein übler Todesser sein Patenkind beschützte und seine angeblich besten Freunde es verraten hatten, musste er nötigenfalls die Seiten wechseln. Man hatte ihn zwar aus dem Familienstammbaum gesprengt, aber er war noch immer ein Black. Die Blacks waren flexibel und anpassungsfähig. Vor allem aber schützten sie, wen immer sie liebten. Hedwig hackte ungeduldig gegen seine Hand. Sie wartete auf den Antwortbrief. Er schrieb: „Hallo Harry. Klar besorge ich Draco und Dir Marshmallows. Bei mir ist auch alles gut. Ich freue mich auf unseren Ausflug. Liebe Grüße, Dein Sirius.“ Er wollte den Jungen nicht mit schwülstigem Zeug überschütten, damit hätte er in diesem Alter auch nichts anfangen können. Obwohl es noch fast zwei Wochen bis zum Ausflug waren, brach er sofort nachdem er Hedwig zurückgeschickt hatte, nach Muggellondon auf.
Ron kehrte niedergeschlagen und wütend in den Gryffindorturm zurück. Den gesamten Samstag zur Strafarbeit und mal wieder Punkte verloren. Potter! Dieser Junge ging ihm noch mehr auf den Geist als sein genauso verwöhnter Bruder. Er spielte sehr gut Quidditch, hatte sehr gute Noten und bekam alles, was er sich wünschte. Früher hatten Rons Eltern oft von den Potters erzählt, das taten sie übrigens immer noch. Dann hatte er sich vorgestellt, wie cool es sein müsste, mit Harry Potter zusammen im Haus Gryffindor - wo denn sonst - zur Schule zu gehen. Er hatte sich vorgestellt, mit Harry Potter befreundet zu sein und tolle Abenteuer zu erleben. Aber der Junge-der-lebt nervte nur.
Er traf Hermine, das Mädchen mit dem schneeweißen Pferdegebiss, im Gemeinschaftsraum. Sie setzte an, ihm gehörig die Meinung zu sagen, weil er schon wieder Punkte für Gryffindor verspielt hatte. Müde sagte er zu ihr, wie seine Zwillingsbrüder gelegentlich zu ihrer Mutter, „Jaja. Du hast recht.“ Dann ließ er sie stehen und huschte die Treppe zu seinem Schlafsaal hinauf. Wenn man den Raum genau betrachtete, konnte man den Eindruck haben, dass genau ein Bett zu wenig hier stand. Direkt gegenüber von Rons weichem, kuscheligem Bett blieb ein eigenartiger, leerer Platz. Dieser Platz hatte genau die Größe eines Schülerbettes. Manchmal spekulierten seine Zimmergenossen und er darüber. Einmal hatte Seamus Finnigan im Scherz gesagt: „Da fehlt das Bett von Harry Potter. Der Junge-der-lebt gehört doch logischerweise nach Gryffindor.“ Sie rollten sich vor Lachen über den Boden. Ausgerechnet Potter, Snapes verwöhnter Streberliebling, sollte nach Gryffindor gehören. Eigenartig erschien ihm nur, dass Potter im Prinzip nicht unsympathisch war. Selbst einige Gryffindors, wie zum Beispiel Hermine oder Neville, mochten ihn. Er selbst hatte Potter bei ihrem ersten Zusammentreffen bei Heiler Summers auch gemocht.
Er legte sich auf sein Bett, schnappte sich „Quidditch im Wandel der Zeiten“ und vertrödelte den Beginn seiner Strafarbeit.
Währenddessen stellte Professor Snape seinen Privatschülern gemeinsam mit Mr. Eleven das neue Konzept für den Zusatzunterricht vor. Der Wechsel von freien Wochenenden und weniger Unterricht wurde dezidiert mit der Notwendigkeit erläutert, auch andere Erfahrungen zu machen. Aus diesem Grund war heute auch ein Viererschach aufgebaut. „Weißt Du eigentlich mittlerweile, was der Slytherinzug beim Zauberschach ist?“, fragte Harry seinen Bruder, der frustriert den Kopf schüttelte. Der Hauslehrer von Slytherin schien genau der richtige Ansprechpartner, für diese Frage zu sein. Professor Snape verkniff sich ein Lächeln. „Der Slytherinzug kann tatsächlich nur von einem Mitglied des Hauses Slytherin gewählt werden, allen anderen Spielern ist er verschlossen. Ich zeige ihn Ihnen später mal. Erst einmal sollten Sie auf andere Art und Weise gewinnen lernen.“ Hermine fand es schwierig, sich auf dem mehrseitigen Spielfeld zurechtzufinden. Professor Snape zeigte ihr geduldig, wie sie sich auf dem Feld orientieren konnte und ihren Spielpartner Marcus unterstützen. Marcus und Hermine schlugen nach leichten Startschwierigkeiten Harry und Draco haushoch, was die beiden Jungs nicht störte. Als die Figuren nach der ersten Partie wieder Aufstellung nahmen, schickte Professor Snape einen Hauselfen los, um Ronald Weasley zu finden. Hermine ahnte Schlimmes für die Hauspunkte und die Jungs feixten ein bißchen.