Das Wochenende erfüllte seinen Zweck, dachte Lucius zufrieden. Auch Severus und Sirius empfanden deutliche Zufriedenheit. Die Gründe für diese Zufriedenheit jedoch lagen bei jedem der Männer etwas anders. Sirius sah in erster Linie, dass vor allem Harry aufgeblüht war. Der Junge erholte sich und hatte an dem Ausflug erkennbar viel Spaß. Überhaupt empfand der frühere Gefangene von Askaban Erleichterung, dass es Harry bei den Malfoys so gut ging. Tatsächlich hatte er nicht damit gerechnet, Lucius Malfoy überhaupt einmal fürsorglich und empathisch zu erleben. Dieser eisige Mann kümmerte sich geradezu rührend um einen Waisenjungen, den die gesamte Zauberwelt im Stich gelassen hatte.
Vielleicht stand Malfoy auf der dunklen Seite, dachte Sirius an jenem kühlen Herbstmorgen in der Jagdhütte. Ganz gewiss tat Lucius das. Aber Sirius erinnerte sich an einen Filmausschnitt aus einem Muggelfilm, den er kürzlich beim Besuch in einem Elektronikfachmarkt, er besuchte solche Orte aus purer Neugier, mitbekommen: „Dumm ist wer, wer Dummes tut.“ Das hatte eine Figur gesagt, die sich Forrest Gump nannte. Der Typ, der den Satz gesagt hatte, erinnerte Sirius in gewisser Weise an Rubeus Hagrid. Wenn derjenige dumm war, der Dummes tat, war dann nicht auch derjenige böse, der Böses tat. Daraus folgte doch in letzter Konsequenz auch, dass derjenige gut war, der Gutes tat. Sirius kam zu dem Schluss, dass es durchaus möglich sein konnte, Lucius Malfoy als guten Menschen zu sehen. Irgendwie seltsam, schloss Sirius seine Überlegungen mit dem Gedanken ab, aber ja Lucius Malfoy war ein guter Mensch.
Wesentlich seltsamer, als Sirius seine eigenen Überlegungen vorkamen, fand Severus Snape die Tatsache, das Wochenende freiwillig mit einem Rumtreiber zu verbringen. Er verbrachte seine Freizeit mit Sirius Black. Wer dachte sich denn so etwas aus? Was Lily wohl dazu gesagt hätte, dass sich Severus und Black demnächst in Hogwarts ein Zimmer teilten? Lily, mit den wunderschönen roten Haaren und den laubgrünen Augen und dem glockenhellen Lachen, wäre sicher froh zu sehen, wie gut man sich jetzt endlich um ihren kleinen Sohn kümmerte. Noch immer begriff der kluge Tränkemeister nicht, weshalb man dieses Kind von Seiten des Lichtes, wenn man den überhaupt so triviale Betrachtungen, wie Licht und Schatten einführen wollte, lange Zeit im Stich gelassen hatte. Wie konnte Albus Lilys Sohn, der hätte von Anfang an als Prinz der Magie aufwachsen sollen, übel im Stich lassen? Severus kehrte mit seinen Gedanken zurück zu Lily. Ein unvergleichlich warmes Lächeln glitt über die stets strengen Züge. Vielleicht waren die Streitigkeiten aus seiner Teenagerzeit längst banal geworden. Vielleicht spielte es keine Rolle, ob Black ein Löwe war oder eine Schlange. Vielleicht wurde es wirklich Zeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche lag klar vor ihm. Egal was geschehen sollte, er wollte Harry und Draco beschützen. Außerdem mussten sie lernen, sich selbst zu beschützen. Denn eines Tages würde Voldemort zurückkehren und an diesem Tag sollten sie alle darauf vorbereitet sein.
Ein verfrühter Herbstsonnenstrahl kitzelte an Dracos Nase. Widerwillig drehte der junge Zauberer sich noch einmal um, vergrub die Nase tief in sein Bett und seufzte. Ausgeschlafen – was für ein wunderbares Gefühl. Überhaupt Draco fühlte sich glücklich an diesem Morgen. Ein ganzes Wochenende ohne Hausaufgaben oder übermäßiges Üben entspannte ihn sehr. Es gab ihm Kraft für die Zeit bis zu den Weihnachtsferien. Zumindest hoffte der Junge das. Einschlafen konnte er trotz der Decke bis über die Nase nicht mehr. „Harry?“, fragte er leise. Als der nicht antwortete, weil er draußen auf der Terrasse arbeitete, krabbelte sein blondhaariger Bruder entschlossen aus dem Bett. Er stiefelte ins Bad, machte sich frisch und gelte seine Haare. Warum bei Merlin hielten Harrys Haare eigentlich nie? Draco verstand es einfach nicht. Sie konnten Tonnen an Haargel hineintun, trotzdem stand es immer wieder strubblig ab.
Harry saß noch immer in sein Buch vergraben, als Lucius zu ihm hinaus in den Morgen trat. „Guten Morgen, Harry.“, sagte Lucius mit dieser Seidenstimme, die für seine Liebsten vorbehalten war und eben für Harry. Der Junge legte das Buch aus der Hand. Strahlend dreht er sich zu dem Mann um, der der einzige Vater war, den er kannte. „Guten Morgen.“, grüßte er zurück. „Du bist wieder fleißig heute Morgen. Vielleicht legst Du das Buch noch ein bisschen zur Seite. Draco habe ich schon im Bad gehört. Was hältst Du davon, Dich auch rasch fertig zu machen. Dann machen wir drei Malfoys einen kleinen Spaziergang vor dem Frühstück. Hier gibt es etwas Spannendes zu entdecken. Allerdings müssen wir sehr leise sein und uns ein bisschen beeilen.“ Für Entdeckungen konnte sich Harry schon immer begeistern. „Okay, Dad.“
In Nullkommanichts huschte er durchs Bad, schlüpfte in seine wetterfeste Outdoorkleidung, schnappte sich den noch nicht völlig agilen Draco und erschien mit selbigen wieder auf der Terrasse. Lucius hinterließ bei Scone eine Nachricht für die beiden anderen Erwachsenen. Mit deutlicher Macht legte er einen Lautlosigkeitszauber über sie drei. Zielstrebig glitt er mit den Kindern über einen selten genutzten Pfad tief in den Wald, der das Grundstück umgab.
Die Atmosphäre knisterte geradezu vor Magie. Die Kühle des Oktobers schien nicht bis zu der Lichtung vorgedrungen zu sein, die sie nach einiger Zeit erreichten. Im Gegenteil hier blühten zarte Anemonen, Märzenbecher und andere Frühlingsblumen wie Krokusse. Schon allein dies erstaunte die Jungs mitten Oktober sehr deutlich. Dieser Ort hatte sich über die Jahrhunderte mit reiner Magie aufgeladen. Draco, der hatte gerade zu murren beginnen wollen, sah fasziniert auf seinen Zauberstab, der von sich aus zu leuchten begann. Sein Stab fühlte sich warm an. Die Magie floss durch den Zauberstab in den jungen Zauberer, schenkte ihm Kraft und Mut. Lucius lächelte, denn genau das hatte er erwartet. Geduldig wartete er mit den beiden Knaben. Die Stunde war perfekt und der Tag gut gewählt. Sie brauchten nur etwas Geduld und dann kamen sie tatsächlich. Sie lösten sich aus den Nebeln, erfüllten diese Lichtung mit märchenhaftem Zauber und ihrem Segen.