Nora
Als ich in der Mittagspause in die Mensa komme, beginne ich sofort Amalia zu suchen. Während ich meinen Blick durch die Gesichter der Schüler schweifen lasse, fällt mir rauf, dass mehr als die Hälfte auf ihre Handydisplays starrt. Automatisch runzele ich die Stirn, als ich bemerke, dass die meisten scheinbar dieselbe App zu nutzen scheinen. Zu meiner Verwunderung scheint das, was sich auf dem Display befindet, noch interessanter zu sein als das Essen, was vor ihnen steht. Was kann denn so interessant sein, dass man sein Essen ignoriert? Dieser Gedanke ist für mich völlig befremdlich.
Da ich Amalia nicht finde, schließe ich einfach mal, dass sie noch gar nicht hier ist und stelle mich an der Essensausgabe an. Schließlich soll nicht alles weg sein, bevor ich mich dazu entscheide mich anzustellen.
Während ich in der Schlange anstehe, ziehe auch ich mein Handy aus der Tasche, um zu schauen, ob meine beste Freundin mir vielleicht geschrieben hat. Allerdings gehe ich davon nicht aus, da sie sicher während des Unterrichts mit irgendeinem Typen zu flirten begonnen hat und nun nach der Stunde nicht von ihm ablassen kann. Typisch Amalia eben. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Amalia und ich sind wirklich von Grund auf unterschiedlich. Doch genau das ist es, was wir aneinander so mögen und was unsere Freundschaft ausmacht. Außerdem kennen wir uns schon seit unserer frühen Kindheit und können uns ein Leben ohne die jeweils anderen nicht mehr vorstellen.
Und tatsächlich habe ich wirklich keine Nachricht von ihr. Deshalb stecke ich mein Handy wieder in meine Hosentasche.
Wenige Sekunden später bin ich dann auch an der Reihe und halte meine Mensakarte über den Scanner. An unserer Schule hat jeder so eine Karte, die man jeden Monat mit ein paar Dollars auflädt und damit in der Mensa dann das Essen zahlen kann. Für mich ist da echt praktisch, da ich mein Essensgeld sonst immer für irgendwelche Süßigkeiten, anstatt für eine echte Mahlzeit, ausgebe.
Der Scanner piept einmal und ich gehe weiter zu der Stelle, an der eine Küchenhilfe gerade dabei ist mein Essen mit einer riesigen Schöpfkelle auf meinen Teller zu befördern. Sobald dieser fertig beladen ist, reicht sie ihn mir über die Theke hinweg: "Guten Appetit." "Danke, schönen Tag noch", ich nehme das Essen entgegen und mache mich auf den Weg zu einem Tisch, an dem noch zwei Stühle frei sind.
Nach einer kurzen Suche finde ich Plätze, die genau meinen Anforderungen entsprechen und lasse mich auf einen der beiden fallen. Wenigstens hat Amalia dadurch auch einen Platz, wenn sie noch kommen sollte.
Als ich halb aufgegessen habe, lässt sich auf einmal jemand auf den Stuhl neben mir fallen. "Hey, Nor", Amalias Stimme ertönt neben mir. "Na", begrüße ich sie direkt, während ich meine Spaghetti auf die Gabel aufrolle: "Hast du nach Stundenende noch ein wenig geflirtet?" Erst sieht sie mich fragend an, als würde sie nicht wissen, was ich meine, doch dann schüttelt sie schnell den Kopf: "Nein, mein Lehrer hat mich wieder mal dazu verdonnert alleine die Tafel zu putzen und zu fegen." Ich erinnere mich daran, dass sie gerade Physik hatte – wir kennen den Stundenplan der jeweils anderen auswendig. An sich hat sie mit dem Fach ja keine Probleme, doch schon nach der ersten Doppelstunde hat sie sich bei mir über den Lehrer beklagt. Wenige Stunden später waren wir uns dann beide sicher, dass er sie auf dem Kieker hat.
"Na gut, da kann ich dann doch ein Auge zudrücken", ich will mir gerade die Gabel in den Mund schieben, da umfasst meine beste Freundin meine Hand und isst mir die Portion vor der Nase weg. "Hey", ich sehe sie teils vorwurfsvoll, teils schmollend an. "Das waren Mitleidsnudeln", sie grinst mich entschuldigend an. Dadurch macht sie es mir nicht einfach ernst zu bleiben: "In Ordnung. Dafür bekommst du dieses Mal mein Mitleid. Dein Lehrer hasst dich nämlich wirklich." "Ja, das ist mega unfair. Ich habe dem doch gar nichts getan", beginnt sie sich zu beschweren. "Typisch Lehrer eben", stimme ich ihr zu: "Die meisten von denen brauchen eben immer einen Sündenbock unter den Schülern. Er hat sich wohl für dich entschieden." "Tja, Karma is a bitch", sie zuckt mit den Schultern. Innerlich habe ich genau das Gleiche gedacht, es aber lieber nicht gesagt. Wenn sie schlecht gelaunt ist, sollte man solche Sprüche lieber lassen.
Plötzlich vibriert Amalias Handy und sie zieht es hervor, um die eingegangene Nachricht zu checken. Ich rolle mit den Augen: "Was haben heute eigentlich alle mit ihren Handys?" Ich klinge mehr als resigniert.
Nicht nur als ich in die Mensa gekommen bin, sondern schon auf den Fluren ist mir aufgefallen, dass nahezu jeder mit seinem Smartphone in der Hand herumläuft. Zwar ist das an sich nichts Ungewöhnliches, doch heute scheint es noch schlimmer zu sein als sonst.
"Alle spielen 'Passion & Romance'", erklärt sie mir wie selbstverständlich. Als ich darauf aber nur fragend schaue, fügt sie noch eine Erklärung hinzu: "Die neue App von Bryan." "Im Ernst?", frage ich ungläubig. Zwar habe ich damit gerechnet, dass bestimmt ein paar Leute die App herunterladen würden, doch von einem so großen Anklang bei den Schülern bin ich nicht ausgegangen.
"Ja, du solltest dir das Spiel auch runterladen", versucht sie mich zu überzeugen: "Mir macht es bisher Spaß und dir würde es sicher auch gefallen." "Woher willst du das wissen?", äußere ich mich bedenklich. "Ich kenne dich einfach", sie sieht mich ernst an: "Versuch es doch wenigstens. Wenn es dir wirklich keinen Spaß macht, kannst du ja jederzeit aufhören."
Ich lege den Kopf nachdenklich schief, seufze dann aber nachgiebig: "Hörst du auf mich zu nerven, wenn ich es jetzt mache?" "Vielleicht", sie sieht mich verschmitzt grinsend an. Mit den Augen rollend, ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Ich weiß genau, dass sie mich mit dem Thema immer öfter bedrängen wird, wenn ich es jetzt nicht mache.
Ich öffne den Link und lade die App herunter ohne mir dazugehören Informationen durchzulesen. Die Ladezeit ist zum Glück verhältnismäßig kurz, was mir meine Internetflat dankt. Sobald das Herunterladen beendet ist, klicke ich, auf Amalias Drängen hin, auf das neue Icon. Es lädt erneut für wenige Sekunden, doch dann poppt ein Anmeldeformular auf.
Erst zögere ich kurz, doch dann beginne ich das Formular auszufüllen. Zuerst soll man seinen kompletten Namen angeben. Erneut machen sich Zweifel in mir breit. Möchte ich wirklich, dass jemand durch diese App intime Dinge über mich erfährt? Amalias ermutigender Blick veranlasst mich allerdings dazu die geforderte Information einzugeben. Schließlich hat sie recht. Wenn ich es später doch nicht mehr will, kann ich einfach aufhören.
Mein Geburtsjahr, mein Geschlecht und meine Sexualität sind die nächsten Angaben, die machen muss. Auch die Option ein Bild einzufügen nehme ich wahr. Allerdings entscheide ich mich dagegen eines von mir selbst zu nehmen und wähle stattdessen das Foto einer Schauspielerin, das ich irgendwann mal runtergeladen habe. Bilder von mir selbst nutze ich für sowas nie.
Sobald ich meine Anmeldung beendet habe, erscheint der Schriftzug 'Sucht...' auf dem Display. "Muss ich jetzt warten?", hake ich nach. Amalia wirft einen kurzen Blick auf mein Display und nickt dann: "Ja, aber wahrscheinlich nur kurz. Bei mir waren es nur einige Sekunden. Kommt halt darauf an, ob sich gerade noch jemand anderes angemeldet hat." "Na gut", ich will mein Handy gerade auf den Tisch legen, um zu sehen, wenn ein Partner gefunden wurde, da vibriert es bereits.
Ich werfe einen verwirrten Blick auf das Display, wo nun 'Es wurde ein Partner gefunden' steht. Mit überraschter Miene drücke ich auf 'Okay'. Der Blick auf den Namen meines Partners eröffnet sich mir.