Anna war ihm bis auf das Gestüt gefolgt, sie hatten kein einziges Wort seitdem Beginn ihres gemeinsamen Weges gesprochen. Hier blieb sie stehen, die Gedankenkreisel drehten sich zu sehr, sie war immer mehr vertieft und nun klebte sie förmlich am Boden fest.
„Ähm Anna, willst du da festwachsen?“, sprach Andreas sie an, der mit seinem Pferd aus der Stallbox kam.
„Was? Nein… Nein! Ganz bestimmt nicht.“, schnell versuchte sie sich zu fangen. Erst jetzt merkte sie, das Andreas Pferd gesattelt war und sie vor dem Stall mit den Pferdeboxen stand. Andreas konnte nicht widerstehen sie zu mustern, doch diesmal zu unverhohlen, das es ihr auffallen musste.
„Was?!“, fragte sie energisch.
Er lächelte keck „Nichts, ich sehe nur keinen Unterschied zu deinem gestrigen Outfit."
„Typisch Mann, gestern trug ich ne Bluse und andere Hose. Heute einen Hoodie.“, belehrte Anna ihn, „Was ist damit?“
„Nichts.“, flüchtete sich Andreas.
„Bin ich dir nicht hübsch genug?“, erwiderte Anna mit gespielter Schnippigkeit.
„Ich finde, du bist immer hübsch.“, gestand Andreas ehrlich.
Das war aufrichtig, entwaffnend und herzlich. Das Blut schoss in Anna Kopf so unfassbar schnell, dass sie problemlos mit er langsam untergehenden Sonne mithalten konnte. Andreas schaute die sonst so schlagfertige Anna belustigt an, sie war unendlich süß. Auch sein Gesicht schien in ein Abendrot zu gehen. „Steig auf.“, lenkte er vom Thema ab. „Bitte was?“, Annas Augen wurden groß und Verwirrung war ihr ins Gesicht geschrieben. Erst richtete sich ihr fragender Blick an Andreas, dann zum Pferd und dann wieder zu Andreas. „Hoch jetzt.“, meinte dieser mit gespieltem Ernst. Er setzte sich hinter Anna, als er nach den Zügeln seines Pferdes griff, berührten sich ihre Hände leicht. Ein Kribbeln ging durch Annas Körper. Wohlig prickelnd hinterließ es eine Gänsehaut, die sich gut anfühlte. Der schwarze Hengst trabte langsam los, doch Annas Herz schien einen Galopp zu führen. War es zu hören? Würde das etwas ändern? Je mehr sie sich fragte, desto stärker schlug ihr bebend Herz. Es war zum verrückt werden! Sie musste sich beruhigen. Ruhig bleiben, es konnte alles sein und alles passieren.
*
Sie ritten in Richtung des Waldes, welche nach jedem Meter dichter und tiefer wurde. Es war fast wie im Märchen, dachte Anna und versetzte sich wieder in ein neues Rot. Hier und da durchbrach die Sonne das Blätterdach, doch der Wald lag vielerorts dunkel. Was hatte Andreas vor?
„Wohin reiten wir?“, fragte sie leise, so als hätte sie Angst, die Ruhe des Waldes zu stören.
„Das erfährst du noch.“, erwiderte er geheimnisvoll und ebenso leise wie ihre Frage.
Hinter einer kleinen Anhöhe eröffnete sich ein malerisches Tal, welches vom Wald umgrenzt war. In diesem Tal lag ein See, von kristallblauem Wasser an dessen Rand sich Schilf und Weiden verbanden. Die rote Abendsonne erleuchtete das glatte Wasser und verzauberte das Gebiet in eine Zauberwelt. Annas Augen wurden größer und größer, doch viel bezeichnender ein kleiner Funken in ihnen leuchtete auf. Andreas bemerkte, wie sehr ihr dieser Ort gefiel und es beruhigte ihn. Er lächelte sanft. Er sprang galant vom Pferd und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. Anna durchzog ein Schauer aufgrund der eher intimen Berührung, doch kein Schauer von Abwehr, es war ein Schauer von wohligem Gefühl. Sie konnte ihm nur ein Lächeln entgegenbringen und legte eine vorwitzige Strähne hinter ihr Ohr.
„Darf ich dir hinab helfen?“, fragte Andreas mit melodischer Stimme. Röte glitt in ihr Gesicht und versiegelte ihre Lippen, sie konnte nur nicken. Er legte nun auch seine zweite Hand auf ihren anderen Oberschenkel, was ebenfalls ein wohliges Kribbeln bei ihr auslöste. Seine Hände glitten zu ihrer Hüfte und behutsam hob er sie vom Pferd. Es hätte ruhig länger dauern können, fand Anna. Als ihre Füße den Boden erreichten, fühlten sich ihre Knie an, als wären sie aus Butter geformt. Sie blickten sich stumm in die Augen, der Wind tänzelte um sie herum. Langsam bewegte er sich auf sie zu und schloss seine Augen. Plötzlich erschien in Annas Kopf eine Warnsirene, so laut, dass sie alles tun würde, was diese von ihr verlangen würde, um sie zum Schweigen zu bringen. Eine Mauer bildete sich, ihr Vertrauen, dass schon einmal das Herz aus freien Stücken gab, war noch zu verletzt und so aktivierte sich ihr Selbstschutz. Nie wieder verletzt werden!, als dieser Blitz durch ihre Glieder zuckte, war es bereits geschehen. Sie schubst Andreas von sich – mit aller Kraft. Andreas wusste gar nicht, wie ihm geschah, er stolperte und landete unsanft im Kiesbett des Teichs. Für einen Moment schaute er zornig zu Anna. Was sollte das?, wollte er ihr entgegen fauchen, doch da stand sie und er sah, dass es ihr schlecht ging. Ein innerer Kampf tobte in Anna, die Gefühle für Andreas gegen die Ängste, welche Tim in hier hinterlegt hatte. Wer würde gewinnen? Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken, Andreas hatte das nicht verdient. Sie hatte den Moment ruiniert. Sie keuchte und brach in Tränen aus. Sie schluchzte wild und alles was sie rausbringen konnte, war ein schmerzliches: Es tut mir leid. Andreas verstand die Welt nicht mehr, doch sie brauchte jetzt seinen Beistand! Er begab sich also wieder aus dem Wasser und hockte sich zu ihr, diesmal eine Berührung verzichtend. Tausend Fragen schossen durch seinen Kopf, hatte er was falsch gemacht? Warum weinte sie? Wie konnte er ihr helfen? Das Häufchen Elend, dass schluchzend vor ihm niederkniete, würde sie ihm nicht beantworten. Andreas konnte nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen. Immer wieder wimmerte Anna das es ihr Leid täte und sie den Moment ruiniert habe. Sie reagierte nicht auf seine Worte und so entschied Andreas zu warten und bei ihr zu bleiben, bis es ihr besser ging. Als die Sonne im Begriff war den Horizont zu verlassen, regten sich in Anna neue Kräfte und sie konnte ihr Wimmern überwinden. Sie spürte seine Nähe und sie tat ihr gut, doch war diese Mauer wieder aufgebaut. Sie fiel, aber sie fiel nicht schnell genug. Er würde sie nicht hetzten, aber Anna wollte das sie fällt.
„Andreas…?“, fragte sie still mit schuldbewusster Stimme.
„Ja?“, fragte er leise aber mit sanftem Ton.
„Ich glaube, ich bin nicht gut für dich.“, traurig und voller Schmerz blickte sie in seine Augen.
„Das glaubst du doch selber nicht.“, erwiderte er den Kopf schüttelnd. „Nein, tu ich nicht, aber ich habe den Moment ruiniert.“
„Dann treffen wir uns eben hier so oft bis du ihn mal nicht ruinierst.“, entgegnete Andreas mit einem leicht schelmischen Grinsen. Dabei drückte er sie noch fester an sich und ihr Kopf betetet sich auf seinen Brustkorb. In dieser Haltung traute sie sich über alles zu sprechen was sie belastete, dass ihr erster Freund sie betrogen hatte und als sie das herausfand ihm den Laufpass gab. Doch damit war der Horror erst an seinem Anfang, der äußerst beliebte Schüler vertrug es nicht, dass ihn jemand zurückwies und so organisierte er Hetzkampagne um Hetzkampagne gegen Anna. Es wurde immer schlimmer und ihre Mutter wusste nicht, wie sie der Sache noch Herr werden sollte und schickte sie zu ihrer Tante. Es dauerte lange, bis Anna die ganze Geschichte erzählt hatte, Andreas hetzte sie nicht und dankte für ihr vertrauen. Sie war zu lieb und es tat ihm weh, dass sie so hatte leiden müssen.