„Ah, vielen Dank, Sèrha! Was würde ich ohne dich nur tun?“
Die ältere Dame nahm mit einem freundlichen Nicken die Einkäufe entgegen, die Sèrha ihr in einem Weidenkorb reichte. Diese winkte lächelnd ab.
„Nicht doch! Es zählt immerhin zu meinen Aufgaben, anderen ein wenig zur Hand zu gehen!“
„Dem mag so sein, aber leider ist das nicht selbstverständlich, bei Weitem nicht! Ich meine, ich möchte ja wirklich nicht tratschen, aber als ich letztes Mal Schwester Aiovhà um Hilfe gebeten habe, sagte sie mir lediglich, dass ich jemanden dafür bezahlen sollte! Kannst du dir das vorstellen?“
Sèrha lächelte verlegen.
„Nun, sie ist ein wenig… speziell, aber sie meint es nicht so.“
Die Dame schnaubte.
„Na, wenn du das sagst. Wie dem auch sei, ich möchte dich nicht länger von der Arbeit abhalten, du wirst gewiss noch anderes zutun haben, als die belanglosen Wünsche einer alten Frau zu erfüllen! Ah, aber bevor du gehst, habe ich noch eine Kleinigkeit für dich...“
Sie drehte sich zu dem kleinen Holzschränkchen um, öffnete die Klappe und holte eine unscheinbare Papiertüte heraus, die sie der jungen Frau reichte. Sèrha schob das Papier ein wenig beiseite, um einen Blick auf den Inhalt erhaschen zu können – es handelte sich um kandierte Früchte und Zuckerkekse.
„Das ist doch wirklich nicht nötig!“, sagte sie sogleich, freut sich insgeheim aber sehr über die Süßigkeiten.
„Ich bestehe darauf – du tust wirklich viel für mich und ich möchte, dass du weißt, dass ich das sehr wertschätze. Da fällt mir ein: Wie geht es dir eigentlich? Ich meine, ich möchte dir wirklich nicht zu nahe getreten, aber nachdem ich von diesem schrecklichen Vorfall in der Zeitung gelesen und gehört habe, dass du ebenfalls vor Ort gewesen warst....“
Sèrhas Lächeln blieb unbewegt.
„Seien Sie unbesorgt, mit mir ist alles in Ordnung. Ich meine, ich habe es ja bloß am Rande mitbekommen und war nicht direkt darin verwickelt...“
Die alte Dame nickte mitleidig.
„Den Göttern sei Dank. Eine wirklich schreckliche Geschichte – ich möchte nicht wissen, was dieser Soldat wohl gerade so alles durchmacht – in den Zeitungen wird der arme Junge ja regelrecht zerrißen! Kennst du ihn eigentlich, Sèrha?“
Sie verneinte – und selbst wenn dem nicht so wäre, so würde sie es nicht unbedingt an die große Glocke hängen wollen. Sie nickte der Dame zum Abschied zu, verließ die Wohnung und trat dann hinaus, ins Freie. Dort wurde sie von der warmen Nachmittagssonne und dem süßen Duft der Blumen, die in den ordentlich gepflegten Vorgärten angepflanzt waren, begrüßt. Ihr Konvent befand sich ganz in der Nähe. Es war ein sehr ruhiges, überwiegend von der Mittelklasse bewohntes Viertel am Rande der Kaiserstadt Siance. Alles wirkte sehr ordentlich, die Gegend war behütet und sicher, kein Vergleich zu vielen anderen Bezirken der Stadt.
Die Schwestern – auch Cha'rha genannt - , die dem Orden der strahlenden Wächterin angehörten, eine Gemeinschaft, die sich Cerithnè , der großen Göttin des Krieges, der Stärke und des Schutzes, widmete, waren in der Nachbarschaft wohlbekannt und gerne gesehen. Die Anwohner, die Sèrhas Weg kreuzten – Hausfrauen, die sich in ihren Gärten um die Wäsche kümmerten, älteren Herren, die die Straßen pflegten und Gehwege kehrten, Passanten, die, beladen mit Einkäufen, auf dem Nachhauseweg waren – grüßten sie freundlich, verwickelten sie in kleine Gespräche, erkundigten sich nach ihrem Befinden. Kleine Gesten und Freundlichkeiten, die Sèrha gerade im Moment sehr schätzte.
Der Konvent befand sich am Ende der Straße. Es war ein sehr altes Gebäude, welches schon vor der Schaffung des Vorortes bestanden hatte. Es war vergleichsweise klein, wurde von einem weitläufigen Garten, in dem die Schwestern Gemüse, Obst und Blumen anpflanzten, umgeben. Ein hoher Zaun aus inzwischen recht rostigen Eisen trennte es ab, bot, gleich einer Barriere, ein wenig Ruhe vor der weltlichen Hektik.
Schon seitdem Sèrha denken konnte, hatte sie in diesem Anwesen gelebt. Schon mehrmals war ihr angeboten worden, in das majestätische Hauptgebäude ihres Ordens umzusiedeln, welches sich in der Innenstadt, unweit des kaiserlichen Palastes und der pompösen Tempel befand, doch sie hatte dies stets ausgeschlagen. Sie betrachtete den Konvent als ihr Zuhause, schätzte die Ruhe und Geborgenheit, die er ihr bot, aber auch die Gesellschaft ihrer Schwestern, von denen sie nicht wenige von Kindesbeinen an kannte.
Sie trat durch das offenstehende Tor, strebte auf das ebenfalls angelehnte Eingangsportal zu. Drinnen, im Innenhof, wurde sie bereits von Vhésa begrüßt, die, mit einem großen Korb voll schmutziger Wäsche beladen, in Richtung Waschkeller eilte. Genau wie Sèrha trug auch sie eine schlichte, cremefarbene Robe, um ihren Hals baumelte eine Kette mit jenem Anhänger, der sie als Angehörige ihres Ordens kennzeichnete – ein stilisiertes Auge, ein Schwert und ein Schild, die drei Symbole der Göttin Cerithnè . Vhésa war eine sehr große Frau – sie überragte Sèrha, die sich gewiss nicht als klein bezeichnen würde, um gut einen Kopf. Das braune Haar reichte ihr knapp bis zu den Schultern, war glatt und glänzend, ihre Augen dunkel, freundlich. Ursprünglich stammte Vhésa aus dem Süden Es'Cerias, hatte dort lange Zeit in einem der großen Tempel Cerithnès gedient, ehe sie sich vor nun gut sieben Jahren dazu entschlossen hatte, sich in dem kleinen Konvent niederzulassen. Inzwischen war sie Mitte dreißig, knapp zehn Jahre älter als Sèrha und um einiges erfahrener, gelassener, wofür diese sie durchaus bewunderte.
„Ah, gut, dass du wieder da bist, Sèrha! Sía hatte schon Angst, dass du zu spät zum Nachmittagstee kommst...“
Sèrha grinste gequält; sie kannte Síarèth schon lange genug um zu wissen, dass dieser Pünktlichkeit und geregelte Essenszeiten heilig waren – und nicht so lebensmüde, um den Zorn ihrer Schwester willentlich auf sich zu ziehen.
„Eigentlich hatte ich schon vor einer guten Stunde zurück sein wollen, aber du weißt ja, wie es ist – man trifft unterwegs auf alle mögliche Leute, verquatscht sich oder muss warten... Das Übliche, eben“, sagte sie, während sie sich daran machte, einige verlorene Wäschestücke vom Boden aufzusammeln und in den Korb zurückzulegen. „Doch ich bin nicht ohne Tribut zurückgekehrt – Frau Somhaìr hat mir Süßigkeiten mitgegeben!“
Vhésa kicherte.
„Na, das wird Sía bestimmt milde stimmen! Wie dem auch sei, ich muss noch geschwind die Wäsche wegbringen - geh' du doch schon einmal in die Küche.“
Sèrha musterte den Kleiderberg wehmütig.
„Wer hat denn heute Waschdienst?“
„Aiovhà, was also bedeutet, dass diejenige, die das nächste Mal dran ist, doppelte Arbeit haben wird.“
„Wundervoll...“
Sèrha hoffte, dass dieses Los nicht ihr zufallen würde – wenn sie etwas hasste, dann Waschen. Andererseits dürfte sie, wenn sie bedachte, wie die Dinge momentan standen, vom Großteil der anfallenden Verpflichtungen vorerst verschont bleiben.
Nachdenklich durchquerte sie den sonnigen Innenhof, strebte auf die das hohe, breite Portal des Hauptgebäudes zu. Der dahinterliegende Korridor war düster, ausgestattet mit hohen Decken und mit dunklem Holz verkleidete Wände. Die Gaslampen, die die Oberin nach langen Diskussionen endlich Anfang des Jahres hatte installieren lassen, brachten ein wenig Licht in den fensterlosen Gang. Sèrha konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie sich in ihrer Kindheit stets davor gefürchtet hatte, alleine durch den Korridor zu gehen – besonders nachts hatte sie regelrecht damit gerechnet, jeden Moment einem Gespenst oder Monster zu begegnen. Besonders Aiovhà hatte sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit darüber lustig gemacht, was Sèrha zu jener Zeit ziemlich geärgert hatte.
Die Küche war da schon um einiges freundlicher und einladender. Genau wie der Rest des Klosters war auch sie in die Jahre gekommen und veraltet, doch genau dies machte ihren Charme aus - und wenigstens gab es inzwischen fließendes Wasser und eine Gasleitung, was wollte man also mehr?
Der Duft von frisch gekochten Kaffee erfüllte die Luft, durch die hohen, ausladenden Fenster strömte das Licht der warmen Nachmittagssonne ein. Síarèth hatte es sich bereits auf der Eckbank am gedeckten Küchentisch bequem gemacht, studierte mit gerunzelter Stirn die Tageszeitung. Zwar gab es selbstverständlich auch einen größeren Speisesaal, doch nun, da der Konvent derzeit nur noch von vier Schwestern und der Oberin bewohnt wurde, zogen diese es vor, in der kleineren, um einiges gemütlicheren Küche zu essen.
Zwar war Síarèth nicht die älteste oder erfahrenste der Schwester, doch wann immer die Oberin nicht anwesend war, betrachtete sie es als ihre Pflicht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Sie war eine recht konservative junge Frau, verbarg das blonde Haar unter einem der dünnen Schleier, die die Ordensleute in der Vergangenheit stets getragen hatten.
„Und? Steht etwas Interessantes drin?“, fragte Sèrha, während sie sich zu Síarèth an den Tisch gesellte.
Diese schüttelte den Kopf.
„Eher nicht – nur die üblichen Probleme. Schiffe, 'Skandale' irgendwelcher Leute, von denen man noch nie zuvor etwas gehört hat, die neusten Aufführungen im Lichtspieltheater...“
Sèrha beugte sich vor, erhaschte einen Blick auf die Titelseite der Zeitung. Dann verdrehte sie die Augen.
„Kein Wunder, wenn du bloß solche Klatschblätter liest! Warum kaufst du dir nicht zur Abwechslung einmal eine vernünftige Zeitung?“
„Aiovhà bringt die andauernd an und ich sehe es nicht ein, noch zusätzlich Geld auszugeben... Aber egal.“
Mit einem Seufzen faltete sie die Seiten zusammen, legte sie beiseite. Dann erhob sie sich, ging zum Herd, um das inzwischen kochende Wasser in die vorbereitete Teekanne zu schütten.
„Du hast auch Kaffee gekocht“, bemerkte Sèrha schließlich, deutete auf die bereits auf dem Tisch stehende Kanne. „Wie kommt es zu dieser seltenen Ehre?“
Síarèth zuckte mit den Schultern.
„Es ist in letzter Zeit viel passiert und ich dachte mir, dass wir uns zur Abwechslung auch einmal etwas Gutes gönnen sollten...“
„Da sprichst du mir aus der Seele! Apropos Gutes – Frau Somhaìr hat mir Kekse und kandierte Früchte mitgegeben.“
„Hoffentlich die Kekse mit den Blaubeeren!“
Sèrha und Síarèth schauten zur Küchentür, richteten ihre Aufmerksamkeit auf Aiovhà und Vhésa, die nun ebenfalls den Raum betraten.
Aiovhà war in Sèrhas Alter – zwei Jahre jünger, wenn man es genau nahm. Die beiden kannten sich schon seit ihrer frühsten Kindheit, waren zusammen im Schutze des Konvents aufgewachsen. Im Prinzip war Aiovhà für Sèrha das, was einer wirklichen Schwester am nächsten kam, auch wenn der Umgang mit ihr oftmals alles andere als einfach gewesen war. Aiovhà war klein und zierlich, hatte haselnussbraunes, lockiges Haar und aufgeweckte, graue Augen. Sie legte sehr viel Wert auf eine modische Erscheinung, gab das Taschengeld, welches den Schwestern im Monat frei zur Verfügung stand, gerne für Kleidung und Schmuck aus – weswegen sie schon des Öfteren mit Síarèth hintereinander gekommen war. Recht oft hatte Sèrha, die sich zwar nicht als unförmig, jedoch zweifelsohne als wenig elegant bezeichnen würde, ihre Schwester um ihre Figur und das hübsche Gesicht beneidet.
„Zuckerkekse, aber das sollte auch in Ordnung sein, oder?“
„Hm, ja, damit können wir leben.“
Aiovhà nahm auf der Eckbank Platz, griff, ohne auf die anderen zu warten, in die Papiertüte, die Sèrha auf den Tisch gelegt hatte. Vhésa schlug die Hand weg.
„Wir fangen erst an, wenn alle am Tisch sind! Wirklich, manchmal hast du Manieren wie ein kleines Kind!“
„Was denn? Ich möchte mir nur schon einmal meine Portion sichern, ehe Sèrha alles vertilgt!“
Vhésa seufzte.
„Du bist unmöglich...“
„Aber so ist sie nun einmal, unsere Aiovhà“, bemerkte Síarèth trocken und platzierte die Teekanne auf dem Holzuntersetzer, den sie zuvor auf den Tisch gelegt hatte.
Als dann endlich alle Platz genommen und sich Tee oder, in Sèrhas und Vhésas Fall, Kaffee eingeschenkt hatten, kehrte wieder ein wenig Ruhe in der Küche ein. Aiovhà vertilgte sichtlich zufrieden ein Keks nach dem anderen, während Sèrha Vhésa und Síarèth dabei lauschte, wie sie sich über die geplanten Steuererhöhungen austauschten.
Es waren solche Augenblicke, die sie ganz besonders schätzte. Ein ruhiger Nachmittag im Kreise ihrer Freunde und Liebsten, jener Menschen, die sie als ihre Familie betrachtete, fernab der Hektik, die das Leben außerhalb des Konvents mit sich brachte. Besonders in ihrer frühen Jugend hatte sie oft darüber nachgedacht, zu gehen, irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen, doch dies waren wahrscheinlich in erster Linie Fantasien eines unreifen Mädchens gewesen.
„Die Oberin hat dich ab morgen doch von deinen Verpflichtungen freigestellt, nicht wahr?“, richtete Aiovhà dann schließlich das Wort an Sèrha. „Was hast du denn vor? Möchtest du hier bleiben und auf der faulen Haut liegen oder nicht doch lieber eine Weile verreisen?“
Als Sèrha dies hörte, spürte sie, wie eine unangenehme Hitze in ihr aufkam; sie senkte den Blick, starrte in ihre Tasse. Vhésa seufzte.
„Manchmal bist du einfach nur taktlos, Aiovhà!“, tadelte sie die jüngere Frau. „Eigentlich solltest du doch wissen, wie sehr dieser Vorfall Sèrha getroffen hat!“
Síarèth nickte zustimmend.
„Da hat Vhésa wirklich recht. Es hätte auch genauso gut dich treffen können, weißt du?“
Aiovhà verdrehte die Augen.
„Du meine Güte, so, wie ihr redet, könnte man meinen, dass Sèrha hier das große Opfer wäre! Ich meine, sie war ja noch nicht einmal direkt darin verwickelt...“
„Was nichts daran ändert, dass auch sie vor Ort gewesen war“, hielt Vhésa dagegen. „Das, was sie hatte mitansehen müssen, war schon schlimm genug – mach‘ du es mit deinen Bemerkungen daher bitte nicht noch schlimmer, ja?“
Was wahrscheinlich kaum noch möglich war. Dieser Vorfall lag zwar nun schon knapp drei Wochen zurück, doch wann immer Sèrha die Augen schloss, war ihr so, als würde sie diesen furchtbaren Tag nochmals durchleben. Sie hatte sich so sehr darum bemüht, ihren Pflichten trotz allem noch nachzukommen, was ihr im Großen und Ganzen auch einigermaßen gelungen war, doch letztendlich hatte auch sie einsehen müssen, dass sie eine Auszeit brauchte, am besten irgendwo auf dem Land, fernab von Siance. Sie war gestresst, unkonzentriert, brauchte Zeit, sich zu sammeln und innere Ruhe wiederzufinden.
Aiovhà winkte ab.
„Ja, ja… Tut mir Leid...“
In diesem Moment erklang die Türglocke und brachte das Gespräch zum Erliegen, worüber Sèrha wirklich dankbar war, riss es sie immerhin aus ihren trüben Gedanken.
„Erwartet ihr noch jemanden?“, fragte Sèrha, was mit einem kollektiven Kopfschütteln beantwortet wurde.
Vhésa erhob sich von ihrem Stuhl.
„Ich gehe schon...“
Mit diesen Worten verließ sie den Raum, ging zum Eingangsportal und öffnete dieses. Wenige Momente später hörte sie rasch lauter werdende, zusätzliche Schritte, die darauf hinwiesen, dass Vhésa den Gast offenbar hineingebeten hatte. Als dieser dann schließlich auch die Küche betrat, fühlte sich Sèrha so, als würde sie aus allen Wolken fallen. Rasch sprang sie auf, verbeugte sich nervös.
„Hohepriesterin Sórhia! Was für eine freudige Überraschung!“
Auch Síarèth und Aiovhà wirkten äußerst überrascht, verneigten sich ebenfalls.
„Wahrlich eine unerwartete Ehre! Bitte, setzt Euch doch!“, begrüßte Síarèth Sórhia. „Dürfen wir Euch einen Tee oder einen Kaffee anbieten?“
Dabei sie Aoivhà einen auffordernden Blick zu, die sich sofort erhob, um eine weitere Tasse zu holen.
Die Hohepriesterin lächelte freundlich.
„Eine Tasse Kaffee wäre wundervoll, vielen Dank.“
Hohepriesterin Sórhia war das Oberhaupt des Ordens, dem Sèrha angehörte. An sich hatte sie mit ihr eher wenig zu tun, hatte bestenfalls an hohen Festtagen oder zu besonderen Anlässen das ein oder andere Wort gewechselt, doch Sèrha hatte sie als sehr freundliche, angenehme und vor allem gerechte Person kennengelernt. Sie war eine recht kleine und eher unscheinbare Frau Anfang fünfzig, die stets in die kunstvollen Gewänder der hochrangigen Priester gekleidet war. Das allmählich ergrauende Haar verbarg sie unter einem dunklen Schleier, auf ihrer Nase saß eine Brille.
Mit einem Nicken nahm sie Síarèth die gefüllte Kaffeetasse ab, fügte noch eine ordentliche Portion Zucker und Sahne hinzu.
„Ich muss sagen, dass ich euren kleinen Stift immer wieder sehr gerne besuche“, begann sie fröhlich und ließ ihren Blick demonstrativ durch die Küche schweifen. „Hier ist es stets so ruhig und friedlich, kein Vergleich zu der Hektik, die wir im Tempel tagtäglich erleben. Eure Oberin ist wohlauf, hoffe ich?“
Vhésa nickte.
„Ja, heute morgen ist sie nach Mhinoué gefahren, um Priesterin Mièthra ein wenig zur Hand zu gehen. Morgen wollte sie allerdings wieder zurückkehren. Wir bedauern es, dass Ihr mit uns Vorlieb nehmen müsst, Hohepriesterin – was können wir denn für Euch tun?“
Sórhia rückte ihre Brille zurecht.
„Nun, tatsächlich bin ich euretwegen hier – Sèrha wegen, um genau zu sein. Eure Oberin hat mir gesagt, dass du sie dich deiner Pflichten auf unbestimmte Zeit entbunden hat – zurecht, wenn man bedenkt, was du in den letzten Wochen durchmachen musstest. Selbstverständlich ist es auch mir nicht Recht, dich so zu überfallen, besonders in Anbetracht dessen, dass du dir eine Auszeit redlich verdient hast, doch diese Sache ist zu wichtig, als dass wir sie aufschieben könnten....“
Je mehr sie hörte, desto unruhiger wurde Sèrha. Wenn es die Hohepriesterin für notwendig erachtete, sie persönlich aufzusuchen, dann musste es sich um eine wahrlich bedeutsame Angelegenheit handeln.
Sórhia sprach weiter.
„Wie du selbstverständlich auch schon mitbekommen hast, ist die Ná‘charyia gerade dabei, ihre Präsenz in den Kolonien zu verstärken und den dort lebenden Menschen die Lehren unserer Götter nahezubringen. Der Erfolg ist momentan noch relativ durchwachsen, doch zumindest auf Cé‘rhias können wir bis dato recht gute Resultate aufweisen. Nachdem ich mich letzte Woche mit dem Priesterrat und den kaiserlichen Beratern kurzgeschlossen habe, sind wir zu der Entscheidung gekommen, dass es sehr förderlich wäre, auch Vertreter unseres Ordens nach Cé‘rhias zu schicken. Sowohl die ursprünglichen Bewohner, als auch unsere Landsleute, die sich dort eine neue Existenz aufbauen, sollen sehen, dass unsere gütige Göttin Cerithnè ihre schützende Hand über sie hält!“
Vor knapp fünfzehn Jahren hatte Es‘Ceria nach einer langen Periode der Zurückhaltung damit begonnen, seine Kolonialbestrebungen auszuweiten. Cé‘rhias, eine relativ große Insel im nordwestlichen Meer, war vor gut zehn Jahren in das Kaiserreich eingegliedert worden und aufgrund der wunderschönen Landschaft und der exotischen Güter, die es dort zu ersteigern gibt, in letzter Zeit zu einem sehr beliebten Reise- und Auswanderungsziel geworden.
„...Also geht es darum, dass Ihr auf der Suche nach einer Abgesandten seid?“, fragte Aiovhà begierig.
Sórhia nickte mit einem vielsagenden Lächeln.
„Ich werde euch wahrscheinlich nicht sagen müssen, dass der fünfte kaiserliche Prinz, Seine Hoheit Prinz Anri'thàn, schon seit einigen Jahren ein wichtiger Unterstützer und Gönner unseres Ordens ist. Er möchte in genau einer Woche nach Cé‘rhia reisen und es ist sein Wunsch, dass du, Sèrha, ihn begleitest und ihm bei seinen Bestrebungen zur Hand gehst.“
Sèrha lief sogleich knallrot an. Rasch drehte sie sich weg, starrte zur Boden. Eigentlich hätte sie sich das schon lange denken können… Prinz Anri'thàn – der von allen aber eigentlich bloß Anri genannt wurde – war der jüngste Sohn der Kaiserin. Sèrha kannte ihn schon seit sehr, sehr langer Zeit. Zu Beginn hatte sie ihn gar nicht als Mitglied der kaiserlichen Familie erkannt; Anri war ungemein bodenständig, hatte sich in seine Rolle als Prinz niemals wirklich einfinden können. Im Laufe der Zeit waren sie zu guten Freunden geworden. Die kaiserliche Familie pflegte die Tradition, einem ihrer Kinder eine theologische Ausbildung zukommen zu lassen. Aus diesem Grunde hatte sich die Kaiserin, die die Göttin Cerithnè als ihre Schutzpatronin verehrte, dazu entschlossen, ihren jüngsten Sohn in Obhut des Ordens zu geben. Vor gut sechs Jahren hatte dieser seine Ausbildung abgeschlossen, unterstützte den Orden allerdings noch immer nach Kräften.
Aoivhà machte große Augen.
„Der Prinz persönlich? Na, wenn das keine Ehre ist!“
Während sie dies sagte, triefte ihre Stimme nur so vor Neid.
Sèrha reagierte mit einem halbherzigen Lächeln, war innerlich allerdings mehr als nur ein wenig aufgewühlt. Sie wusste das Angebot – welches wahrscheinlich keins war - zu schätzen, sehr sogar, doch momentan fühlte sie sich vor allem überrumpelt. Wenn sie ehrlich war, wollte sie nicht weg, zog es vor, in ihrer bekannten, gewohnten Umgebung zu bleiben. Cé‘rhias war so weit von Zuhause entfernt, eine vollkommen fremde Welt, in der sie sich zuerst einmal zurecht finden müsste. Allerdings würde sie die Reise mit Anri zusammen antreten, was bedeutete, dass sie sehr viel Zeit mit ihm verbringen würde. Und diese Aussicht war doch äußerst reizvoll, würde ihr gewiss dabei helfen, auch andere Gedanken zu kommen…
Vhésa für ihren Teil schien sich ihre Meinung bereits gebildet zu haben.
„Das ist doch wundervoll! Sèrha, du musst auf jeden Fall zustimmen, eine derartige Möglichkeit wird sich dir kaum ein zweites Mal bieten!“
Síarèth nickte ebenfalls, wenn auch sichtlich verhalten.
„Das lässt sich auf alle Fälle nicht abstreiten… Ich möchte gar nicht erst so tun, als würde ich mir keine Sorgen machen, zumal du uns wirklich schrecklich fehlen wirst, aber wenn du das tun möchtest, dann werde ich dir nicht im Weg stehen, ganz im Gegenteil...“
Sèrha atmete tief durch, massierte sich die Schläfen.
„Ihr sagtet, Prinz Anri'thàn möchte in einer Woche abreisen?“
Sórhia nickte.
„Cé‘rhias ist eines der Ziele der Rhióna .“
„Die Rhióna ? Ich habe schon Bilder von ihr gesehen, sie ist einfach nur wunderbar!“, verkündete Aiovhà aufgeregt. „Sèrha, nun musst du wirklich mitfahren, du wärst eine nicht mehr zu rettenden Närrin, wenn du ein derartiges Angebot ausschlägst! Was würde ich nicht dafür geben, selbst mitfahren zu dürfen...“
Sèrha seufzte, hob abwehrend die Hände.
„Schon gut, schon gut...“
Sie schaute zu Sórhia, die sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen konnte.
„Es wäre zu viel verlangt, eine sofortige Entscheidung zu erwarten“, ergriff die Hohepriesterin daraufhin wieder das Wort. „Nimm dir Zeit, denke gut über den Vorschlag nach, bespreche ihn nochmals in Ruhe mit deinen Schwestern und der Oberin – in drei, vier Tagen kannst du mir dann Rückmeldung geben, in Ordnung?“
Sèrha nickte geschlagen.
„Ja, das werde ich - vielen Dank...“