„Hier, Chirhò – Post für dich.“
Chihiro schaute von dem Bericht, den er bis gerade eben studiert hatte, auf und erblickte seinen Kollegen, Rhèio der nun vor seinem Schreibtisch stand und ihm einen großen, braunen Umschlag ins Gesicht hielt. Mit einem knappen Nicken nahm er diesen entgegen.
„Danke.“
„Post von oben, hm? Was hast du denn dieses Mal verbrochen?“
Chihiro strafte Rhèio eines abfälligen Blickes, rückte seine Lesebrille zurecht und musterte dann den Umschlag. Sein Kollege hatte Recht – der Stempel, der auf dem Kuvert der Hauspost prangte, war Beweis genug, dass er aus der Chefetage stammte. Und Benachrichtigungen der Vorgesetzten waren selten etwas Gutes.
„Schlimmer als jetzt kann es ohnehin kaum noch kommen“, murmelte er, griff nach dem Brieföffner und machte sich daran, den Umschlag akribisch exakt aufzuschneiden.
Rhéio grinste spöttisch.
„Oh doch – du könntest in die Abteilung für Steuervergehen versetzt werden. Eines kann ich dir sagen, die werden vor allen gehasst!“
„So furchtbar klingt das nun auch wieder nicht.“
„Das glaubst auch nur du! Ach, aber egal… Sag‘ mal, hast du in letzter Zeit Nhyiat gesehen? Ist die eigentlich schwanger oder hat die einfach nur zugenommen?“
Chihiro zuckte abwesend mit den Schultern; das, was ihn an meisten daran störte, ein Büro mit Rhéio teilen zu müssen, war die unablässige Tratscherei des Älteren, die jedes Damenkränzchen in Verlegenheit bringen würde. Er hatte es seinem Kollegen schon oft genug gesagt, dass es ihn nicht interessierte, wer mit wem eine Liaison am Laufen hatte, zerstritten war oder auf Kriegsfuß stand. Leider stieß er damit auf vollkommen taube Ohren.
„Keine Ahnung. Frag‘ sie doch, wenn es dich interessiert.“
„Du bist ein wirklicher Langweiler, weißt du das? Vielleicht wäre die Steuerabteilung doch nicht das schlechteste für dich...“
Rhéio ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, beobachtete Chihiro, der den Brief nun aus dem geöffneten Umschlag fischte, aufmerksam.
Leutnant Cihirhó Amaya,
Aufgrund aktueller Berichte möchten ich Ihnen mitteilen, dass Sie sich heute, am 12.06., um 18.00 Uhr in meinem Büro einfinden mögen.
Alles weitere werde ich mit Ihnen persönlich besprechen.
Kommandant S. Xelhès
Mit einem Seufzen faltete Chihiro den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück. Er wollte einmal erleben, dass der Kommandant seinen Vornamen richtig schrieb – auch wenn er diesen inzwischen gut genug kannte, um zu wissen, dass dies dessen Art und Weise war, ihn aufzuziehen. Trotzdem, an manchen Tagen nahm Chihiro es seinen Eltern wahrlich übel, dass sie ihm damals keinen landestypischen Namen hatten geben können… Zumindest sein Vater, der ohnehin ursprünglich aus Es‘Ceria stammte, hätte es sich wirklich denken können…
Chihiro warf einen raschen Blick auf die laut tickende Wanduhr – eine halbe Stunde hatte er noch. An sich hatte er noch einen ganzen Aktenstapel zu bearbeiten, doch heute würde er wohl nicht mehr gar so viel zustande bringen.
„Und? Was möchte der Alte von dir?“, wollte Rhéio neugierig wissen.
„Er zitiert mich in sein Büro – alles weitere werde ich dort erfahren“, bekam er abweisend zur Antwort.
Sein Kollege verschränkte die Arme, lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Tatsächlich? Wenn er dich persönlich sehen möchte, scheint es sich doch um etwas Wichtigeres zu handeln. Und ich dachte, dass es im Innendienst unmöglich wäre, sich noch weitere Schwierigkeiten einzuhandeln! Du überrascht mich immer wieder Chirhò!“
„Ach, sei‘ doch einfach still...“
Chihiro zog seine Lesebrille ab, verstaute sie in seinem Etui und ließ dieses in der Innentasche seiner Uniformjacke verschwinden. Es waren knapp drei Wochen vergangen, seitdem er in den Innendienst zwangsversetzt worden war. Eigentlich konnte er sich glücklich schätzen, dass er noch so glimpflich davon gekommen war, besonders in Anbetracht dessen, welchen Schaden dieser Vorfall nach sich gezogen hatte. Tatsächlich hatte es ihn überrascht, dass er nicht sofort vom Dienst suspendiert und vor Gericht gestellt worden war…
Andererseits war es nicht so, als hätte sich ihm damals eine Alternative geboten. Hätte er sich anders entschieden, wäre der Schaden zweifelsohne sehr viel größer und dramatischer gewesen.
Was die Sache dennoch noch lange nicht gut machte.
Aber wahrscheinlich bestand der Hauptpunkt seiner Strafe darin, mit Rhéio zusammenarbeiten zu müssen.
Nun, die Zeit bis zu dem Termin würde er einfach damit überbrücken, indem er seinen Schreibtisch ein wenig aufräumte – inzwischen wäre dies nämlich wirklich mal wieder angebracht.
„Wenn du gerade dabei bist, kannst du bei mir auch grad noch putzen“, kommentierte Rhéio, der Chihiro von seinem Platz aus beobachtete.
Könnte er Rhéio ein wenig besser leiden, dann würde er es sogar tun – der Platz des anderen war eine einzige Katastrophe. Sowohl erledigte als auch unbearbeitete Akten der letzten Wochen stapelten sich, Stifte und lose Blätter lagen kreuz und quer über der Arbeitsfläche verstreut und auch der Papierkorb quoll über. Chihiro war es ein absolutes Rätsel, wie ein Mensch in einem derartigen Chaos zurechtfinden konnte.
Etwa zehn Minuten vor halb begab er sich dann zum Büro seines Kommandanten. Dieses befand sich im obersten Stockwerk des weitläufigen, altehrwürdigen Gebäudes, welches die Militärpolizei als Basis nutzte. Es war eines dieser sehr alten, unnötig stark verwinkelten Bauwerke, in denen man sich sogar Dienstjahre später ohne Plan kaum zurechtfand.
Chihiro erklomm die steile, aus dunklem Holz gefertigte Treppe, folgte dem langen Korridor, an dessen Ende sich sein Ziel befand. Er zögerte kurz, ehe er dann anklopfte.
„Herein!“, erklang kaum einen Moment später auch schon die Aufforderung.
Chihiro strich sich rasch noch die schwarzen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen, zur Seite, ehe er dann die Tür öffnete und eintrat. Er verbeugte sich respektvoll und wartete stumm die Reaktion des Kommandanten ab. Dieser saß an seinem Schreibtisch, hatte sich über einen aufgeschlagenen Ordner gebeugt und war offenkundig gerade damit beschäftigt, ein Formular auszufüllen. Erst einige sehr lange erscheinende Sekunden später schaute er auf, schenkte Chihiro seine Aufmerksamkeit.
Wenn man es nicht besser wusste, könnte man Kommandant Xelhès um einiges jünger schätzen, als er es eigentlich war; wie ein Mann, der sich dem sechzigsten Lebensjahr näherte, sah er jedenfalls nicht aus. Er hatte ein aristokratisch geschnittenes Gesicht mit grau-blauen Augen, wobei das rechte von einer Augenklappe verdeckt wurde. Sein helles, blondes Haar war noch voll, auch wenn schon einige weiß-graue Strähnen zu sehen waren. Er musterte Chihiro mit unbewegter Miene, ehe er ihm zunickte und bedeutete, auf dem freien Stuhl Platz zu nehmen.
„Kommandant Xelhès.“
„Wie ich sehe, hat dich die Hauspost noch erreicht – ich hatte schon Sorgen, dass sie mal wieder verloren gegangen sein könnte. Gut, dass du hier bist.“
„Was haben Sie mit mir zu besprechen, Kommandant?“
„Das ein oder andere. Aber zuerst einmal – wie geht es dir?“
Der Kommandant gehörte zu jener Sorte Mensch, die ihre Gefühle nur sehr selten offen zur Schau stellte, doch Chihiro, der ihn immerhin schon beinahe sein gesamtes Leben lang kannte, konnte die unterschwellige Sorge, die in seiner Stimme mitschwang, heraushören.
Er neigte den Kopf.
„Ich bin wohlauf, danke der Nachfrage, Kommandant.“
Dies waren seine Worte, doch sein Tonfall sprach ganz andere Bände, was auch Kommandant Xelhès nicht entging. Er legte den Stift, den er noch immer in der Hand hielt, beiseite, schaute Chihiro durchdringend an.
„Die Versetzung in den Innendienst soll keine Strafe sein, Chihiro. Glaub‘ mir, ich hätte es auch vorgezogen, dich im aktiven Dienst zu belassen, doch was hätte ich tun sollen? Ich weiß, du warst bei Weitem nicht der einzige Beteiligte, die anderen hatten jedoch nicht das Pech, ihr Bild auf der Titelseite der Tageszeitung vorzufinden – bis ein wenig Gras über die Sache gewachsen ist, hatte ich es als sicherer empfunden, dich etwas außen vor zu halten.“
Chihiro erwiderte seinen Blick kühl und regungslos.
„Wenn du das sagt, werter Onkel . Also, was gibt es zu besprechen?“
Wortlos schob Kommandant Xelhès Chihiro eine dünne Mappe zu; dieser setzte sich seine Brille auf die Nase, nahm den leichten, ledergebundenen Hefter in die Hände, schlug ihn auf und blätterte die Seiten mit gerunzelter Stirn durch.
Es handelte sich um eine Sammlung sorgsam ausgeschnittener, chronologisch sortierter Artikel aus verschiedenen Zeitungen und Magazinen. Sie alle hatten nur eines zum Thema – etwas, das Chihiro inzwischen wirklich nicht mehr hören konnte: Die anstehende Jungfernfahrt der Rhióna . Die meisten von ihnen waren wohl Produkte der Boulevard-Presse; Vermutungen, welche Adeligen und Prominente auf dem Schiff sein würden, detaillierte Beschreibungen der Luxusausstattung, Stellungnahmen diverser 'Experten'... Die Artikel, die sich mit den technischen Details der Rhióna befassten und etwas differenzierte Stellungnahmen beinhalteten, waren hingegen in seriöseren Zeitungen veröffentlicht worden, doch diese waren weit in der Unterzahl.
„Warum überrascht es mich nicht, dass Sie ein Liebhaber der Klatschpresse sind?“, bemerkte Chihiro, während er die Ausschnitte überflog.
„Das dürften so gut wie alle Informationen sein, die der Öffentlichkeit zugänglich sind“, erwiderte Xelhès. „Selbstverständlich ist auch sehr viel Humbug dabei, von all den anderen Belanglosigkeiten einmal ganz zu schweigen.“
„Das ist ja spannend. Und deswegen haben Sie mich in Ihr Büro rufen lassen?“
„Ja, warum wohl? Ich bin enttäuscht, dass du mir diese Frage stellst - du bist doch sonst immer so klug! Wie dem auch sei, du siehst, dass sehr viele wichtige Persönlichkeiten auf der Rhióna sein werden – Adelige und Industrielle, Schauspieler, Künstler und einige andere, die in der Öffentlichkeit stehen.“
„Zweifelsohne.“
„Zu den prominentesten Passagieren dürften wohl der jüngste Sohn der Kaiserin, Anri'thàn, seine Cousine Lha'sandrè Chàdaith und die Erbin der Cerhèna-Familie zählen.“
Alles Namen, die Chihiro wohlbekannt waren. Auch diese Information war an sich nicht neu, auch wenn es ihn sehr verwunderte, dass ausgerechnet Prinz Anri'thàn an Bord des Schiffes sein würde; im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern hielt er sich aus der Politik so gut er konnte heraus, mied gesellschaftliche Anlässe, zog es stattdessen vor, sich selbst zu verwirklichen. Wahrscheinlich nahm er Anweisung seiner Mutter an dieser Fahrt teil. Seine Cousine, Lha'sandrè, war da das komplette Gegenteil – sie liebte die Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit ihr schenkte, ging regelrecht darin auf. Wann immer ein gesellschaftliches Ereignis, ob unwichtig oder nicht, anstand, war auch sie dort zu finden, drängte sich in den Mittelpunkt. Der Cerhèna-Klan gehörte zwar nicht dem alten Adel an, war aber eine der mächtigsten und einflussreichsten Industriellen-Familie Es'Cerias.
Der Kommandant sprach weiter.
„Du wirst dir selbstverständlich denken können, dass es in uns aller Interesse liegt, eine reibungslose Fahrt zu garantieren. Momentan sind es bloß Gerüchte, äußerst nebulöse Hinweise, doch es gibt Indizien dafür, dass es Elemente gibt, die genau dies verhindern möchten...“
Chihiro verstand, worauf sein Vorgesetzter hinauswollte – und es gefiel ihm nicht sonderlich.
„Ist es nicht hauptsächlich Aufgabe des Geheimdienstes und der kaiserlichen Polizeigarde, Sabotage-Akte zu unterbinden und für die Sicherheit dieser wichtigen Persönlichkeiten zu sorgen? Wenn ich mich richtig erinnere, sind wir weder noch.“
Der Kommandant starrte Chihiro eine Weile lang stumm an, blinzelte.
„Vergesslich bist du jedenfalls nicht, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Allerdings scheinst du eines verdrängt zu haben: Auch das Militär hat durchaus Interesse an der Rhióna . Tatsächlich hat mich die Frau General persönlich darum gebeten, ihr einen unserer Leute zur Verfügung zu stellen. Sie möchte einen Repräsentanten an Bord wissen, einen, der sich nicht vom schönen Schein und der Prestige der illustren Passagiere blenden lässt. Und der im Fall der Fälle willens ist, die Autorität des Militärs durchzusetzen.“
„Sie möchte also einen Sündenbock, oder sehe ich das falsch?“
Chihiro wusste nämlich genau, wie das ablief – die Frau General wollte einen Vertreter an Bord haben, doch am besten einen Angehörigen eines Zweiges, der ihr nicht direkt unterstand; in diesem Falle also die Militärpolizei. Wenn die Fahrt nach Plan und ohne Zwischenfälle verlief, war alles in Ordnung, doch wenn es tatsächlich zu Komplikationen kommen sollte, konnten sie und ihr Stab die Verantwortung auf, in diesem Falle, Kommandant Xelhès abschieben, der den Großteil der Konsequenzen zu tragen hätte.
Und falls sich der reisende Adel von jeglichen offiziellen Untersuchungen, die die Militärpolizei im Zweifelsfalle einleiten würde, gestört fühlt, wären auch in diesem Szenario Chihiro und seine Abteilung die Leidtragenden. Der junge Mann konnte sich gut vorstellen, dass sein Kommandant diese Anfrage am liebsten ablehnen würde, doch es war nicht, so hätte er eine Wahl – nicht nur, dass die Frau General über ihm stand, sie war auch eine ihm wichtige Unterstützerin, deren Gunst zu verlieren er sich keinesfalls leisten konnte.
Der Kommandant neigte den Kopf.
„So könnte man es natürlich auch nennen, ja.“
Chihiro seufzte, rieb sich die Stirn.
„Und Sie haben daran gedacht, mich zu schicken, nicht wahr?“
Manchmal sagte ein Schweigen mehr als tausend Worte. Die Miene des Kommandanten war so ausdruckslos und unbewegt wie immer – zumindest für jemanden, der ihn nicht kannte –, Chihiro konnte jedoch sehen, dass er über diesen Entschluss nicht sonderlich glücklich war.
„Ich habe lange Zeit darüber nachgedacht, Chihiro, meine Optionen sehr gut abgewogen. Selbstverständlich könnte ich dich noch auf ungewisse Zeit im Innendienst belassen, zumindest solange du mir keine Steine in den Weg legst und wir es schaffen können, die Fassade wenigstens nach außen hin zu wahren. Tatsächlich wäre es kein Schaden, denn seitdem du die Büroarbeit übernommen hast, sind alle Protokolle und Anträge endlich auch zeitig bearbeitet...“
Chihiro senkte den Blick. Fassade nannte er es inzwischen also. Eigentlich hätte er von seinem Onkel etwas mehr Verständnis erwartet, doch so, wie es aussah, schenkte sogar er seinen Aussagen keinen allzu großen Glauben.
Aber das war in Ordnung, denn so war es immer schon gewesen.
„Oder, was ich persönlich für sinnvoller halte, wir schaffen dich eine Weile lang außer Landes. In unserem Stützpunkt auf Cé‘rhias ist erst vor Kurzem eine Stelle der Militärpolizei geschaffen worden. Ich habe deinen Antrag bereits ausgefüllt und abgestempelt, alles, was ich jetzt noch benötige, ist deine Unterschrift. Es wäre eine gute Lösung – du reist als mein offizieller Vertreter auf der Rhióna nach Cé‘rhias, bleibst dort eine Weile lang und stellst, sobald der ganze Vorfall in Vergessenheit geraten ist, einen Antrag auf Rückkehr. Die Kolonie ist recht klein und relativ abgeschottet, weswegen ich mir ziemlich sicher bin, dass du dort unbehelligt bleiben solltest.“
Mit diesen Worten schlug Kommandant Xelhès eine weitere Mappe auf, zog ein ordentlich ausgefülltes Formular heraus, welches er Chihiro reichte. Dieser starrte abwesend auf das Papier – sein Onkel meinte es ernst, oder? Das… war kein schlechter Scherz, nicht wahr?
„Aber Cé‘rhias liegt doch auf der anderen Seite des Ozeans...“, begann er perplex.
„Und? Stellt das etwa ein Problem dar?“
„Das nicht, aber… nun, das alles kommt so plötzlich und wenn ich ehrlich bin… Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll...“
Ja, einerseits wäre er froh darum, Siance eine Weile lang hinter sich lassen zu können. Die Stadt war auch schon erdrückend genug, die verächtlichen Blicke seiner Mitmenschen, ihr abfälliges Flüstern und die Gerüchte, die sie streuten, machten sie hingegen schier unerträglich. Doch auf der anderen Seite war dies hier seine Heimat, der Ort, an dem er sich auskannte, all seine Kontakte, seinen Lebensmittelpunkt hatte. Es war nicht so, als hätte er ein Problem damit, umzuziehen – sein Beruf verlangte es schließlich, die unterschiedlichsten Orte Es‘Cerias aufzusuchen – eine Übersiedlung nach Cé‘rhias wäre jedoch trotzdem ein sehr gewagter Schritt.
Der Kommandant musterte Chihiro ruhig, steinern. Dann zog er einen Füllfederhalter aus seiner Schublade hervor, legte diesen demonstrativ auf das Formular.
„Möglicherweise habe ich mich missverständlich ausgedrückt, doch das hier ist keine Bitte , Chihiro.“
Mit einem mulmigen Gefühl nahm dieser den Stift in die Hand, setzte bereits zum Schreiben an. Dann, bevor er den ersten Strich getan hatte, hielt er inne.
„...Du möchtest mich loswerden, nicht wahr? Sei‘ doch wenigstens ehrlich, dass ich dir zur Last falle...“
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, bereute er sie auch schon – er könnte sich wahrlich einen Tritt für sein loses Mundwerk geben!
Tatsächlich zögerte Kommandant Xelhès einen Moment lang. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Eigentlich dachte ich, dass du aus dem Alter, in dem man ein derartig pubertäres Gerede von sich gibt und andauernd die Bestätigung der lieben Verwandtschaft braucht, inzwischen heraus wärst. Und überhaupt, warum ist dir das denn so wichtig? Wir beide wissen doch, dass du mich noch nicht einmal sonderlich gut leiden kannst – das Problem ist bloß, dass ich das einzige Mitglied deiner Familie bin, das sich auch nur ansatzweise um dich schert. Was ich davon halte, spielt keine Rolle, das einzige, das zählt, ist, dass ich euren Eltern versprochen habe, auf euch aufzupassen, sollte ihnen etwas zustoßen.“
Dies waren seine Worte, doch der Kommandant hatte es mit der Wahrheit noch nie so genau genommen. Chihiro mochte in seiner Familie nicht sonderlich gerne gesehen sein – natürlich, wer gab sich schon gerne mit dem Kind des verantwortungsscheuen, starrköpfigen Sohnes und seiner nicht standesgemäßen Frau ab? - doch verglichen mit dem, was sie über den Bruder seines Vaters sagten, war dies äußerst harmlos. Chihiro wusste nicht, was in der Vergangenheit vorgefallen sein mochte, doch man konnte sagen, dass sein Onkel aus der Familie verstoßen worden war.
Wenn es also jemanden gab, der alleine da stand, dann der Kommandant.
Chihiro schnaubte.
„Was dir bisher auch wirklich wunderbar gelungen ist...“
Mit diesen Worten setzte er den Füllfederhalter erneut an, setzte seine schwungvolle Unterschrift unter das Dokument.
Es war nicht so, als machte ihm die Aussicht, ans andere Ende der Welt versetzt zu werden, sonderliche Freude. Vielleicht sollte er aber endlich einmal damit beginnen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen: Auf Cé‘rhias würde er auf gewisse Weise nochmal neu beginnen können, fernab seiner ihm nicht gerade wohlgesonnenen Familie, dem Gerede der Leute und seines Onkels, der es sich nicht gar so selten anmaßte, sein Leben nach seinen Vorstellungen kontrollieren zu wollen.
Und möglicherweise wäre dies kein Schaden.