Das, was man sich über die Preise im Rhioàn sagte, war wahrlich nicht übertrieben – tatsächlich fragte sich Rheyá, wie sich ein derartig nobles Restaurant in einer eher einfachen und bodenständigen Ortschaft wie Dorhàr überhaupt halten konnte. Für das, was hier für ein einfaches Glas Wein verlangt wurde, konnte man an anderen Orten ein ganzes Mittagessen bekommen – eines, das auch tatsächlich satt machte.
Auch die Innenausstattung war ungemein schick und kein Vergleich zu der Bar, in der Chiràn arbeitete, ganz und gar nicht. Die Möbel waren aus dunklem, edlen Holz - wahrscheinlich Importware aus den westlichen Kolonien – die aufwendig bestickten Tischdecken aus teurem Stoff. An einem schwarz lackierten Klavier saß eine junge Dame, die leise Musik spielte. Die Gesellschaft, die im Rhioàn anzutreffen war, war eine sehr illustre – reiche Touristen, Adelige aus der Umgebung, Kaufleute, die auf Geschäftsfahrt waren. Schon allein deswegen fühlte sich Rheyá mehr als deplatziert.
Wenn sie ehrlich war, bereute sie es inzwischen sogar, ausgerechnet dieses Lokal für die ungeliebte Verabredung vorgeschlagen zu haben – schon zum sicherlich dritten Mal blätterte sie die Speisenkarte durch und erneut fand sie nichts, das sie in irgendeiner Art und Weise ansprach. Wahrscheinlich sollte sie einfach das teuerste Gericht auswählen, denn dann würde sie sich wenigstens mit dem Gedanken trösten können, Erìnn in Unkosten gestürzt zu haben...
Letztendlich klappte sie die Karte zu, legte sie beiseite. Erìnn, der ihr gegenüber saß und sich mit sichtlich gelangweilter Miene daran versuchte, seine Serviette so oft wie möglich zusammenzufalten, schaute auf.
„Hast du dich endlich entschieden?“
Rheyá hob die Augenbrauen.
„Wieso denn diese Ungeduld? Bist du denn schon so ausgehungert?“
„Eigentlich nicht. Es ist nur so, dass der Ober schon einige Male mit äußerst auffordernden Blicken an unserem Tisch vorbeimarschiert ist. Allerdings könnte das auch sehr gut an deiner nicht gerade an die Lokalität angepasste Garderobe liegen...“
Im Gegensatz zu Erìnn, der sich in Schale geworfen hatte, war Rheyá in ihrer Alltagskleidung erschienen – warum sollte sie sich denn auch die Mühe machen, sich wegen eines Abendessens nochmals umzuziehen? Lediglich das dunkelrote Haar hatte sie sich aus dem Gesicht gekämmt, doch der Umstand, dass sie es als Bob trug, zog auch den ein oder anderen missbilligenden Blick auf sie – gerade in der feineren Gesellschaft galt es für Frauen noch immer als unschicklich, das Haar kurz zu schneiden. Doch wenn sie auf diese Weise Erìnn blamieren konnte, war ihr dies nur zu recht, hatte er sich solche Dinge schließlich schon immer sehr zu Herzen genommen.
Rheyá klappte ihre Speisekarte zu, legte sie beiseite und wank mit einer beiläufigen Geste den Garçon herbei, um ihre Bestellung aufzugeben – sie hatte sich für das Lammfilet in Rotweinsoße entschieden, während Erìnn ein Fischgericht ausgewählt hatte.
„Nun denn, kommen wir zur Sache – was möchtest du von mir?“, fragte Rheyá schließlich und schwenkte ihr mit Rotwein befülltes Glas sachte. „Ich meine, du wirst nicht umsonst diese lange Reise auf dich genommen haben... Aber meine Hochachtung dafür, dass ihr mich doch so schnell gefunden habt! Eigentlich war ich der Ansicht, meine Spuren ganz gut verwischt zu haben...“
„Es war auch nicht gerade einfach, dessen kannst du dir sicher sein“, gab Erìnn trocken zur Antwort. „Doch gerade du solltest wissen, dass wir Mittel und Wege haben – wenn wir etwas wollen, dann bekommen wir es auch.“
„In diesem Falle also mich.“
Sie seufzte theatralisch und trank von ihrem Wein. Er war lieblich, für ihren Geschmack beinahe ein wenig zu süß - sie bevorzugte die trockenen Sorten, die vor allem im Norden gekeltert wurden. Sie hätte es besser wissen müssen und die Wahl nicht Erìnn überlassen dürfen. Dieser beobachtete sie mit seinen kritischen, durchdringenden Blicken, lange genug, um in ihr ein Gefühl des Unbehagens hervorzurufen.
Dann schüttelte Erìnn den Kopf.
„...Ich begreife es einfach nicht, Magarí – warum bist du gegangen? Du warst eine unserer Besten, hattest eine gute Stellung und wurdest geachtet. Warum hast du all dies nur weggeworfen?“
Rheyá biss sich auf die Unterlippe, als sie diesen Namen hörte.
„Nenn' mich bitte nicht Magarí “, forderte sie ihn eisig auf. „Ob es dir gefällt oder nicht, dieses Leben habe ich hinter mir gelassen. Weißt du, Erìnn, in einem Punkt haben wir beide uns schon immer sehr stark unterschieden – ich habe von jeher meine Freiheit und Selbstbestimmtheit geschätzt, habe die Zwänge, die sie uns auferlegt haben, immer gehasst. Du hingegen hattest noch nie ein Problem damit, dich in Ketten legen zu lassen und ihrem Willen zu fügen, Hauptsache, du kannst ein bequemes Leben führen.“
Dabei fiel ihr Blick auf das schmale Armband, welches er an seinem Handgelenk trug. Als er sich dessen bewusst wurde, zog er rasch seinen Ärmel hoch, verdeckte auf diese Weise die Sicht auf den Reif.
Vielleicht waren Rheyás Worte auch ein wenig ungerecht – Erìnn war noch nie sonderlich willensstark gewesen. Von ihren Vorwürfen ließ er sich hingegen nicht beirren.
„Wir alle tun, was wir können. Und wage es nicht, dich als die arme, unterdrückte Maid darzustellen - dir wurden nun wahrlich alle Freiheiten gelassen.“
„Das denkst auch nur du“, gab sie zurück und leerte ihr Glas.
Dann griff sie nach der Flasche, um sich nochmals nachzuschenken.
„Aber genug davon – also, was genau möchtest du von mir? Und genug der unnötigen Höflichkeiten, lass' uns mit offenen Karten spielen.“
Erìnn nickte.
„Also gut. Weißt du, damals, als du uns... verlassen hast, hat das ziemliche Probleme nach sich gezogen. Ob du es nun glaubst oder nicht, du zählst zu unseren besseren Leuten und weißt auch viele Dinge über uns, zu viele. Selbstverständlich wäre es uns am liebsten, würdest du deinen Fehler einsehen und anstandslos zu uns zurückkehren, doch wir wissen, dass du dafür viel zu stur und starrköpfig bist.“
„Komm endlich zum Punkt.“
Erìnn wollte weitersprechen, hielt sich jedoch zurück, da in genau diesem Moment der Garçon den ersten Gang brachte – eine Trüffelsuppe für Rheyá und einen kleinen Salat für Erìnn. Erstere verlor keinen Moment und kostete ihre Vorspeise – sie schmeckte ausgezeichnet und das, obwohl Rheyá normalerweise keine sonderliche Pilzfreundin war.
„Nicht wenige von uns sind der Ansicht, dass du für das, was du getan hast, den Tod verdienst“, sagte Erìnn dann ohne Umschweifen. „Du weißt zu viel, könntest uns auf lange Sicht viele unnötige Probleme bescheren. Ich möchte damit nicht sagen, dass ich es genauso sehe – dem ist nämlich absolut nicht so – doch den Luxus, mich gegen unsere Oberen zu stellen, kann ich mir nicht herausnehmen. Doch zu deinem Glück ist es mir zumindest gelungen, sie davon zu überzeugen, dass wir es uns nicht erlauben können, jemanden wie dich zu verlieren...“
Rheyá schnaubte.
„Meine Güte, wie großzügig! Und deine herzzerreißenden Geschichten haben sie so sehr berührt und zu Tränen gerührt, dass sie sich nun dazu entschlossen haben, mich meines Weges ziehen zu lassen? Als ob!“
Erìnn seufzte.
„Bitte, lege mich doch keine Worte in den Mund! Natürlich ist es nicht so einfach, ganz im Gegenteil, doch ich habe dich nicht aufgesucht, um dir zu schaden. Tatsächlich möchte ich dir eine Möglichkeit bieten, einen... Kompromiss , wenn man es so nennen möchte.“
„Ah, ich denke, ich kann mir schon vorstellen, was jetzt kommst – du wirst mir einen fadenscheinigen 'Handel' vorschlagen, der sich letzten Endes jedoch als Erpressung offenbart. Glaub' mir, ich weiß, wie diese Kompromisse aussehen.“
„...Wir werden dich von deinen Pflichten befreien und dich deines Weges ziehen lassen“, sprach Erìnn mit gezwungener Ruhe weiter. „Im Gegenzug erwarten wir, dass du uns einen letzten Dienst erweist und anschließend Es'Ceria auf Dauer verlässt, irgendwo hingehst, wo du keinen Schaden anrichten kannst.“
Beinahe hätte sich Rheyá an ihrer Suppe verschluckt - das hätte sie nun wahrlich nicht erwartet! Doch sie war nicht so naiv, sich von diesem verlockenden Angebot blenden zu lassen.
„So, tatsächlich? Und wer sagt mir, dass es tatsächlich bei diesem letzten Dienst bleibt und du nicht ein halbes Jahr später erneut vor meiner Tür stehst?“, verlangte sie mit scharfer Stimme zu wissen. „Wer kann mir versichern, dass ihr mir nach Beendigung dieses Auftrags nicht einfach das Messer in den Rücken jagt und mich in irgendeiner dunklen Seitengassen verbluten lasst?“
„Du hast mein Wort.“
Erìnn massierte sich die Schläfe, suchte offenkundig die richtigen Worte.
„Ma... Rheyá, wie lange kennen wir uns schon?“
„Viel zu lange.“
„Habe ich dich jemals enttäuscht oder meine Versprechungen gebrochen?“
„Enttäuscht hast du mich schon öfters, als ich zählen könnte! Allerdings muss ich dir zumindest zugestehen, dass du jemand bist, der zu seinem Wort steht“, räumte Rheyá widerstrebend ein.
„Siehst du? Du kannst mir vertrauen, wirklich.“
Und das wollte sie auch und das mehr, als sie jemals einzugestehen bereit wäre. Doch leider war es nicht so einfach, denn letzten Endes war auch Erìnn kaum mehr als ein kleines Licht. Sehr nützlich, jedoch ersetzbar und vernachlässigbar.
Andererseits war er ihr all die Jahre eine wichtige Stütze gewesen, jemand, auf den sie sich verlassen konnte. Sie wollte daran glauben, dass sich dies auch jetzt nicht geändert hatte.
Rheyá fuhr sich durchs Haar, nutzte den Moment, um sich wieder zu sammeln.
„Um was für einen Auftrag würde es sich denn handeln?“, fragte sie vorsichtig.
Erìnn entspannte sich daraufhin ein wenig, ließ seine Erleichterung durchscheinen.
„Die genauen Details sind mir nicht bekannt - letztendlich bin ich lediglich der Bote – doch es hängt mit der Rhióna zusammen. Du sollst dich in vier Tagen in Minarhèm mit einer Kontaktperson treffen, die dir nähere Informationen geben wird – eine Frau namens Máris, wenn ich mich richtig erinnere.“
Minarhèm war die Hafenstadt, von der aus die Rhióna in See stechen würde. Sie war eine der größeren Städte des Landes und seit Jahrhunderten ein bedeutsames Handelszentrum.
„Und das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“
Erìnn schüttelte den Kopf.
„Du wirst an Bord des Schiffes erledigen, was du zu erledigen hast und dann, sobald sie in Cé'rhias anlegt, an Land gehen. Von dort aus steht es dir frei, deines Weges zu ziehen – du kannst nach Izayoi, nach Souhreyka, Lycaissa, wohin auch immer es dir beliebt.“
Ferne Länder, deren Sprachen sie nicht beherrschte, wo sie keine Kontakte oder Bindungen hatte. Zwar hatte sie in der Vergangenheit durchaus mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern, sich irgendwo anders eine neue Existenz aufzubauen, sich letztendlich jedoch dagegen entschieden – dieser Tage genoss Es'Ceria im Ausland keinen allzu guten Ruf, was einen Neustart nicht unbedingt leicht machen würde.
„Und wenn ich ablehne? Mir gefällt es hier, ich habe hier einen guten Beruf, eine nette Wohnung und kenne die Leute. Offen gestanden würde ich die Zelte hier nur äußerst ungerne abbrechen.“
Erìnn griff nach seinem Weinglas, betrachtete die dunkelrote Flüssigkeit nachdenklich.
„In diesem Fall kann ich dir für nichts garantieren. Wenn sie dich nicht zum Schweigen bringen, werden sie deinen Ruf ruinieren und dafür sorgen, dass du wegen Hochverrates vor Gericht gezerrt wirst – was im Endeffekt also alles zum selben Ausgang führt.“
Diese Antwort hatte Rheyá bereits erwartet.
„...Wobei du offenbar vergisst, dass auch ich so einiges weiß, was auch euch in eine ziemliche Bredouille bringen könnte“, merkte sie unbekümmert an. „Denkst du nicht, dass meine Informationen dem Staat einiges wert sein dürfte?“
Erìnn lächelte kühl.
„Soweit würde es nicht kommen, das kann ich dir versprechen.“
Er atmete hörbar durch, stocherte lustlos in seinem Salat herum.
„Du bist eine kluge Frau, Rheyá, du solltest dir diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Natürlich kann ich deine Skepsis durchaus verstehen, doch ein besseres Angebot wirst du nicht bekommen. Und in Anbetracht der Alternative sollte dir die Wahl nicht sonderlich schwerfallen, oder sehe ich das etwa falsch?“
Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtete, dann gewiss nicht. Dennoch wog Rheyá ihre Optionen ab – was wäre die beste Wahl? Sollte sie versuchen, nochmals irgendwo unterzutauchen? Sie könnte nach Siance gehen, in die heruntergekommene, ärmliche Unterstadt ziehen, wo es so gut wie unmöglich war, jemanden, der nicht gefunden werden wollte, aufzuspüren. Doch wäre es das Wert? In der Unterstadt herrschten katastrophale Zustände, das Leben war dort ungemein hart. Sie könnte in den Osten oder Süden fliehen, doch auch dort wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Erìnn – oder, was um einiges schlimmer wäre, ein anderer ihrer ehemaligen Kollegen – sie erneut aufspüren würde.
Erìnn hatte daher vollkommen Recht – eine bessere Chance würde sich ihr nicht mehr bieten. Rheyás Miene bliebt unverändert gelassen, doch in ihrem Inneren brodelte es. So, wie es aussah, würde sie ihr Leben lang ein Werkzeug dieser Leute bleiben, sich niemals vollkommen ihrem Griff entwinden können. Sie machte sich nichts vor: Dieser 'Kompromiss' mochte zwar äußerst verlockend klingen, doch auch er hatte einen gewaltigen Haken, das stand für sie außer Frage.
Doch vielleicht würde sie die Situation letzten Endes doch noch zu ihrem Vorteil drehen können – ja, sie würde sich da noch etwas überlegen.
Rheyá zuckte mit den Schultern.
„Sieht wohl so aus, als hätte ich keine andere Wahl, oder? Also gut, du kannst weitergeben, dass ich euer ungemein großzügiges Angebot annehme – ein letzter Auftrag. Im Gegenzug erwarte ich, dass auch ihr zu eurem Wort stehen und mich nicht mehr behelligen werdet.“
Erìnn lächelte und dieses Mal erreichte es sogar seine Augen.
„Abgemacht. Ich bin froh, dass du doch noch Vernunft angenommen hast, Rheyá.“
Die junge Frau hob die Augenbrauen.
„Und ich hoffe, dass ich es nicht bereuen werde. Denn eines kannst du mir glauben, Erìnn – wenn ich jetzt untergehe, werde ich dich mit mir in den Abgrund ziehen.“
Dies waren ihre Worte, doch das mulmige Gefühl blieb.