Drei Tage nach ihrem letzten Treffen mit Erìnn begab sich Rheyá nach Minarhèm. Die Reise nahm einen guten halben Tag in Anspruch – Minarhèm war eine der westlichsten Städte Es'Cerias, zumal es von Dorhàr aus keine direkte Zugverbindung gab. Die Fahrt, die mit drei Umstiegen verbunden war, hatte sich beschwerlicher gestaltet, als Rheyá< es zu Beginn für möglich gehalten hatte; der erste Zug war heillos überfüllt gewesen, da man sich spontan dazu entschlossen hatte, einige Wagons einzusparen, dann hätte sie beinahe noch ihren Anschluss verpasst und hatte ihr Ziel letztendlich mit mehr als zwei Stunden Verspätung erreicht. Die Kaiserliche Bahngesellschaft war wahrlich auch nicht mehr das, was sie einst gewesen war.
Es war früher Abend, als Rheyá in Minarhèm ankam. Dies war bei Weitem nicht ihr erster Aufenthalt in dieser Stadt, nichtsdestotrotz versetzten ihre Pracht und ihr Glanz die junge Frau jedes Mal aufs Neue ins Staunen. In der heutigen Zeit diente sie als eine der wichtigsten Handels- und Wirtschaftszentren des Landes, ein Ort, an dem Besucher aus aller Welt anzutreffen waren und auch im Gemeinhin als Es'Cerias Eintrittspforte galt. In der Vergangenheit war Minarhèm hingegen eine der Residenzstädte der kaiserlichen Familie gewesen, was selbstverständlich auch viele der anderen Adelsfamilien angezogen hatte, was sich auch heute noch anhand der zahlreichen Prachtbauten und Vergnügungsangeboten gut zu erkennen war. Weitläufige Grünanlagen mit exotischen Blumengärten, Opern- und Theatergebäude aus weißem Stein, lange Alleen mit luxuriösen Geschäften und noble Stadthäuser mit gepflegten Vorgärten prägten das Bild maßgeblich, riefen Rheyá immer wieder aufs Neue ins Bewusstsein, wie sehr sich die Welt, in der sie lebte, von jener dieser feinen Herrschaften unterschied. Doch es war nicht so, als wäre sie sonderlich erpicht darauf, ein Teil der Oberschicht zu sein – sie erinnerte sich noch zu gut daran, was dieser Lebensstil mit ihrem Vater angestellt hatte.
Andererseits war dies wahrscheinlich noch das geringste seiner Probleme gewesen, wenn Rheyá so darüber nachdachte. Dies tat jedoch ohnehin nichts zur Sache.
Sie schnappte sich ihren Koffer und strebte auf den Bahnhofsausgang zu. Selbst jetzt, zu dieser Stunde, herrschte noch ziemlicher Betrieb auf dem Gelände; Rheyá hielt die Augen nach Taschendieben offen, die sich das Getümmel zweifelsohne zu Nutzen machten.
Erìnn hatte ihr bezüglich ihres Aufenthaltes in Minarhèm sehr präzise Anweisungen hinterlassen; am Tag ihrer Ankunft hatte sie sich in einem kleinen Hotel am Stadtrand einzumieten – entsprechende Arrangements waren bereits im Vorfeld getroffen worden – welches ihr bis zu ihrer Abreise als Basis dienen sollte. Morgen stand das Treffen mit dieser Frau, Máris, an; darauf war Rheyá wirklich gespannt, hatte sie schließlich keine Ahnung, wer und was genau sie erwarten würden. Sie hatte durchaus schon einige Ideen, doch keine von ihnen gefiel ihr sonderlich gut.
Selbst eine Prunkstadt wie Minarhèm hatte ihre dunklen, hässlichen Ecken und das Viertel, in dem sich Rheyás Hotel befand, war eine genau solche. Als Knotenpunkt des internationalen Handels war Minarhèm auch ein Umschlagplatz für allerlei mehr oder weniger legale Güter – Waffenschmuggel, Drogen- und Menschenhandel, wer die entsprechenden Kontakte hatte oder dem Milieu angehörte, konnte hier erwerben, was das Herz begehrte. Es war so, als würden in dieser Stadt zwei vollkommen gegensätzliche Welten aufeinanderprallen. Aber eigentlich unterschied sich diese Metropole nur sehr unwesentlich von Siance – je glänzender die Fassade, desto dunkler die Abgründe.
Schon von außen sah das Hotel äußerst schäbig aus. Es war ein altes Gebäude mit schmutzigem, abbröckelnden Putz, vergitterten Fenstern und einer breiten, ramponierten Holztür. Auch von innen gestaltete es sich nicht besser – in der Lobby hing der Gestank von abgestandenem Wasser und Zigarettenrauch, die Möbel wirkten alt und ramponiert und mit der Sauberkeit wurde es hier ohnehin nicht so genau genommen. Nein, dies war ganz offensichtlich einer jener Orte, den man nur dann aufsuchte, wenn man einen triftigen Grund hatte – oder nicht gefunden werden wollte.
Nun, zum Glück war Rheyá noch nie sonderlich anspruchsvoll gewesen. Solange sie nicht auf der Straße schlafen musste, gab sie sich mit so gut wie allem zufrieden. An der Rezeption wurde sie von einer gelangweilt wirkenden, kettenrauchenden Frau Mitte vierzig begrüßt. Wie von Erìnn angekündigt war sie über Rheyás Ankunft bereits informiert, drückte ihr einen klobigen, rostigen Zimmerschlüssel in die Hand, ehe sie ihre Aufmerksamkeit dann rasch und ohne ein weiteres Wort zu verlieren wieder dem Magazin schenkte, welches sie aufgeschlagen vor sich liegen hatte. Die Nummer verriet Rheyá, dass sich ihr Zimmer wohl im dritten Stockwerk befand. Das Gebäude verfügte, wie sollte es auch anders sein, natürlich über keinen Aufzug, was also bedeutete, dass sich ihren Koffer die steile Treppe hinaufschleppen durfte. Wahrlich wundervoll.
„Ah, warten Sie! Lassen Sie mich helfen!“
Ehe sich Rheyá versah, war bereits ein junger Mann zu ihr hingeeilt, hatte ihr den schweren Koffer abgenommen. Sie sah auf, musterte ihn mit versteinerter Miene – sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ein Angestellter war, einen solchen Service erwartete sie in einem derartigen Etablissement wirklich nicht. Ein anderer Gast?
„Das ist sehr nett, aber wahrlich nicht nötig – ich bin stärker, als ich aussehe.“
Sonderlich kräftig wirkte dieser junge Herr nämlich wahrlich nicht, ganz im Gegenteil – er war sogar ein Stückchen kleiner als sie. Er hatte rotbraunes Haar, haselnussbraune Augen, lächelte freundlich und offenherzig. Er schüttelte entschieden den Kopf.
„Es ist in Ordnung, mein Zimmer ist ohnehin im obersten Stockwerk! Außerdem ist mein Rücken ohnehin schon ruiniert, da ist es nicht notwendig, dass Sie dasselbe mit dem Ihrem tun.“
Rheyá zuckte mit den Schultern, ließ ihn jedoch gewähren.
„Vielen Dank. Ich habe das Zimmer 328.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte sich der Fremde daran, den Lederkoffer nach oben zu transportieren. Rheyá folgte ihm, wobei sie wirklich hoffte, dass nicht doch noch ein Unglück passieren würde – die Stufen waren wie gesagt wahrlich äußerst steil und schmal, sodass es schnell passieren konnte, dass man das Gleichgewicht verlor. Ihre Befürchtung sollte sich glücklicherweise nicht bewahrheiten.
„Sie sind nicht von hier, nicht wahr?“, fragte sie schließlich, als die beiden endlich das dritte Stockwerk erreicht hatten.
Er schmunzelte
„Wäre dem nicht so, dann hätte ich mich wohl kaum hier eingemietet.“
„Wer weiß? Aber das meinte ich auch gar nicht – Sie stammen ursprünglich nicht aus Es'Ceria, oder irre ich mich da?“
Einige kurze Augenblicke lang geriet sein Lächeln ins Wanken, gefror ein. Dann seufzte er schwermütig.
„Ist es so offensichtlich? Und ich dachte, dass ich mit der Sprache inzwischen keine Probleme mehr habe...“
Zwar war er nicht sonderlich stark ausgeprägt, doch der Akzent, der in seiner Aussprache mitschwang, war kaum zu überhören. Konkret ein ordnen konnte Rheyá ihn allerdings nicht.
Sie legte den Kopf schräg.
„Meine Gesprächspartner genießen stets meine vollste Aufmerksamkeit – ich hoffe, Sie nehmen mir meine Neugier nicht übel.“
„Kein Problem, es ist ja nicht so, als hätte ich etwas zu verbergen.“
Das konnte er Rheyá allerdings nicht weismachen – hätte er nichts zu verbergen , dann hätte er sich kaum hier, in diesem schäbigen Hotel, eingemietet. Gut, die Preise mochten zwar lächerlich niedrig sein, doch für dasselbe Geld hätte man in anderen, weniger zwielichtigen Teilen der Stadt bessere Unterkünfte finden können.
Der junge Mann hatte wieder eine unbeschwerte Miene aufgesetzt.
„Tatsächlich stamme ich aus Ost-Lycaissa, Plévralim, um genau zu sein – aber das wird Ihnen kaum etwas sagen, oder?“
Rheyá hatte es mit Geographie noch nie so gehabt, doch in diesem Falle brauchte sie sich für ihre Unwissenheit nicht zu schämen. Lycaissa war der große, nördliche Nachbar Es'Cerias, ein sehr isoliertes, streng theokratisch regiertes Reich. Die beiden Länder verband eine jahrhundertealte Feindschaft, die bis in die Gegenwart andauerte – Grenzdispute, Invasionen, Überfälle, es gab nichts, das es in der mehr oder weniger fernen Vergangenheit nicht gegeben hatte. Rheyá wusste, wie der Großteil ihrer Mitbürger, nicht allzu viel über Lycaissa, doch es war kein Geheimnis, dass es für die Einheimischen sehr schwierig bis schier unmöglich war, das Land zu verlassen; diese junger Mann musste ernsthafte Probleme und unverschämtes Glück gehabt haben, Es'Ceria zu erreichen.
Wenn er nicht ein Spion war, was Rheyá allerdings für eher unwahrscheinlich hielt – das wäre schließlich ein wenig zu offensichtlich, nicht wahr?
„Eher nicht. Aber dann sind Sie der Heimat ja sehr fern... Was führt Sie denn hierher?“
Daraufhin schüttelte er sachte den Kopf.
„Allerlei Schwierigkeiten. Auf alle Fälle bin ich ungemein froh, hier zu sein, auch wenn ich nicht vor habe, zu bleiben – im Laufe der nächsten Tage werde ich Es'Ceria hinter mir lassen und auf den Westkontinent übersiedeln.“
Der Westen, also... Nun, je mehr Distanz er zwischen Lycaissa und sich bringen konnte, desto besser. Aber das war in der Tat eine interessante Information.
„Werden Sie die Rhióna nehmen?“
Er lächelte, blieb ihr jedoch eine Antwort schuldig, was Rheyá in diesem Falle jedoch mehr als tausend Worte sagte. Wahrscheinlich plante er, als blinder Passagier an Bord zu gehen. Überfahrten gen Westen waren sündhaft teuer und waren, zumindest auf normalem, legalen Wege, auch nur mit gültigen Papieren erwerbbar. Jemand, der die Mittel nicht besaß und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, musste sich also Alternativen überlegen.
Doch eigentlich war dies nicht Rheyás Problem, ganz und gar nicht – sie war lediglich neugierig. Obwohl es sie ein wenig verwunderte, dass er in Anbetracht seiner Umstände dennoch relativ offen auftrat. Wahrscheinlich ahnte er, dass sich auch Rheyá gewiss nicht grundlos in diesem Hotel eingefunden hatte.
Sie griff nach ihrem Koffer, nickte dem Fremden nochmals zu.
„Nochmals danke fürs Tragen – lassen Sie es mich wissen, wenn ich mich irgendwie revanchieren kann.“
„Nicht doch, das ist selbstverständlich! Nun denn, ich bin mir sicher, dass wir uns die Tage nochmals das ein oder andere Mal über den Weg laufen werden...“
Er wollte sich gerade schon von ihr abwenden, den Rest der Treppe erklimmen, als er nochmals innehielt, so, als hätte er etwas vergessen.
„...Wenn Sie mir jedoch eine letzte Frage gestatten: Wie heißen Sie?“
Rheyá hob die Augenbrauen; war es in Lycaissa denn üblich, sich vollkommen Fremden sogleich vorzustellen? Sie überlegte kurz, ob sie ihm einen falschen Namen geben sollte, entschied sich dann jedoch dagegen - Rheyá war ein sehr geläufiger Name, es sollte daher wohl in Ordnung gehen.
„Rheyá. Und Sie?“
„Nennen Sie mich doch einfach Rhianòn .“
Es war offensichtlich, dass dies nicht sein wirklicher Name war, doch wenn er mit ihm angesprochen werden wollte, dann würde Rheyá diesem Wunsch nachkommen – denn wenn sie ehrlich war, hielt sie es schließlich genauso.
Sie wünschte ihm eine gute Nacht, wandte sich ab und begab sich auf die Suche nach ihrem Zimmer.
Es war später Vormittag, als sich Rheyá in dem kleinen Café nahe des Hotels einfand. Hier sollte sie, wenn sie Erìnns Anweisungen Glauben schenken konnte, ihre erste Kontaktperson treffen – Máris. Rheyá wusste nicht, wer genau sie nun erwarten würde, doch sie hatte auf alle Fälle nicht vor, unachtsam und nachlässig zu werden.
Das Café war zwar bei Weitem nicht so schäbig und ungepflegt wie das Hotel, als sonderlich schicke Lokalität konnte man es allerdings auch nicht gerade bezeichnen. Jetzt, um diese Zeit, war es relativ leer; abgesehen von ihr waren lediglich zwei ältere Damen, die über einer Tasse Tee und einem großzügigen Stück Kuchen lebhaft miteinander tratschten, und ein Mann mittleren Alters, der in die Tageszeitung versunken war, zu sehen. Keiner von ihnen schien auf Rheyás Eintreffen zu reagieren, weswegen sie hoffte, dass sie sich auch weiterhin um ihre eigenen Belangen kümmern und ihr nicht gar so viel Aufmerksamkeit zollen würden.
Gemäß ihrer Anweisung nahm sie an dem Tisch neben der Eingangstür, von dem aus sich ihr zudem ein guter Blick nach draußen bot, Platz. Ein wenig lustlos griff sie nach der Karte, bestellte eine große Tasse Kakao und Sahnetorte für sich, eine Kanne Kaffee für ihre mysteriöse Kontaktperson und lehnte sich dann in ihrem knarzenden Stuhl zurück, das lebhaften Treiben auf der Hauptstraße beobachtend. Spielende Kinder, Händler, die kleine Marktstände unterhielten, Passanten, die ihre Einkäufe erledigten...
Rheyá, die auf dem Land aufgewachsen war, fand den städtischen Alltag auf seine Weise immer wieder faszinierend. Das, was sie hier sah, die Leben, die besonders die Bewohner dieser Randviertel führten, waren so anders als das, was sie aus ihrer Kindheit kannte. Zwar dachte sie nicht sonderlich gerne an die Vergangenheit zurück, doch wenn sie vollkommen ehrlich war, hatte sie besonders in ihren jungen Jahren keine schlechte Zeit verlebt.
Damals hatte sie bei ihrem Vater gelebt, in einer Kleinstadt im Nordosten des Landes. Eine friedliche, idyllische Gegend, umgeben von dichten Wäldern und grünen Wiesen, mit fernen Bergen und blauen, klaren Seen. Ihr Vater hatte zwar nie viel Zeit für sie gehabt, doch er hatte sich stets um sie bemüht, zumindest so gut er konnte – als kleines Mädchen hatte sie noch keine wirkliche Ahnung gehabt, was genau mit ihm nicht in Ordnung gewesen war, allerdings war er oftmals nicht gerade sonderlich einfach gewesen. Dennoch hatte sie viele fröhliche und unbeschwerte Tage verlebt.
Doch wie alles im Leben gingen auch diese schönen Zeiten rasch vorüber. Nun, mehr als ein Jahrzehnt später, war sie hier, in diesem schäbigen Café im heruntergekommensten Viertel Minarhèms, unfähig, frei und unbeeinflusst über ihr Leben und ihre Zukunft zu entscheiden. Erìnn gegenüber mochte sie sich unbeeindruckt und abgebrüht gegeben haben, doch sie war nicht naiv genug zu glauben, dass sie dem Netz, in dem sie gefangen war, aus eigener Kraft entkommen könnte. Nein, so, wie die Dinge standen, wäre es wahrlich am klügsten, sich den Regeln zu beugen, so lange mitzuspielen, bis sich ihr ein einigermaßen sicherer Ausweg bot.
Auch wenn ihr dabei ganz und gar nicht wohl war.
„Entschuldigen Sie bitte – wäre es in Ordnung, wenn ich mich zu Ihnen setze? Ich weiß, an Platz mangelt es hier eigentlich nicht, doch ich glaube, dass wir beiden einen gemeinsamen Bekannten haben...“
Dies war wohl ihr Kontakt. Rheyá sah auf, nickte.
„Bitte.“
„Vielen Dank!“
Die Frau zog den Stuhl zurück, nahm Platz. Rheyá ließ sie dabei keinen Moment lang aus den Augen. Ihre Kontaktperson, Máris , war einige Jahre älter als sie selbst, ging wahrscheinlich auf die dreißig zu. Ihre Kleidung war schlicht und praktikabel, entsprach ganz gewiss nicht der neusten Mode, doch das aristokratisch geschnittene Gesicht und die Anmut und Eleganz, die in ihren Bewegungen, ihrer Haltung lagen, verliehen ihr die Ausstrahlung einer Edeldame. Das helle, zu einem ordentlichen Kranz geflochtene Haar und die stechenden grauen Augen ließen sie zudem recht kühl, unnahbar wirken.
„Sie sind Fräulein Rheyá, nicht wahr? Unser Bekannter hat mir schon einiges von Ihnen erzählt“, sagte Máris.
Diese hob argwöhnisch die Augenbrauen.
„Interessant. Was denn, zum Beispiel?“
„Nur gute Dinge“, bekam sie mit einem wohlwollenden Lächeln zur Antwort. „Dass Sie eine kompetente und verlässliche Frau sind, beispielsweise. Stets ruhig und rational bleiben, nicht dazu neigen, impulsiv oder übermäßig emotional zu handeln. Das sind wahrlich erstrebenswerte Eigenschaften.“
Máris hielt inne, als die Servierdame mit den Bestellungen kam.
„Ah, Sie haben an mich gedacht? Wie überaus reizend von Ihnen!“
Mit zufriedener Miene goss Máris einen ordentlichen Schuss Sahne in ihren Kaffee, wirkte, als sie ihn mit ihrem Löffel verrührte, geradezu andächtig. Dann schob sie die Tasse ein Stückchen zur Seite, öffnete die mit Blumen bestickte Handtasche, die auf ihrem Schoß ruhte und holte ein dickes, braunes Kuvert heraus.
„Nun denn: Ich habe hier etwas, das Ihnen gehört, meine Liebe.“
Rheyá zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, nahm ihrem Gegenüber dann den Umschlag mit einem knappen Nicken ab und ließ ihn in ihrer eigenen Tasche verschwinden.
Dies mussten die weiterführenden Anweisungen sein, die Erìnn ihr angekündigt hatte. Sie würde den Inhalt des Umschlages heute Abend, auf ihrem Zimmer, studieren und dann, sobald sie sich alles eingeprägt hatte, vernichten.
Das Verwischen von Spuren hatte schließlich oberste Priorität.
„Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir erzählen können?“, fragte Rheyá.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Máris lediglich eine unwissende Botin war – wäre es hier lediglich um dieses Kuvert gegangen, dann hätte man dafür keinen solchen Aufwand betreiben müssen.
Máris nippte an ihrem Kaffee, musterte Rheyá mit ihren aufmerksamen, kühlen Augen.
„Ja, in der Tat. Das meiste, das für Sie von Belangen ist, sollte eigentlich in diesem Brief zu finden sein, doch es kann nicht schaden, die ein oder andere Kleinigkeit nochmals anzusprechen. Sie wissen, dass Sie in sehr feinen Kreisen verkehren werden, liege ich damit richtig? Jemand von Ihrem sozialen Status wird der Aufmerksamkeit dieser Herrschaften kaum würdig sein, doch das bedeutet nicht, dass Sie deswegen unachtsam handeln dürfen...“
Máris brach ab, schaute sich diskret im Gastraum um. Der zeitungslesende Herr hatte das Café inzwischen verlassen, die beiden älteren Damen noch immer in ihre Unterhaltung vertieft und die Bedienung war nirgendwo zu sehen. So, wie es aussah, konnte Máris einigermaßen frei sprechen.
„Das Militär und die Nachrichtendienste wissen wohl noch nichts Genaueres, doch sie scheinen zumindest einen begründeten Befürchtung hegen, dass sich während der Überfahrt etwas ereignen könnte. Dies muss nichts mit Ihrem Auftrag zu tun haben, doch wenn Sie nicht umsichtig genug handeln, könnten Sie sehr leicht ins Kreuzfeuer geraten.“
Rheyá fixierte Máris stumm, ließ sich ihre langsam aufkeimende Unruhe nicht anmerken. Wenn es etwas gab, das sie um jeden Preis vermeiden wollte, dann, ins Visier der Behörden zu geraten. Doch eigentlich war es von Anfang an absehbar gewesen, dass auch die Geheimdienste mitmischen würden.
„Worum genau geht es?“
„Sie werden eine Passagierliste vorfinden. Sie ist gewiss nicht vollständig und hundertprozentig korrekt, zumal man kaum von Ihnen erwarten kann, sich 2000 Namen einzuprägen. Die in unseren Augen wichtigsten Personen haben wir allerdings markiert, sie täten also gut daran, sich auf diese zu konzentrieren. Wie dem auch sei, heute Morgen habe ich erfahren, dass sich auch ein Angehöriger der Sicherheitsbehörde an Bord aufhalten wird – ich denke, Sie wissen genau, von welcher Behörde ich spreche.“
Rheyá senkte den Blick, starrte in ihren Kakao.
Das tat sie allerdings. In der Vergangenheit hatte es bereits den ein oder anderen Zusammenstoß mit diesen Leuten gegeben und Rheyá konnte inzwischen bestätigen, dass diese Abteilung ihren schlechten Ruf voll und ganz verdient hatte. Wenn es sie weiterbrachte, war ihr jedes Mittel Recht, ohne Rücksicht auf Verluste.
„Wissen Sie, um wen es sich handelt?“
Máris schüttelte den Kopf.
„Ich habe eine vage Beschreibung, das ist alles. Wobei es ohnehin sinnlos wäre, nach Namen zu fragen – keiner dieser Leute besitzt so etwas wie eine Identität. Auf alle Fälle müssen Sie sich gut vorsehen; vermeiden Sie es um jeden Preis, Argwohn zu erwecken und fallen Sie unter keinen Umständen auf.“
Das stand ohnehin außer Frage. Doch es war gut, dass Máris dieses Problem nochmals gesondert zur Sprache gebracht hat, denn nun hatte Rheyá genügend Zeit, sich mental darauf einzustellen.
„Sonst noch etwas?“
„Die Militärpolizei hat ebenfalls Maßnahmen ergriffen. Kommandant Xelhès hat einen seiner Leute auf die Liste gesetzt; offiziell geht es wohl darum, Präsenz zu zeigen, doch wie ich ihn kenne, hat auch er sich schon so seine Gedanken gemacht. Der Beamte heißt wohl Chihiro Amaya – ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, ob es Mann oder Frau ist. Dem Namen nach zu urteilen stammt er oder sie aus Izayoi, halten Sie also nach jemandem Ausschau, der ins Bild passt.“
Die Militärpolizei bereitete Rheyá allerdings weitaus weniger Sorgen. Sie mochte den Kommandanten – ganz offensichtlich im Gegensatz zu Máris – zwar nicht persönlich kennen, doch sie war gut genug informiert um zu wissen, dass er in den höheren Kreisen als persona non grata galt, seine Position letztendlich nur aufgrund seines Familiennamens bekommen hatte. Selbst wenn er etwas ahnte, so hatte er nicht den Einfluss, etwas zu bewirken, würde kein allzu großes Problem darstellen.
Máris nahm ihre Tasse in die Hand, schwenkte sie leicht, während sie Rheyá erneut mit diesem gönnerhaften Lächeln musterte.
„Aber wissen Sie, letzten Endes müssen Sie nur eine einzige Sache im Kopf behalten: An Bord des Schiffes werden allerlei Adelige und Industrielle, gar Angehörige der kaiserlichen Familie sein. Jeder Fehltritt, den Sie machen, könnte für Sie verheerende Konsequenzen nach sich ziehen, vergessen Sie das nicht. Sollten Sie versagen, werden wir Ihnen nicht zur Hilfe eilen können.“
Das war schon in Ordnung, diese Notwendigkeit würde sich noch nicht einmal ergeben - denn Rheyá würde schließlich gewiss nicht versagen.