Orwell brauchte nicht lange, um dem blitzgescheiten Jungen vorzuschlagen, es einfach zu versuchen. Der Veteran hatte relativ wenig Skrupel, das System für sich zu nutzen. Außerdem wollte Blackwood wahnsinnig gerne Soldat werden. "Am liebsten Cyborgpilot, Marine oder Elitekämpfer.", schwärmte der Kleine in seinen heruntergekommenen Resten einer eigentlich nicht mehr akzeptablen Schuluniform. Allerdings legte man in Kategorie 0 Schulen wirklich keinen Wert auf den Zustand der Schuluniform. Dass Blackwood jeden Tag pünktlich und hoch motiviert erschien, seine Hausaufgaben machte und ernsthaft arbeitete, zeichnete ihn aus. "Irgendwas davon klappt auf jeden Fall.", versprach der Lehrer mit ermutigendem Lächeln. "Am besten macht Ihr es gleich heute. Es ist ein ausgezeichneter Tag dafür."
Der Satz Orwells stimmte voll und ganz, alle Sätze Orwells zeitlos passten. Heute war der 30.03.2084 und damit Quartalsende. Jeder, der sich nur ein bisschen mit dem Kriegsverlauf auskannte, wusste, es lief entgegen der nie endenwollenden Siegesnachrichten in der Propagandasendung: "Stärke und Ehre" aktuell sehr schlecht. Die Gefallenenzahlen wurden seit mehreren Monaten nicht mehr veröffentlicht. Ein halbwegs informierter Lehrer konnte sich ausmalen, wie es um die Begeisterung für die Streitkräfte bei jungen Männern gerade stand. Man sprach in den Wehrverwaltungen und Kasernen hinter vorgehaltener Hand darüber, dass das Oberkommando sogar die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht in Erwägung zog. Aus all diesen Gründen war sich Orwell sicher, dass Blackwood im günstigsten Fall in der Rekrutierungsstelle genommen werden würde. Ob er nun mit 12 starb oder mit 14 war doch wirklich egal.
Timothy und Ralph Dalton stammten aus der recht gut situierten Familie des First Lieutenant Andrew Dalton. Sie besuchten den Kategorie 10 + Flügel der 22. Schule, die quer gegenüber der 21. Schule lag, sich aber grundlegend unterschied. Orwell gab dort ausschließlich Wehrsport und war nur vertretungsweise Klassenlehrer. Er musste die Chancen nutzen, die ihm das Schicksal zu spielte.
First Lieutenant Andrew Dalton fand es nur richtig, dass sich seine Söhne an diesem Tag verpflichten wollten. Schließlich liebte er seine Söhne von Herzen. Sie sollten ebenso, wie er selbst nach ein paar harten Jahren in der Army ein gutes und privilegiertes Leben führen. Der erfahrene Offizier sah die Sache realistisch: wer in den Free States Karriere machen wollte und es zu etwas bringen, wurde nun mal Offizier. Auch gab es Mittel und Wege sich gegen viel zu frühen Frontdienst abzusichern. Er würde seinen Söhne schon beschützen können. Dalton hatte Verbindungen, einen guten Leumund und kannte sich aus - sogar sehr gut aus.
Allerdings selbst wenn Dalton Senior sich dagegen ausgesprochen hätte, dass seine Söhne die Army einträten, hätte es nichts geändert. Beide waren 14 und damit konnten sie sich selbst entscheiden. Eine Verpflichtung hatte volle Rechtskraft und das Sorge - und Erziehungsrecht ging komplett an einen sogenannten Führungsoffizier über. Volljährig wurde man in den Free States erst mit 21, konnte aber dennoch einige Schritte auf der militärischen Karriereleiter wesentlich jünger machen.
Tim und Ralph glichen sich aufs Haar, waren aber wie Feuer und Wasser. Tim, der um wenige Minuten jüngere der Zwillinge, liebte Zeichnen, Schach und Musik. In der Schule hatte er sehr viele Freunde, spielte in seiner Freizeit Gitarre und trainierte militärischen Zehnkampf. Ralph wirkte eher stiller, als der lebhafte Tim. In der Schule belegte er Informatik, Mathematik und Physik. Er betrieb Wehrsport neben der Schule, war auch sehr gut darin. Nur laufen mochte er nicht besonders. Allerdings hatte Ralph die Schulmeisterschaften im Pistolenschießen in diesem Jahr gewonnen. Die beiden Schüler hatte ihre sehr guten Zeugnisse dabei und auch Referenzen ihrer Lehrer.
Sie trafen, wie immer an der zerbrochenen Platane, die seit dem letzten Streetflighterunfall einen Teil der Auffahrt blockierte, neben dem Schrottplatz von Elias Vater, der im ersten Frühlingsschein nicht besser aussah, als im Novemberregen. "Mr. Orwell hat mit mir gesprochen.", erzählte der jüngste des Trios ganz aufgeregt. "Er meinte, ich soll es einfach versuchen. Mehr als das ich zurückgestellt werde, kann schließlich nicht passieren. Aber dann kann ich es ja später immer noch probieren." Elias plapperte strahlend über seinen Lehrer. "Echt, er meint wirklich, dass es klappen könnte? Wow. Also das wir alle drei zusammen starten. Wäre wirklich cool. Bei uns aus der Klasse wollen vielleicht noch zwei gehen. Aber nur wegen mieser Noten. Das ist so schwach." Tims Begeisterung für die Army leuchtete nicht weniger hell, als die der beiden anderen. "Auf den Zeugnissen und so steht Dein Name, vor allem Dein Geburtsdatum und so. Wie soll das gehen?", fragte Ralph skeptisch, seine feuerroten Haare leuchteten beinahe. Er hatte allerdings vorgenommen, sie nach seiner Rekrutierung blau zu färben. Bisher hatten die Eltern es verboten. In der Armee würde man nicht danach fragen. "Mr. Orwell sagt, wir sollen einfach erst die Tests absolvieren und uns dann in die Listen eintragen. Mit guten Testergebnissen sind die Zeugnisse und Referenzen nicht so super wichtig. Und wir sollen uns bei Gordon einreihen und dort warten", erklärte Elias entschlossen.
Wortlos drückte ihm Tim ein Päckchen mit belegten Wurstbroten in die Hand. Genauso wortlos nahm Elias sie ihm ab, biss in das erste Brot schweigend hinein. Es schmeckte großartig nach Freundschaft und nach Salami. Okay, eigentlich mochte er keine Salami. Aber der Hunger war einfach zu groß, um sich mit diesen Kleinigkeiten zu beschäftigen. Das Brot selbst schmeckte frisch und Margarine war darauf.