"Bereit?", fragte John und Marilyn nickte. Es waren mehrere Tage vergangen, seit sie Minerva verlassen hatten. Das Mädchen stand nun mit verbundenen Augen in der Mitte der Lichtung, auf der sie vorübergehend ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ihre Schwerter hielt sie kampfbereit in ihren Händen. "Senkrechtstart!", rief John und wirkte so den Zauber auf einen großen Felsbrocken, der sofort in die Luft schoss. Marilyns Ohren zuckten, als sie ihre Umgebung abscannte, dann sprang sie in die Luft und verarbeitete den Brocken in fünfzig Meter Höhe zu Staub, bevor sie sicher auf beiden Füßen landete. Mit einem einzigen Schwung steckte sie Schwerter weg und nahm ihre Augenbinde ab. "War das gut?", fragte sie neugierig. John schmunzelte und deutete hinter sie, wo der Sand herabrieselte. "Sieh selbst", meinte er und sie drehte sich um. "Das war sehr gut", lobte er sie und das Mädchen sah ihn erfreut an. Dann nahm der Junge seinen Stab in beide Hände und stellte sich kampfbereit hin. "Dein nächster Gegner werde ich sein!", verkündete er und sie schluckte. "I-in Ordnung", meinte sie und stellte sich ebenfalls in Kampfposition hin.
‚Ich muss das Ganze schlau machen‘, dachte sie angespannt. ‚Er wird ganz sicher nicht mit seiner ganzen Kraft kämpfen, trotzdem darf ich ihn auf keinen Fall unterschätzen. Er wird als erstes sicher einen schwachen Zauber wirken, so wie er es immer tut. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er einen Kampf so lang wie möglich hinziehen möchte. Aber einem schwachen Zauber kann ich locker standhalten. So habe ich genug Zeit, um zum ersten Schlag auszuholen. Wenn ich mich anstrenge, dann kann ich eine Geschwindigkeit erreichen, die selbst ihn am Anfang überfordern wird. Er wird den ersten Schlag nicht durchführen, das bedeutet ich muss in die Offensive gehen, sonst wird das hier noch ein Wettstarren.‘ All diese Gedanken rasten ihr innerhalb von Sekundenbruchteilen durch den Kopf, dann ging sie zum Angriff über. "Rasierkrallen!", rief sie und führte damit einen ihrer vielen Skills aus, der es ihr erlaubte, krallenartige Energiestrahlen aus ihren Händen zu feuern. John erkannte sofort, was Sache war und konterte. "Donnersturm!", rief er und ein wahrer Orkan ging von ihm aus. Blitze zuckten über die Lichtung und hielten die Krallen auf, bevor sie sich weiter ihren Weg bahnten und alles in Asche verwandelten, was sie im Umkreis von zwanzig Metern vorfanden. Marilyn begab sich schnell außer Reichweite. ‚Das ist kein schwacher Zauber‘, dachte sie. ‚Mein Plan, den ersten Schlag wegzustecken, hat sich gerade in Rauch aufgelöst.‘ Sie erhöhte ihre Geschwindigkeit und durchbrach die Schallmauer. Mit atemberaubender Geschwindigkeit raste sie um ihren Meister herum. ‚Ich darf nicht zu lange warten, sonst wird er mich kommen sehen‘, beschloss sie und griff an. "Doppelklingenschlag!", rief sie, als sie von hinten auf ihn zuraste. John drehte sich wie in Zeitlupe um und wich der ersten Klinge aus, die Zweite traf ihn hart und zog ihm sechsundzwanzigtausend HP ab. Marilyn blieb vor ihm stehen und atmete tief durch. ‚Ich habe es geschafft, ihm Schaden zuzufügen‘, schoss es ihr durch den Kopf, dann schüttelte sie eben jenen. ‚Jetzt bloß nicht abgelenkt werden. Der Kampf ist noch nicht vorbei!‘ "Sehr beeindruckend!“, rief John, der langsam wieder aufstand. „Deine Klingen sind mit Tollkirschensaft bestrichen, nicht wahr? Ich kann meine HP nicht mehr regenerieren!" Marilyn sah überrascht auf ihr Schwert. Sie hatte vollkommen vergessen, dass ihre Schwerter noch so präpariert waren. "Da habe ich wohl Glück gehabt", meinte sie und John grinste. "In der Tat. Nur reicht Glück allein leider nicht aus. Seelensauger!" Eine Schlange aus violetter Energie schoss aus dem Boden und teilte sich in der Luft auf. Wie zielsuchende Pfeile schossen die einzelnen Strahlen auf sie zu, doch Marilyn wich aus, bevor sie getroffen wurde. Als sie schließlich wieder auf dem Boden aufkam wollte sie gerade zum Angriff übergehen, doch als sie sich zu John drehte sah sie einen seiner Lichtbälle, der nur einen halben Meter vor ihr war. Die Zeit schien fast stehenzubleiben. Das Mädchen versuchte, mithilfe ihrer unfassbaren Geschwindigkeit aus der Gefahrenzone zu kommen, doch es war zu spät. Der Lichtball traf sie mit voller Wucht und ließ gerade mal einhundert HP zurück. Keuchend brach sie zusammen. "Der Kampf ist vorbei!", rief John und half ihr auf. "Wie? Wie habt Ihr das gemacht? Ich hätte diesem Lichtball ausweichen können, warum hat er mich trotzdem erwischt?", fragte sie. "Ich wusste, dass du dich vollkommen auf den Seelensauger konzentrieren würdest. Alles was ich noch tun musste war, einen Lichtball an die Stelle zu feuern, wo du letzten Endes aufkommen würdest", erklärte er ihr. "Trotzdem ist meine Geschwindigkeit höher als die eines Lichtballs", widersprach Marilyn ihm. "Eigentlich schon, doch sie hat eine kleine Schwachstelle. Deine Höchstgeschwindigkeit ist zwar Mach zehn, aber du brauchst mindestens zwei Sekunden, um zu starten und auf Mach drei zu kommen, also dreifache Schallgeschwindigkeit. Mein Lichtball war nur mehr einen halben Meter von dir entfernt und schoss von Anfang an mit Mach drei auf dich zu. Es war für dich also unmöglich, rechtzeitig auf die passende Geschwindigkeit zu kommen." ‚Unfassbar. Er hat wirklich so weit vorausgeplant?‘ "Trotzdem hast du sehr gut gekämpft und dir wirklich Gedanken über deine Strategie gemacht. Ich bin stolz auf dich Marilyn", fuhr der Junge fort und sie lächelte. "Ich danke Euch, Meister", meinte sie und verbeugte sich leicht vor ihm.
Einige Stunden vergingen und die beiden saßen inzwischen an einem knisternden Lagerfeuer, über welchem sie sich ihr Abendessen zubereiteten. Die Sonne verschwand langsam hinter den Baumwipfeln und bald war das Feuer das einzige Licht, das die Lichtung noch erhellte. Zu Glück ging bald darauf der Mond auf und die runde Scheibe leuchtete auf sie herab. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Heulen. Marilyns Ohren drehten sich instinktiv in die Richtung. "Denkt Ihr, dass es Wölfe in diesem Wald gibt?", fragte sie. John setzte seinen Holzlöffel ab und lauschte, bis das nächste Heulen die Stille der Nacht durchdrang. "Das sind Werwölfe", meinte er dann. "Drei um genau zu sein. Sie sind wahrscheinlich vor Sonnenuntergang in den Wald gekommen, um zu jagen." Marilyn blickte nervös in die Dunkelheit. "Du magst Werwölfe nicht, hab ich recht?", fragte John sie. "Naja, sie sind nicht wie andere Werbiester", antwortete das Mädchen. "Sie haben ja auch nichts mit euch Werbiestern zu tun", meinte John. "Werwölfe haben aus irgendeinem Grund nur auch das Wort ‚Wer‘ in ihrem Namen enthalten. Das hat schon oft für Verwirrung gesorgt." Marilyn schnaubte verächtlich. "Als ob mein Volk irgendetwas mit diesen verfluchten Bestien zu tun hätte", meinte sie und rollte mit ihren Augen. "Denkst du wirklich so gering von ihnen?", fragte der Junge plötzlich und sie sah ihn fragend an. John seufzte und stand auf. "Gut, lösch das Feuer und pack deine Sachen. Es wird Zeit für eine weitere Lektion." "Wohin gehen wir?", fragte sie, obwohl sie fürchtete, die Antwort bereits zu kennen. "Wir suchen diese Werwölfe", antwortete er ihr und bestätigte so ihren Verdacht. "Was? Meister ich…", begann sie, doch er unterbrach sie. "Das ist ein Befehl!", meinte er streng und sie senkte den Kopf. "Ja Meister", antwortete sie und machte alles fertig. Dann gingen sie los in den finsteren Wald. John übernahm die Führung, obwohl er das sonst immer Marilyn mit ihrer Nachtsicht überließ. Er folgte dem Heulen, das in unregelmäßigen Abständen ertönte. Irgendwann blieben sie stehen, um erneut zu lauschen. Doch nichts regte sich. Kein Laut war zu hören. Marilyn lauschte angespannt, doch dann bemerkte sie etwas aus dem Augenwinkel. Eine Bewegung. Ruckartig drehte sie sich dorthin und sah ihn. Sie sah den Werwolf, welcher leise in ihre Richtung kam. Zwar ging er gerade auf allen vieren, doch Marilyn erkannte, dass er mindestens zwei Meter groß sein musste. Langsam richtete sich das Wesen auf seine Hinterpfoten auf und bleckte knurrend die Zähne, während es langsam auf sie zukam. Seine Vorderpfoten glichen großen Pranken mit langen Klauen und Marilyn wurde alleine beim Anblick schlecht. Sie warf einen Blick auf John, der jedoch ganz normal stehengeblieben war. Plötzlich bemerkte sie, dass hinter ihnen die beiden anderen Werwölfe waren. Sie hatten sie eingekreist. Wie hatte sie das nicht bemerken können? Instinktiv griff sie nach ihren Schwertern und der große Werwolf vor ihnen fixierte sie augenblicklich mit seinen wilden Augen. John nahm ihre Hand und hielt sie so davon ab, die Schwerter zu nehmen. Dann ließ er ihre Hand wieder los und zog ihre Schwerter an ihrer Stelle aus der Scheide. Die Werwölfe knurrten laut und kauerten sich bereit zum Sprung hin. Marilyn atmete tief durch. Sie hatten keine Chance gegen ihren Meister. Was für dämliche Kreaturen. Doch dann geschah etwas, was sie niemals erwartet hätte. John schmiss die Schwerter auf den Boden, außerhalb seiner Reichweite, aber vor den großen Werwolf. Bevor sie ihn fragen konnte, was um alles in der Welt er da tat, landete sein Stab daneben. Der Anführer des Rudels schnupperte an den Waffen und sah ihn prüfend an. "Wir sind nicht eure Feinde. Wir möchten nicht kämpfen", meinte John ruhig. "Verzeiht, dass wir eure Jagd unterbrochen haben." Der Werwolf leckte sich über seine rauen Lippen, dann heulte er plötzlich laut und die anderen zwei taten es ihm gleich. Von einer Sekunde auf die andere kam er auf sie zugesprintet und Marilyn kniff die Augen zusammen, als er auf sie zusprang. Sie erwartete das Knacken von einem riesigen Gebissen, oder das schmerzende Reißen der scharfen Klauen. Doch nichts geschah. Langsam öffnete sie ihre Augen wieder und sah sich zitternd um. Sie hatte sich vor Schreck an John geklammert, während der Junge sich nicht bewegt hatte. Hinter ihnen hörte sie, wie das Rudel sich immer weiter entfernte. "Der Werwolf ist nicht auf uns zugesprungen, er ist über uns hinweggesprungen", beruhigte John sie. Als sie sich langsam entspannt hatte gab er ihr ihre Schwerter wieder. "Werwölfe sind keine blutrünstigen Bestien, sie sind intelligente Wesen, so wie du und ich. Darum möchte ich nicht, dass du nochmal so über sie redest", ermahnte er sie und das Mädchen nickte langsam. "Ihr wusstet, dass sie uns nicht angreifen würden", flüsterte sie. "Warum sollten sie? Wir gaben ihnen keinen Grund", meinte der Junge und hob seinen Stab wieder auf. "Warum wisst Ihr so viel über Werwölfe?", fragte sie ihn neugierig. "Ich reiste einst mit dreizehn Männern und Frauen durch den Morschwald. Als der Vollmond eines Nachts aufging wurde mir offenbart, dass sie alle Werwölfe waren. Sie verwandelten sich und machten sich auf die Jagd. Mich ließen sie im Lager zurück, wo ich ruhig schlafen konnte und im Morgengrauen kamen sie wieder zurück. Daraus habe ich gelernt, dass die Werwölfe in dieser Welt bei Verstand bleiben, wenn sie sich verwandeln", erzählte er ihr. "In dieser Welt?", hakte sie nach und er schmunzelte. "Oh ja. Ich wette, dass es da draußen noch andere Welten gibt, in denen Werwölfe existieren. Vielleicht kann ich auch sie irgendwann kennenlernen."