Das riesige weißgoldene Tor öffnete sich langsam und gab den Blick auf eine gigantische Halle frei. Die Decke, die sich in sicher fünfzig Metern Höhe befand, war mit einer Malerei verziert, die die alten Götter zeigte, als sie die Welt erschufen. Weiße Marmorsäulen stützten den gewaltigen Raum, an dessen Ende sich ein riesiges Fenster befand, durch welches Sonnenstrahlen fielen. Vor diesem Fenster befand sich ein großer Thron, auf welchem ein wunderschönes Wesen saß. Es sah aus wie ein Mädchen und Omnix schätzte es auf zirka neunzehn Jahre, obwohl er wusste, dass es eigentlich viel älter war. Zwei weiße gefiederte Flügel wuchsen ihr aus dem Rücken und langes silbernes Haar fiel über ihre Schultern. Sie trug ein ärmelloses weißes Kleid, auf welches goldene Muster aufgenäht worden waren. ‚Das ist sie also. Die Königin der Erzengel‘, dachte Omnix, während er auf den Thron zuging. Marilyn, die hinter ihm herging, war vollkommen von dem Thronsaal überwältigt und beachtete den Erzengel, der auf dem Thron saß, gar nicht. Die zwei Dienerinnen, die sie hereingeführt hatten, machten einen Hofknicks und zogen sich wieder zurück. Nun waren sie alleine.
"Seid gegrüßt! Ich bin Tomoko, Königin der Erzengel und ein Spross der Scientia, einer der alten Göttinnen", stellte sie sich vor. "Seid gegrüßt! Ich bin Omnix, der Oberste der alten Götter", grüßte Omnix zurück und der Erzengel schmunzelte. "Ich habe bereits gehört, was Ihr zu sein behauptet. Ich hoffe Ihr versteht, dass ich nicht bereit bin, das einfach so zu glauben", meinte sie und Omnix‘ Auge leuchtete amüsiert auf. "Mir ist durchaus bewusst, dass es schwer zu glauben ist", antwortete er. "Ich nehme an, deswegen habt Ihr auch die Prüfungen vorbereitet." Die Königin sah ihn überrascht an. "Woher wisst Ihr…", setzte sie an, doch Omnix unterbrach sie. "Gerade in diesem Moment werden für mich hinter einer dieser Wände Prüfungen vorbereitet, habe ich recht?", fragte der Reinkarnitor und deutete auf eine der gewaltigen Wände der Halle. "Das ist unmöglich. Ein mächtiger Zauber liegt auf diesen Wänden, kein Zauber der Welt ist stark genug, um durch sie hindurch zu sehen", widersprach Tomoko. "Wer hat Euch davon erzählt?" "Ihr selbst habt es mir gerade bestätigt." Die Königin zuckte zurück. Er hatte sie reingelegt. Das würde ihr nicht noch einmal passieren. "Da Ihr ja anscheinend bereits wisst, was Euch erwartet, solltet Ihr kein Problem damit haben, sofort zu beginnen, oder irre ich mich da?", fragte sie und lächelte bitter. Omnix nickte. "Ich wäre bereit. Aber warum gestalten wir das Ganze nicht etwas interessanter?" Tomoko sah ihn prüfend an. "Woran denkt Ihr dabei?" "An ein Spiel. Eine Wette, wenn Ihr so wollt", begann der lebende Nachthimmel. "Ich bin ganz Ohr." "Wenn ich verliere, dann habe ich nicht nur mein Recht verloren, mich einen alten Gott zu nennen, sondern auch meine Freiheit. Ihr wisst von meiner Stärke, habe ich recht? Diese Stärke würde ich in Euren Dienst stellen, wenn ich verlieren würde." Die Königin schmunzelte. "Interessant. Aber was, wenn Ihr gewinnt? Was würdet Ihr dann von mir verlangen?", fragte sie. "Alles." Sie riss die Augen auf. "Was?" "Ich nehme alles, was ihr besitzt. Eure schwebende Insel, Euren Palast, Euer Wissen in der Bibliothek, Euren Thron, Eure Untertanen und sogar Euer Leben." Tomoko zitterte. Das konnte er doch nicht ernst meinen. Oder etwa doch? War er sich wirklich so sicher, dass er gewinnen würde? Nein, niemals. Sie wusste nicht, was dieses Wesen war, aber es war kein alter Gott. Und nur die alten Götter und die Erzengel hatten das nötige Wissen, um diese Prüfungen zu bestehen. Aber trotzdem zögerte sie. Er wirkte ihr einfach zu selbstsicher. "Was habt Ihr?", fragte Omnix plötzlich. "Traut Ihr Euch nicht, gegen jemanden anzutreten, den Ihr einen Betrüger nennt? Mein Leben gegen Euer Leben. Ich würde sagen, dass die Wetteinsätze gleich hoch sind." Der Erzengel knirschte mit den Zähnen. "Ich schlage ein. Niemand soll behaupten, dass sich Tomoko vor einem Betrüger wie Euch fürchtet", meinte sie und sie reichten sich die Hand. "Ein Deal mit einem jungen Gott ist absolut", flüsterte sie lächelnd. Omnix‘ Auge leuchtete abermals auf. "Genau wie ein Deal mit einem alten Gott", antwortete er.
"In Ordnung Meister, wenn ihr Euch anstrengt, dann könnt Ihr es schaffen. Ich vertraue Euch", meinte Marilyn und Omnix nickte. Sie betraten den ersten Raum. Es war ein kleiner Innenhof, in dessen Mitte sich ein Teich befand. Vor dem Reinkarnitor lag ein Eimer ohne Boden. "Eure erste Aufgabe ist denkbar einfach", meinte Tomoko, die auf einem Balkon über ihnen stand. "Füllt den Eimer mit Wasser, ohne einen Zauber zu nutzen." Omnix hob den Eimer auf und hielt ihn in Luft, so dass er das Loch sehen konnte. "Ich nehme an, dass Ihr jetzt wirklich erwartet, dass ich den Eimer mit einem Zauber repariere, oder das Wasser so kontrollieren wollte, dass es drinnen bleibt. Damit würde ich aber automatisch verlieren." Die Königin sah ihn interessiert an. Omnix erkannte an ihrem Blick, dass sie versuchte sich vorzustellen, was er gerade dachte. "Die Antwort auf diesen Test ist, wie Ihr bereits sagtet, sehr einfach. Ein Mensch, oder jede andere Rasse würde allerdings zu viel nachdenken und deswegen niemals darauf kommen, weil er vorher aus Frustration aufgeben würde. Marilyn, was sollte ich deiner Meinung nach machen?" Das Mädchen sah den Eimer nachdenklich an. Sie nahm ihn und tauchte ihn in den Teich, doch sobald sie ihn wieder herauszog rann das Wasser sofort ab. "Ich habe keine Ahnung, wie man das ohne einen Zauber schaffen soll." Omnix lachte und nahm den Eimer wieder an sich. Kurzentschlossen warf er ihn in den Teich, auf dessen Grund er liegen blieb. "Euer Eimer ist voll, Eure Hoheit. Wie lautet die nächste Prüfung?"
Im nächsten Raum fanden sie einen Eisblock vor, der einsam in der Mitte auf dem Boden stand. "Eure zweite Aufgabe lautet wie folgt: Entzündet diesen Eisblock mit einem Level eins Zauber", befahl Tomoko und Omnix rieb sich das Kinn. Ein Level eins Zauber konnte Eis nicht entzünden, ganz egal, was er tat, er war zu schwach. "Eine knifflige Aufgabe. Diesen Eisklotz mit einem Level eins Zauber zum Brennen zu bringen ist nicht wirklich möglich." "Ihr könnt jederzeit abbrechen", meinte die Königin grinsend. Omnix schüttelte den Kopf. "Glücklicherweise gibt es keine Regel, die besagt, dass ich nicht höhere Zauber anwenden darf, um den Eisblock selbst zu verändern", meinte er und das Lächeln verschwand fast augenblicklich aus Tomokos Gesicht. "Sag mit Marilyn, hast du jemals von sogenannten Methanhydraten gehört?", fragte er das Mädchen. "Wenn ich mich richtig erinnere, dann ist das Eis, welches auf dem Grund des Ozeans wegen dem hohen Druck Methan in sich angesammelt hat. Ihr habt es einmal während einer Alchemielektion erwähnt", antwortete sie. "Korrekt. Wenn ich nun also einen Zauber auf das Eis wirke, welcher es großem Druck aussetzt, habe ich die Regeln quasi umgangen. Pressus!" Das Eis begann zu knirschen und zu knarzen. Omnix ließ zehn Minuten vergehen, dann hob er den Zauber auf und das eingeschlossene Gas schäumte augenblicklich aus dem Eis heraus. "Ein Level eins Zauber genügt nun", meinte Omnix zufrieden. "Streichholz!" Ein winziger Funke sprang auf das Eis über und der ganze Block begann lichterloh zu brennen. "Euer Eisblock brennt, Eure Hoheit. Wie lautet die nächste Prüfung?"
Tomoko stand auf dem Balkon des dritten Raumes und blickte ungläubig auf sie herab. Sie hielt sich fast schon krampfhaft am Geländer fest. "G-gut, der letzte Test ist ein Rätsel", stotterte sie. Ihre Dienerin sah sie besorgt an. "Ist alles in Ordnung Mylady?", fragte sie besorgt und Tomoko nickte langsam. "Oh wie schön, ich liebe Rätsel!", rief Omnix zu ihnen hinauf. "Ihr habt einen Versuch. Seid Ihr wirklich bereit?" Omnix nickte. "Was ist mächtiger als ein alter Gott und zerstörerischer als ein Drache? Was besitzen alle Armen? Was brauchen alle Reichen? Wovon stirbt man, wenn man es isst?", fragte die Königin und Omnix‘ Auge leuchtete hell auf. Seine Gedanken schweiften zurück um ungefähr vier Welten. Damals stand er vor dem Thron einer gewissen Vampirkönigin und stellte ihr ein sehr ähnliches Rätsel. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Das war doch nicht möglich. Ein Rätsel, welches er damals für ein einfaches Spiel zwischen Krul und ihm gestellt hatte, wurde ihm jetzt als ultimative Prüfung verkauft. "Nichts", murmelte er und Tomoko sah ihn entgeistert an. "Die Antwort ist Nichts, Eure Hoheit!", wiederholte er etwas lauter. Es war vorbei.
"Ich denke, ich habe gewonnen, oder seht Ihr das anders?", fragte Omnix Tomoko, als sie wieder im Thronsaal waren. Ignis, der hinter ihnen in dem gewaltigen Saal stand, lachte. "Ich habe nichts anderes erwartet!" Auch Marilyn grinste. "Es war von Anfang an klar." "Wie? Wie konntet Ihr diese Prüfungen lösen?", fragte die Königin fassungslos. "Sie wären in der Tat sehr knifflig gewesen, wenn ich ein normales Wesen wäre. Der Grund hierfür ist, dass sie nicht auf Magie basierten, sondern auf Wissenschaft. Das habe ich bereits erkannt, als ich den Namen Eurer alten Göttin hörte. Scientia. Wissen", erklärte der Reinkarnitor. "Ihr sprecht sogar die alte Sprache", flüsterte Tomoko. ‚Eigentlich ist das nichts weiter als Latein‘, dachte Omnix, ließ sie aber dennoch in dem Glauben. "Ihr habt recht. Die alten Götter bedienten sich nicht Magie sondern der Wissenschaft dahinter. Daher diese Tests. Nur ein wahrer alter Gott hätte sie durchschauen können." Sie kniete vor ihm nieder. "Ihr seid ein alter Gott. Ihr habt die Wette gewonnen, darum gehöre ich jetzt Euch. Es ist mir eine Ehre Euch zu dienen. Ihr seid nun König von Skyfortress mein Lord." Sie stand wieder auf und deutete auf den Thron. "Dieser Sitzplatz ist nun der Eure." Omnix nickte und nahm auf dem gewaltigen weißen Thron Platz. "Zuallererst sollten wir hier einmal umdekorieren", meinte er und schnipste mit den Fingern. Augenblicklich wechselten die großen goldenen Banner, die im Saal hingen, ihre Farbe und wurden hellblau mit einem großen Auge in der Mitte. "Sehr gute Wahl Meister", meinte Marilyn und der Reinkarnitor nickte dankbar. "Die Nachricht von dem Machtwechsel wird sich schnell verbreiten. Und auch mein Auftreten in eben jenem Menschendorf hat bereits Gerüchte ausgelöst", meinte Ignis. "Da hast du recht. Ich nehme an, dass viele Menschen und auch andere Rassen, wie zum Beispiel Werbiester, Echsenmenschen und viele weitere noch nicht vollkommen überzeugt sind", gab Omnix ihm recht. Ignis neigte den Kopf. "Die Drachen sind auf Eurer Seite Lord Omnix", meinte er. "Mit Eurer Erlaubnis würde ich gerne zu ihnen zurückkehren, um dort weiterhin für Ordnung zu sorgen." "Gewährt", meinte Omnix und der Drache bedankte sich, bevor er sich auf den Weg machte. "Tomoko, ich würde gerne deine Bibliothek in Augenschein nehmen, während ich auf das nächste Ereignis warte", meinte der Reinkarnitor dann und der Erzengel nickte. "Wie ihr wünscht mein Lord. Ich werde sofort alles vorbereiten", antwortete sie und verbeugte sich leicht, bevor sie den Thronsaal verließ. "Was werdet Ihr nun tun?", fragte Marilyn. "Wie bereits gesagt, wir werden warten", antwortete er und streichelte ihr über den Kopf, woraufhin sie sich an seine Hand schmiegte. "Nun sind die anderen dran, einen Zug zu machen. Genieß das Leben hier solange es so ruhig bleibt. Du wolltest diese Insel doch unbedingt erkunden." Sie legte ihren Kopf auf seinen Schoß. "Oh, momentan bin ich vollkommen glücklich, wo ich bin", schnurrte sie und das Auge des Reinkarnitors leuchtete auf, als ob er schmunzeln würde.