"Noch eine Tasse?", fragte Ben und Marilyn nahm dankend an. Sie befand sich in dem Zimmer, das der Junge für die Woche in der Taverne der kleinen Stadt, in der sie sich momentan befanden, gemietet hatte. John hatte darauf bestanden, dass sie sich nach dem Triumph in den Sümpfen eine Pause gönnen sollten. Also hatten sie Skyfortress verlassen und Ben und Tammy aufgesucht. Letztere war allerdings gerade mit John bei einem Elitetreffen der Gilde, auf das nur die ältesten Mitglieder der einzelnen Abenteurerteams gehen durften, weshalb sie nun alleine mit Ben Tee trank. "Wie geht es John?", fragte der Junge und sie setzte ihre Tasse ab. "Sehr gut. In letzter Zeit ist das Glück meinem Meister wirklich hold", erzählte sie. Was für ein Unsinn. Glück hatte damit nichts zu tun. Sie bezweifelte, dass es irgendetwas gab, was John nicht erreichen konnte, doch das jetzt vor Ben zu sagen würde wahrscheinlich nicht so schlau sein. "Du…du magst ihn sehr, habe ich recht?" Die Frage brachte Marilyn etwas aus dem Konzept. "Naja, er ist mein Meister. Wir kennen uns schon sehr lange", murmelte sie und ihre Wangen erröteten. "Warum nennst du ihn eigentlich so? Ich weiß von Tammy, dass er deine Erinnerungen ersetzt hat, aber mich würde interessieren, was genau damals passiert ist. W-wenn das für dich in Ordnung ist natürlich." Das Werbiest blickte auf ihren dampfenden Tee und seufzte. "Na gut. Alles begann vor…hm, inzwischen sind es wohl schon sieben Jahre. Ich wurde von meinem Stamm weggegeben, um unser Dorf zu retten und dann als Sklavin an eine reiche Familie im südlichen Imperium verkauft. Sie…sie behandelten mich sehr schlecht und dachten, sie könnten alles mit mir machen. Naja…eigentlich taten sie das ja auch. Ich lebte in ständiger Angst und es gab Tage, da konnte ich nicht mal schlafen, oder essen, weil sie mich so übel zugerichtet hatten. Ich war für sie ein Haustier." Sie wischte sich eine Träne aus den Augen, bevor sie ihre Wange runterrinnen konnte. "Jeden Abend betete ich, egal zu welchen Göttern, dass sie mich retten sollten. Doch dann, vor…hm, jetzt war es schon vor vier Jahren, kam kein Drache, Erzengel, oder Waldgeist. Es war ein stürmischer Tag, als die Eingangstüre aufsprang und ein Junge mit blauem Umhang und weißer Lederrüstung hereinkam. Auf dem Umhang war das eine Auge. Mein Herr hat mich als Schutzschild verwenden wollen, doch der Junge tötete ihn mit einem Bumerangstrahl. Er brannte das gesamte Haus ab und brachte mich ins Freie. Dort sagte er mir dann, dass ich frei wäre." Sie machte eine Pause. "Und was hast du dann gesagt?" "Ich habe ihn angefleht. Ich bat ihn, dass ich bei ihm bleiben durfte. Ich bat ihn darum, dass er meine Vergangenheit löscht. Ich bat ihn darum, seine Schülerin zu werden, mit grenzenloser Loyalität, so dass ich mich niemals gegen ihn wenden und ihm ewig dienen würde. Er fragte mich, ob ich das wirklich ernst meinte und ob mir klar war, dass ich damit meine Freiheit wegwerfen würde." "Das frage ich mich auch. Du kanntest ihn damals noch nicht, inwiefern wäre das anders gewesen, als dein vorheriges Leben?", fragte Ben. "Es gab einen großen Unterschied. Ich entschied mich diesmal dafür, dass ich es tun wollte. Und er…er erfüllte meinen Wunsch. Es war ein wundervolles Gefühl, als der Zauber mich umhüllte. Doch John löschte meine Erinnerungen nicht, wie er es versprochen hatte. Stattdessen gab er mir die eine Sache, die ich wirklich brauchte. Er half mir, meinen Frieden damit zu schließen. Mit anderen Worten, ich weiß noch ganz genau, was alles passiert ist. Ich weiß nicht, was genau er mit mir getan hat. Darum behauptet er auch immer, dass er meine Erinnerungen verändert hat. Ich denke, normale Leute wie wir können einfach nicht die Komplexität dieses Zaubers verstehen." Ben runzelte die Stirn. "Das heißt also, dass du nicht unter seiner Kontrolle stehst", meinte er und Marilyn lachte. "Mitnichten, ich bin die Herrin meines eigenen Geistes. Das bedeutet aber nicht, dass ich meinem Meister gegenüber nicht absolut gehorsam bin", antwortete sie. "Ich war unglaublich überrascht, als er meine Situation nicht zu seinem Vorteil genutzt hat. Das hat mich so sehr berührt, dass ich ihm meine ewige Treue geschworen habe, obwohl er meine Erinnerungen nicht überschrieben hat. Er hat mich aufgenommen und mit mir trainiert, bis ich so stark wurde, wie ich heute bin. Warum er damals überhaupt zu der Villa gekommen ist, das hat er mir allerdings nie erzählt. Und ich frage mich, ob er es mir jemals erzählen wird", schloss sie ihre Erzählung ab.
"Was ist mit dir?", fragte sie dann und Ben sah sie fragend an. "Mit mir?" "Ja. Ich kenne zwar die ungefähre Geschichte, aber wie genau bist du zu Tammy gekommen?" Ben setzte seine Tasse ab und rieb sich nachdenklich das Kinn. "Das Ganze ist inzwischen fünf Jahre her. Ich kann mich nicht mehr an meine Eltern erinnern, sie haben mich gleich nach meiner Geburt weggegeben. Das Waisenhaus, in dem ich landete, war furchtbar und ich riss mit sechs Jahren von dort aus. Eine Bande Diebe nahm mich auf und brachte mir alles bei, was sie wussten. Sie waren meine Familie, bis unser Versteck eines Tages, ich denke ich war neun, von Wachen gefunden wurde. Barinar, der Anführer der Bande, schrie mich an, dass ich mein Leben noch vor mir hätte, darum sollte ich laufen. Also lief ich. Sie starben alle an diesem Tag, nur um mir eine Chance zu geben. Ich schlug mich zwei Jahre alleine durch, bestahl die verschiedensten Leute und verkaufte das Zeug, das ich ihnen abnahm an Händler. So kamen meine Fertigkeiten auf immer höhere Level. Und eines Tages, da sah ich sie. Eine junge Frau in silberner Rüstung, auf deren Brust ein Erzengel eingraviert worden war. Ich brauchte dringend Geld für mein Essen und dachte mir, so jemand musste sicher ein paar Goldstücke haben. Aber es kam anders. Sie bemerkte mich und ich dachte, dass sie mich dafür einen Kopf kürzer machen, oder mich zumindest den Wachen ausliefern würde. Aber sie lachte. Sie lachte laut, als sie mich bemerkte und klopfte mir auf die Schulter. Sie sagte zu mir, dass sie beeindruckt von meinen Fertigkeiten sei und lud mich in ein Gasthaus ein. Dort stellte sie mich als Begleiter für ihre nächsten Mission ein. Wir lernten uns näher kennen und wurden schlussendlich Freunde. Sie kaufte mir diese Rüstung und half mir, meine Fertigkeiten weiter zu perfektionieren. Nicht nur das, als ich ihr eines Tages von meiner Vergangenheit erzählte, beschloss sie, Gräber für meine alte Familie zu machen. Sie waren natürlich leer, aber trotzdem war ich unfassbar froh, dass sie endlich einen Ort hatten, wo sie ruhen konnten. Tammy ist das Beste was mir je passiert ist. Darum sind wir auch nach all den Jahren immer noch ein Team." Marilyn sah ihn lächelnd an. "Ich bin froh, dass wir uns voneinander erzählt haben", meinte sie und Ben stimmte zu. Die beiden lächelten verlegen und Marilyn rieb sich den Hinterkopf, während Ben versuchte, sie nicht direkt anzusehen. "Also…möchtest du noch Tee?"
"Es kann doch nicht wahr sein, dass sie es so vermasseln! Sie waren so kurz davor!", rief John enttäuscht. Tammy trat zu ihm. "Eigentlich solltet Ihr die Pause nicht dazu nutzen, um unsere Schützlinge auszuspionieren", tadelte sie ihn grinsend mit einem Blick auf das Bild, das vor dem Jungen in der Luft schwebte. "Sie haben gerade eine Vergangenheitserzählung gehabt Tammy", erzählte er ihr, ohne auf ihre Aussage einzugehen. "So etwas ist gut, um Freundschaften zu vertiefen. Ich hatte allerdings gehofft, dass es am Ende zu mehr führen würde." Tammy rollte die Augen. "Ihr lest zu viele Liebesromane John. Warum seid Ihr eigentlich so interessiert an den beiden? Ich dachte, dass Ihr selbst Gefühle für das Mädchen habt", meinte sie. John seufzte. "Ja. Ja das stimmt. Aber ich habe die Angewohnheit, es immer zu vermasseln. Das letzte Mal, als ich in jemanden verliebt war habe ich es so eingefädelt, dass sie sich in jemand anderen verliebt, damit sie mich nur mehr als Freund ansieht." Tammy hörte ihm aufmerksam zu. "Also hat sie Euch damals auch geliebt?", fragte sie. John überlegte kurz. Hatte Krul ihn wirklich geliebt? Im Nachhinein konnte er das selbst nicht mehr mit Sicherheit sagen. "Ja, ich glaube schon", antwortete er schließlich. "Ich dachte, dass ich es mit Marilyn auch so machen könnte, dann würde ich sie nicht verletzen können." Die junge Frau schüttelte den Kopf. "Es klappt nie zweimal auf dieselbe Weise. Ihr müsst zu Euren Gefühlen stehen John. Zumindest dieses eine Mal. Erst dann werdet Ihr sehen, wo sie Euch wirklich hinführen." John wusste, dass sie recht hatte. Marilyn mochte Ben zwar, aber nicht so sehr, wie Ben sie mochte. Da er nicht länger darüber reden wollte, beschloss er, vom Thema abzulenken. "Was ist eigentlich mit Eurer Vergangenheit Tamantha?", fragte John sie plötzlich und die junge Frau sah ihn überrascht an. "Das ist keine sehr lustige Geschichte", murmelte sie. "Das waren die beiden auch nicht", meinte der Junge mit einem Blick auf die beiden Teenager, die nun wieder ruhig in dem Zimmer saßen. "Meine ist nicht wirklich so spannend, wie die der beiden", versuchte Tammy nochmal sich herauszureden. John schüttelte den Kopf. "Sie muss auch nicht spannend sein. Sie ist Eure Vergangenheit und damit allemal wert, angehört zu werden." Mit einer Handbewegung schloss er das Sichtfenster. "Na schön, wenn Ihr darauf besteht", seufzte die Kriegerin. "Ich wurde als Tochter einer reichen Familie geboren. Und mit reich meine ich sehr reich. Unverschämt reich. Ich habe dieses Leben immer gehasst. Ich wollte nie das kleine artige Prinzesschen sein, aber ich musste es tun, weil mich meine Eltern dazu zwangen. Als ich dann zehn war nahmen mich meine Eltern auf ein Turnier mit. Natürlich nicht wegen den Kämpfen, sondern lediglich um politische Kontakte zu knüpfen. Aber ich war gefesselt von den Spielen. Ich wusste sofort, dass ich eines Tages auch so ein Kämpfer werden wollte, der seine Klinge für Gutes einsetzt. Aber das habe ich meinen Eltern natürlich nicht gesagt. Ich wusste, dass sie etwas dagegen haben würden und so beschloss ich, alleine zu trainieren. Ich meldete mich bei der Kriegergilde an und ging fortan jeden Tag dorthin, um zu trainieren. Meinen Eltern erzählte ich, dass ich auf eine Tanzschule gehen würde. Nur meine Maid wusste von meinen Aktivitäten und sie half mir, indem sie mich abends immer im Tanzen unterrichtete, damit ich meine Tarnung weiterhin aufrechterhalten konnte. An meinem fünfzehnten Geburtstag war es schließlich soweit. Ich stahl mich in der Nacht davon, ließ aber noch einen großen Betrag an Goldmünzen mitgehen. Davon kaufte ich mir meine Rüstung und ließ mir einen Erzengel in die Brustplatte eingravieren, sozusagen als Glücksbringer. Mein größter Wunsch war es, wirklich mal einen Erzengel zu sehen. Mit diesem Ziel begann ich, um die Welt zu reisen und eine Abenteurerin zu sein. Und den Rest kennt Ihr ja." John nickte. "Interessant. Danke, dass Ihr mir das erzählt habt." Tammy lächelte. "Und was ist mit Euch? Ihr gebt andauernd Bruchstücke preis, aber werdet Ihr mir jemals auch Eure ganze Geschichte erzählen?", fragte sie. "Das kommt darauf an", meinte John und sie sah ihn fragend an. "Worauf kommt es an?" In diesem Moment läutete die Glocke, die ankündigte, dass die Pause um war. "Tja, zu spät, zu schade", meinte John dramatisch und Tammy schüttelte seufzend den Kopf. "Ist Eure Vergangenheit denn wirklich so schlimm?", fragte sie und John grinste. "Ach wisst Ihr Tammy, das ist eine lange Geschichte. Ich mag es lieber, sie in kleinen Teilen wiederzugeben, das macht es mysteriöser."