Es dauerte nicht lange und die Freunde erreichten den hohen Turm.
Malek sprach: „Dort oben leben Lumniuz und Hungoloz, wie einst Ululala. „Von da oben hat man einen herrlichen Ausblick!“ sprach Pia an Manuel gewandt. „Du wirst staunen.“
Manuel schaute tief beeindruckt, an dem hohen Bauwerk empor, um welches sich eine Wendeltreppe wand. Dieses schillerte und glänzte, als habe man es direkt aus einem Regenbogen heraus gemeisselt.
„Der Aufstieg ist ziemlich anstrengend,“ sprach Benjamin, „aber das schaffen wir schon.“
Malek grinste und meinte: „Ich mache euch einen anderen Vorschlag, wir nehmen einfach den Aufzug!“
„Es gibt einen Aufzug!“ fragte Pia verblüfft.
„Ja. Kommt ich zeige es euch!“
Sie gingen um den Turm herum. Auf dessen Rückseite war ein stabiler Flaschenzug angebracht, an dem man einen grossen, bequemer Korb befestigt hatte.
„Bitte einsteigen!“ sprach Malek galant.
„Hält das denn auch wirklich, wenn wir zu viert hineinsteigen?“ fragte Pia misstrauisch.
„Ja, der Korb ist aus einem sehr starkem Material. Die Waldelfen haben ihn gemacht und sie verstehen etwas von Binsen und Holz.“
„Und das Seil?“ „Auch das hält sehr gut, es ist ebenfalls aus sehr widerstandsfähigem Material und noch mit Magie verstärkt. Der Korb übrigens auch. Also keine Sorge, ausser du willst laufen, liebe Pia.“ Der Magier lächelte verschmitzt.
„Nein, ich vertraue dir,“ sprach die Frau und die Freunde stiegen in den Korb. Malek zog einmal heftig am Seil und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
„Einfach nicht zu nahe an den Rand treten!“ warnte Benjamin. Doch Manuel hörte ihn kaum. Er war zu beschäftigt damit, sich umzusehen. Langsam glitt der Korb, der Turm Wand entlang, nach oben. Bald hatte sie schon eine beachtliche Höhe erreicht. Sie schauten über die Dächer der Schlossanlange hinweg. In der Ferne glänzten wundersam die Kristallberge. Die Wiesen leuchteten in saftigem Grün und der Silberfluss schlängelte sich zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Es war bereits Spätnachmittag und die Sonne leuchteten nicht mehr so intensiv. Einige Wolken zogen am Himmel dahin und warfen ihre Schatten auf das, immer abendlicher werdende, Land.
„Es ist einfach herrlich hier!“ seufzte Pia. „Ich kann noch immer nicht recht fassen, dass wir wieder zurück sind! Lumniuz und Hungoloz freuen sich sicher sehr über unseren Besuch.“
„Worauf ihr euch verlassen könnt!“ versicherte Malek lächelnd. „Sie haben oft von euch gesprochen.“
Pias Herz klopfte auf einmal einige Takte schneller. „Hat Hungoloz auch mal von mir gesprochen?“
Malek zwinkerte ihr zu. „Ja, ein paar Mal schon.“
„Hat er… schon eine Frau gefunden?“
„Bisher nicht. Für ihn ist die Erinnerung an dich, immer noch recht frisch, hat er doch nur etwa um 10 Jahre gealtert.“ „Aber… dann ist er ja erst…26. Bestimmt bin ich nun zu alt für ihn.“
„Ach was! Ihr seid ja nur 7 Jahre auseinander. Die Zeit im Märchenreich vergeht anders, als bei euch.“
Der Korb erreichte nun eine breite Terrasse, welche um den Turm herum führte. Deren Dach, wurde von elegant geschwungenen Säulen getragen. Hier stoppte der Aufzug in einer Nische.
„Seid vorsichtig beim Aussteigen!“ warnte der Magier. Er setzte als erster seinen Fuss auf die Terrasse und half dann den anderen, ebenfalls aus dem Korb zu steigen.
Manuel ging fasziniert um den Turm herum und betrachtete begeistert das vielfältige, tief unter ihnen liegende, Panorama. Seine Freunde beobachteten ihn lächelnd.
Schliesslich meinte Malek: „So nun wird es aber Zeit, dass wir reingehen, um die beiden Schlossherren zu begrüssen! Was meint ihr?“
„Auf jeden Fall!“ rief Pia begeistert und fühlte sich erneut wieder, wie das
13- jährige Mädchen von einst. „Müssen wir nicht dort durch jene Tür!“ „Genau! Du erinnerst dich also noch,“ freute sich Malek und drückte die Klinke der elfenbeinfarbenen Tür herunter.
Kurz darauf standen sie in einem hohen Saal, mit mehreren, übereinander liegenden Galerien.
„Vermutlich essen die beiden gerade zu Abend“ sagte der Magier und erklomm die Treppe, die auf die erste Galerie führte.
Manuel war schrecklich aufgeregt.
„Da oben ist der Speisesaal,“ wandte sich Malek erklärend an ihn. Er öffnete eine weitere Pforte und dann betraten sie den, mit Holz ausgekleideten, Speisesaal. An der grossen, runden Tafel in der Mitte des Raumes, sassen knapp ein Duzend Personen, bestehend aus Zwergen, Gnomen und Waldelfen.
„Guten Appetit!“ rief Malek nun laut. Alle fuhren herum und Pia und Benjamin entdeckten sogleich Lumniuz, der ihnen fassungslos entgegenblickte. Er war kaum gealtert, seine Kleidung war jedoch viel eleganter geworden. Zwar trug er noch immer das obligate Braun. Sein Rock aber, war nun aus feinstem Samt gefertigt.
Er erkannte die Geschwister sogleich, sprang auf und lief ihnen entgegnen. „Pia, Benjamin, ihr… seid es wirklich! Ich glaube ich träume!“
Die drei fielen sich halb lachend, halb weinend, in die Arme. Die anderen im Saal, kamen nun ebenfalls herbei. Pia stellte mit Beunruhigung fest, dass Hungoloz nicht unter ihnen war. Auch ihren Begleitern fiel das auf, doch sie wollten alle den richtigen Moment abwarten, um Lumniuz danach zu fragen. „Es sind die grossen Führer, Pia und Benjamin Turner!“ rief der Erdgnom den anderen Gästen zu, die nun die Neuankömmlinge voller Erstaunen musterten. Tränen der Freude glitzerten dabei noch immer in Lumniuz‘ Augen.
„Setzt euch doch!“ forderte er alle auf und rückte den Geschwistern und ihren Begleitern, einige Stühle, in seiner unmittelbaren Nähe, zurecht. „Bestimmt seid ihr hungrig! Wollt ihr etwas essen?“
„Vielleicht etwas Kleines,“ sprach Pia. Irgendwie war ihr der Appetit vergangen, denn das Hungoloz nicht anwesend war, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Sie konnte schliesslich nicht mehr an sich halten und fragte: „Wo… ist denn Hungoloz, ich dachte, er lebt auch hier.“
Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Erdgnoms.
„Das stimmt. Aber… leider kann er gerade nicht unter uns weilen. Er…ist sehr krank.“
„Er ist krank?“ Entsetzen ergriff Pia. „Was hat er…?“ stiess sie schliesslich hervor, obwohl sie glaubte, die Antwort bereits zu kennen.
„Es ist diese seltsame Seuche, die sich immer mehr in den Welten auszubreiten droht. Irgendwie muss es mit den Phänomenen am Himmel zusammenhängen.“
„Ihr habt sie also tatsächlich auch gesehen?“ fragte Benjamin tonlos.
„Ja, seither ist irgendwie nichts mehr, wie es einst war. Das ist auch mit ein Grund, warum wir hier so viele Vertreter der verschiedensten Völker, am Tisch haben. Überall breiten sich Unruhen und Seuchen aus und Hungoloz… ist leider ein Opfer. Es tut mir leid.“
Der Erdgnom legte Pia mitfühlend die Hand auf den Arm. „Ich weiss…, dass er und du euch immer sehr gemocht habt. Alle an diesem Tisch sind nun hier, um Lösungen für die mannigfaltigen Probleme zu suchen, welche uns zur Zeit heimsuchen. Noch haben wir die Situation einigermassen im Griff, doch alles droht uns immer mehr zu entgleiten. Besonders die Waldelfen, sind in arger Bedrängnis. Viele von ihnen erkrankten bereits, wie Hungoloz, an der seltsamen Seuche, Bäume beginnen abzusterben und ein bisher unbekannter Rebell, versucht an die Macht zu gelangen…“
Bei diesen Worten erhob sich einer der anwesenden Waldelfen. Wie die meisten seines Volkes war er gertenschlank, trug eine grüne Hose und ein dazu passendes Oberteil. Sein kurzes Haar war, wie jenes von Hungoloz, strohblond und er mochte ungefähr so alt wie Manuel sein.
Mit ernster Mine begann er zu sprechen: „Mein Name ist Tartaloz und es ist mir eine grosse Ehre, die Grossen Führer persönlich kennenzulernen!“ Man erzählt sich viele Geschichten von euch. Ihr habt vor Jahren den Weiterbestand der Goldenen Tanne gesichert, den Frieden zwischen dem Waldvolk und der erzürnten Nymphe Miowa wiederhergestellt und auch sonst viele Heldentaten vollbracht. Eure Namen sind in aller Munde.“
„Du gehörst zu Markuloz‘ Stamm?“ wollte Benjamin wissen.
„Ja. Ich wurde zusammen mit zwei meiner Brüder, hierher gesandt, um zusammen mit den anderen Rassen zu beraten. Die Seuche ist überall das grösste Problem. Auch unser grosser Ältester Markuloz, fiel ihr schlussendlich zum Opfer. Er ist leider von uns gegangen“
„Markuloz … ist tot?!“ rief Pia entsetzt und fühlte einen Stich im Herzen. Das Bild eines majestätischen, alten Mannes, mit weissem Haar und gütigem Gesicht, erschien vor ihrem inneren Auge. Die Frau schaute ihren Bruder an. Ihn bewegten wohl dieselben Gedanken. Die zwei hatten Marluloz sehr gemocht.
„Sie sind Auserwählte!" rief eine Stimme hinter ihnen. Es war ein alter Mann, mit vielen Falten und weissem Haar. Auch er trug, wie die anderen Männer und Frauen, eine grüne Hose und ein eben solches Oberteil. Darüber jedoch hatte er einen weiten Mantel aus Blättern geworfen. Majestätisch schritt er einher und alle Anwesenden, traten ehrfurchtsvoll beiseite. Als er vor den Geschwistern stand, glitt ein Lächeln über sein Gesicht und er sprach: „Seid herzlich willkommen! Ich wusste, dass ihr herkommen würdet. Ich bin Markuloz, der Dorfälteste" „Tatsächlich?" fragte Pia. „Ja, ich kenne euren Auftrag." „Das wundert uns nicht“, erwiderte Benjamin etwas ironisch, „alle scheinen diesen Auftrag zu kennen." „Der Alte lächelte erneut vielsagend. „Jedenfalls ist es eine grosse Freude euch bei uns begrüssen zu dürfen."
Markuloz war der Grossvater von Hungoloz und hatte sie damals sehr herzlich aufgenommen, als sie das Waldvolk das erste Mal besucht hatten. Die Geschwister durften mehrere Nächte in seinem Baumhaus verbringen. Es war herrlich gewesen!
Durch heiteres Vogelgezwitscher wurden die Geschwister am nächsten Morgen aufgeweckt. Es war noch ziemlich früh und es dämmerte gerade. Der Wald lag unter ihnen. Alles war ruhig und friedvoll. Es machte einem den Eindruck, als würde die ganze Schöpfung erst erwachen. Die Luft war frisch und rein. Es roch nach Holz, frischem Laub, Harz und Erde. Gerade ging die Sonne über den Kristallbergen auf und tauchte alles in rotgoldenes Licht. Es wirkte, als würde der Himmel in Flammen stehen. Auch Ululalas Schloss erglühte in der Morgensonne. Langsam wurde ihr Schein heller und die Blätter der Baumkronen, begannen in güldenem Licht zu glänzen. Es war herrlich! Die Kinder standen auf dem Balkon und konnten sich kaum satt sehen.
Später packten sie ihre Habe zusammen und kletterten hinunter auf die Lichtung. Die Waldelfen hatten sich bereits zum Frühstück versammelt.
Nun aber… war Markuloz tot… Tartaloz bemerkte die Trauer der Geschwister und seufzte betrübt.
„Er ist vor einer Woche von uns gegangen. Das ganze Waldvolk ist zutiefst erschüttert deswegen. Hunderte kamen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Alle haben ihn geliebt. So lange Markuloz gelebt hat, herrschte stets Frieden und Eintracht, zwischen der verschiedenen Stämmen. Für alle war Markuloz ein grosser Führer. Sie achteten ihn stets, wegen seiner Weisheit und Güte. Es war zum grossen Teil sein Verdienst, dass es kaum Unruhen gab und seit Generationen keine Kriege mehr.“
„Er muss sehr alt gewesen sein,“ bemerkte Benjamin.
„Ja er ist der älteste Waldelf, von dem ich weiss. Man erzählte sich bei uns sogar Geschichten, dass Markuloz der Vater mehrerer Stämme ist.
Sein Tod ist auf jeden Fall eine Tragödie. Das Schlimme daran ist, dass unser Stamm nun ohne einen Führer dasteht.“
„Aber was ist mit Makraloz dem Sohn von Markuloz und Vater von Hungoloz?“ fragte Benjamin.
„Das ist ja das Problem, Darkuloz dieser unselige Rebell, hat ihn entführt. Kurz nachdem unser Ältester starb, begann er Unfrieden zu stiften. Er überfiel mehrere Dörfer und begann die verschiedensten Stämme, gegeneinander aufzubringen. Er strebt eindeutig, nach der alleinigen Herrschaft, über das Waldvolk. Dabei ist er dafür noch viel zu jung und zu unerfahren und er besitzt nicht mal einen Bruchteil der Weisheit und Güte von Markuloz oder auch dessen Nachkommen.
Mit Intrigen und Gewalt versucht er nun seine Ziele zu erreichen. Leider hat er schon einige Erfolge zu verzeichnen. Immer mehr Waldelfen schliessen sich ihm an, sei es aus Überzeugung oder einfach aus Furcht. Niemand will ihm so wirklich die Stirn bieten, abgesehen von unserem Stamm und ein paar wenigen anderen. Doch all unsere Bemühungen helfen nur wenig, denn wir sind ein Körper ohne Kopf. Ausserdem sind wir durch die vielen Kranken in unseren Reihen, sehr geschwächt. Wir haben unsere ganze Hoffnung deswegen auf Hungoloz gesetzt, doch nun ist auch er von dieser schrecklichen Seuche, ausser Gefecht gesetzt worden.“
Erneut spürte Pia einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen, wenn sie daran dachte, wie der geliebte Waldelf auf der Schwelle zum Tode stand. Hätten sie nur diese Feuerblumen schon gehabt!
„Das alles sind wirklich schlimme Neuigkeiten,“ sprach Malek besorgt. „Es wird wirklich höchste Zeit, dass etwas geschieht, denn auch Ismala, Nofretes Mutter, hat diese Seuche erwischt.“
„Ismala auch?“ rief Lumniuz entsetzt.
„Ja, leider! Bisher konnte ich sie mit meiner Magie etwas stabilisieren, doch das ist natürlich keine dauerhafte Lösung.
Wir haben Aurelia die Kristallfrau deswegen um Rat gefragt.“
„Und? Konnte sie euch helfen?“ fragte der Erdgnom hoffnungsvoll.
„Ein Bisschen ja, wenigstens wissen wir jetzt, was es braucht, um die Seuche zu bekämpfen. Malek erzählte nun alles, was sie von Aurelia erfahren hatten.
„Nun wenigstens etwas,“ meinte Lumniuz und ein wenig Hoffnung kehrte in sein bleiches Gesicht zurück.