Er sah sie. Zum ersten Mal sah er sie. Nein. Zum ersten Mal sah er sie richtig. Als wäre eine Nebelwolke, die auf ihr gelegen hatte, von ihr verflogen. Sie lächelte sanft. Er nicht. Er starrte sie an. Mit weit aufgerissenen Augen. Schon immer war etwas Beunruhigendes an ihr gewesen. Ein Instinkt. Etwas, was man nicht wirklich benennen konnte. Ein Rat seines Körpers oder seines Unterbewusstseins. Aber es war so unlogisch gewesen. Sie war so schön. So Freundlich. So unschuldig. Und trotz ihrer golden gewellten Haare und trotz dieses engelhaften Lächelns und trotz dieser klaren, unschuldigen rehbraunen Augen schrie sein Kopf ihn an, zu laufen. Aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Wie festgefroren stand er da, am Abgrund. Am Abgrund seiner selbst. Er wollte laufen, fliehen, entkommen. Und wenn er dafür in den Abgrund springen musste.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Noch immer gehorchte sein Körper ihm nicht. Er sah sie nur an. Dieser liebevolle Blick.
„Ich brauche dich.“
Sie lächelte wieder. „Du kannst mir helfen.“
Versteck dich. Versteck dich, versteck dich, versteck dich. Diese reine Panik, die ihn durchflutete war kaum auszuhalten. Er wollte schreien, weinen, zusammenbrechen, doch er war zu einer Salzsäule erstarrt. Sie hörte nicht auf. Dieses sanfte Lächeln... sie trat auf ihn zu. Ein Schritt. Zwei Schritte. Kurz befreite er sich von seiner Paralyse. Ein Schrei drang aus seiner Kehle, er stolperte rückwärts. Sie trat weiter auf ihn zu. Er schlug nach ihr, blind durch seine Tränen, seine Sicht war verschwommen. Er stieß gegen eine Wand. Panisch sah er, wie sie einen bedauernden Gesichtsausdruck aufsetzte. Sie hielt sich die Seite. „Das war nicht nett. Das war nicht in Ordnung. Ich will doch nur, dass du mir hilfst.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Warum tust du das? Ich will doch nur einen kleinen Gefallen!“ Panik wallte erneut in ihm auf. Er presste sich an die Wand, ein Wimmern drang aus seiner Kehle, aber so sehr er es wollte, er konnte die Augen nicht verschließen. Sie hielt ihn gefangen. Wieder konnte er sich nicht Bewegen. Sie stellte sich vor ihm auf. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, durchnässten den Kragen ihres Kleides. Sie strich ihm mit klammen Fingern über seine Wange. „Bitte. Sei nicht grausam. Sei der, den ich kennen lernte!“ Er konnte sich nicht bewegen. Er gab einen krächzenden Laut von sich, sank an der Wand hinab. Sein Körper gehorchte nicht. Ihr Ton wurde noch verzweifelter. „Ich brauche dich! Bleib bei mir!“
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Was war Realität? War es diese weinende Frau oder seine Instinkte? Wer war im Recht? Warum war er hier? Was wollte sie von ihm? Was wollte sie von ihm? „Was willst du von mir?“ Er schaffte es, seinen Mund zu bewegen. Alles war schwer wie Blei. So taub. „Deine Hilfe.“ Hoffnung flackerte in ihrem Blick auf.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
„Wirst du mir helfen?“ Nein. Nein. Nein! Er wollte weg, nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen. „Natürlich.“
Was? Was? „Danke! Oh glaube mir, du machst mich zum glücklichsten Menschen dieser Welt!“ Sie war kein Mensch. Er war sich nicht einmal sicher ob sie überhaupt lebte. Sie richtete sich auf und nahm seine Hand. Ihre kristallklaren Tränen waren verschwunden. Wieder lächelte sie und zog ihn auf die Beine.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Ihre Hand war weich und kleiner als seine, aber irgendwie leblos. Grauen durchflutete ihn, zerriss beinahe seinen Verstand. „Lass mich los! Bitte!“ schrie er, wieder rollten Tränen über seine brennenden Wangen, aber er war nicht in der Lage sich loszureißen. „Aber warum denn? Du willst mir doch helfen.“ Sie legte beide Hände an seine Wangen. Sie waren eiskalt. Ihre Augen waren groß und ein wenig verunsichert. Er wollte nicht, dass sie ihn berührte! Geh Weg! Geh weg geh weg geh weg! Lass mich frei! Doch nichts drang nach außen.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Er fühlte, wie sein Gesicht ein Lächeln formte. Was tat er da? Warum? Wie? Er wollte schreien, um sich schlagen, laufen, doch nur ein Schauer rann seinen Rücken hinab. „Es ist alles in Ordnung. Ich werde dir helfen.“ Nein. Nein. Nein! Alles in ihm schrie vor Panik, als sie ihn anlächelte und vorwärts zog.
Und er ging mit.
Sie führte ihn durch dieses Labyrinth aus den steinernen Wänden. Und er tat nichts dagegen. Stumme Tränen flossen seine Wangen hinab, doch dieses Lächeln war in seinem Gesicht eingemeißelt. Er konnte es nicht verschwinden lassen. Dieses kranke Lächeln. Wie dieses Wesen vor ihm und diese Räume, Wände und Möbelstücken, die sie passierten war es makellos. Zu Perfekt.
Sein Körper verkrampfte sich. Schmerz schien das Blut in ihm zu ersetzten. Ein ziehendes, zerfetztendes Reißen. Sein Blick klärte sich. Trotzt dieser Krämpfe sah er klar. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er, was sie war, was dieser Ort war. So gewaltig. So schön. So grausam. Alles war verfallen. Die Mauern bröckelten. Alles war voller Staub und Spinnweben, Möbel und Fenster waren zerbrochen, Türen waren aufgerissen wie Mäuler. Alles war verfallen. Auch die Person, die so eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte. Ihre Haut und ihr Haar waren Tiefschwarz, Sie war Spindeldürr und ihr Mund war zu einer unnatürlich grinsenden Fratze verzogen, spitze Zähne ragten hervor, auch dort, wo eigentlich der mittlere Teil ihrer Wangen sein sollte. Die Hand, die seine rechte umklammerte, war zu einer Klaue gewachsen. Schwarze Adern gingen von der Stelle aus, an der sie sich festkrallte, wie ein Parasit. Sie pulsierten, als würden sie Gift in seinen Körper pumpen. Nein. Kein Gift. Reine Verzweiflung und Tod. Und ihre Augen. Diese Augen. Sie waren reines Silber. Leblos.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Er kehrte in die Wirklichkeit zurück. Oder war dies das Trugbild? Es war ihm gleich. Er wollte in den Abgrund springen, der sich neben seinem Geist aufgetan hatte. In diese warme, einladende Schwärze. Er wollte all dem entkommen. Seine Knie gaben nach. Er lächelte immer noch. Konnte nicht aufhören. Tränen flossen sein Gesicht hinunter, stärker als je zuvor. Sein gesamter Körper hatte sich verkrampft, der Schmerz hielt nicht an, aber die Panik über die Wahrheit, die er gesehen hatte, krampfte sich fest in seine Eingeweide. Sie drehte sich um. „Was ist denn? Ist alles in Ordnung?“ Ein lieblicher, besorgter Blick. Aber sofort schob sich der Eindruck der grinsenden, schwarzen Fratze mit den toten Augen darüber. Er zitterte. Nein! Nein nichts ist in Ordnung! Bitte, Bitte lass mich einfach los! Ich flehe dich an! Lass mich allein! Lass mich in den Abgrund springen! „Es ist alles in Ordnung.“ hörte er sich sagen. „Ich brauche nur eine kleine Pause.“ „Es ist nicht mehr weit.“ wiedersprach sie. „Wenn wir da sind, kannst du dich kurz ausruhen.“ Irgendetwas zwang ihn zu nicken. Er wehrte sich dagegen, aufzustehen.
Er war zu schwach.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Sie führte ihn in eine Halle. Sie war rund und eine Glaskuppel gab freie Sicht auf den klaren Nachthimmel. Der Boden war aus weißem Mamor und makellos. Zu perfekt. Blühende Pflanzen standen überall herum, ein eigenartig süßlicher Geruch hing in der Luft. In der Mitte stand eine Art Tisch oder Podest, aber es war verhüllt. Die Plane beulte aus, aber was darunter lag, war nicht zu erkennen. Sie lächelte. „Setz dich!“ Sie deutete auf einen Stuhl, der irgendwie nicht in die Szenerie passte. Wie in Trance ging er ihrem Befehl nach, sein Bewusstsein hatte sich zu einem kleinen, zitternden Ball zusammengekauert, unfähig, sich zu wiedersetzten. Sein Blick war auf seine Hände gerichtet. Er hörte, wie sie sich von ihm fortbewegte, ihre nackten Füße tappten auf dem Mamor in die Mitte des Raumes. Raschelnder Stoff. Sie entfernte die Plane. „Schau!“ Nein. Er wollte nicht. Er musste. Nein. Er musste. Nein! Er musste. Er weigerte sich. Seine pure Angst hielt ihn davon ab. Noch immer lächelte er. Noch immer brannten seine Wangen von den Tränen. „Jetzt schau schon!“ Er reagierte nicht. Bis ein krampfender Schmerz die Muskeln in seinem Nacken und Hals zwang, aufzuschauen. Ein krächzender Schrei drang aus seiner Kehle, mehr brachte er einfach nicht mehr zustande. Seine Nägel bohrten sich in seine Handflächen. Bei Gott. Bei allem was heilig ist.
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Auf diesem Tisch. Dieser verdammte Tisch. Wie war es überhaupt möglich? Der Tisch war mit Schrammen übersäht. Und auf dem dunklen, verschrammten Holz... Flügel. Es waren Flügel. Halbfertige, knochige, gefiederte Flügel. Die Federn. Sie waren alle einzigartig. Braune, weiße, graue, schwarze, gefleckte. Jede war anders. Und sie schrien. Jede einzelne Feder schrie auf mentaler Ebene. Knochen ragten unter den Federn hervor, nur die Hälfte von ihnen war bedeckt. Danach ragten Knochen unter dieser weichen Schicht heraus. Sie waren abnormal groß. Liebevoll strich sie über die linke Schwinge. Die Schreie in seinem Kopf schwollen an. Angst wallte erneut in ihm auf, aber diesmal hielt sie ihn fest in ihrem Griff. „Das ist es, wobei du mir helfen kannst.“ Sie lächelte. „Komm her.“
Lauf. Flieh. Versteck dich.
Keinen Schritt. Keinen einzigen Schritt würde er in die Richtung dieser Dinger machen. Keinen. Verfluchten. Schritt. Aber wieder verkrampfte sich sein Körper. Diesmal geißelten die Schmerzen seine Beine. Sie zwangen ihn, aufzustehen und in die Richtung der Flügel zu taumeln. Die Schreie wurden immer lauter. Und lauter. Und lauter. Sie schrien ihn an, er solle verschwinden.
Laufen. Fliehen. Sich verstecken.
Doch er stand schon direkt vor ihr. Ernst sah sie ihn an. „Ich bin dir sehr dankbar weißt du?“ Sie legte ihre kleinen, weichen, klammen, leblosen Hände auf seine Wangen. Er begann zu zittern. Die Kälte breitete sich aus. Verschlang ihn. Er fühlte wie er von Sekunde zu Sekunde kälter und kraftloser wurde. Doch erst als ihm eine ergraute Haarsträhne in sein Gesicht fiel, wurde ihm klar, was passierte. Er alterte. Und je schwächer er wurde, desto mehr wurde sie zu dem Wesen, welches ihm unter den Krämpfen seiner Angst erschienen war. Sanft strich sie über seine eiskalte Wange, fuhr seinen Wangenknochen nach, der mehr und mehr herausstach. Das letzte was er sah, war die gehässig grinsende Fratze, die er einmal für seine Freundin gehalten hatte.
Sie sah zu, wie der Körper schwächer und älter wurde. Wie er zu Staub zerfiel. Sie wusste, dass sie in ihre wahre Seele hineinwuchs. Sie konnte es in seinem Gesicht sehen. An dem gespiegelten Entsetzten. Dieser Vorgang faszinierte sie bei jeden Mal aufs Neue. Wie sich rasend schnell Falten bildeten, wie sein Körper langsam ausmergelte, wie sein Haar einen silbrig schimmernden Grauton annahm. Sie liebkoste seine Wange noch einmal, über ihr eigenes Wunder verzückt.
In weniger als einer Minute lag nur noch ein Staubhaufen vor ihr. Die Reste seines Körpers rieselten zwischen ihren Fingern hindurch. Doch seine sanfte, reine Seele lag nun offen da.
Und sie begann zu Wimmern.
Liebevoll zog sie den Spiegel seiner gesamten Persönlichkeit aus den Überresten seines Körpers. Strich den Staub von der weichen Oberfläche. Eine schwarze Flugfeder, lang und kräftig. Ein silberner Schimmer lag auf ihr. Sanft hauchte sie einen Kuss auf die samtige Oberfläche. Die gepeinigte Seele stieß einen hysterischen Schrei aus. Ungerachtet dessen brachte sie die Feder zu ihren Flügeln und hielt sie an die äußerste Spitze eines Knochens. Die Feder wurde fast schon gewaltsam aus ihrer Hand gerissen und mit dem Knochen verbunden, dann wurde aus dem Wimmern ein Schreien. Schmerzens- und Entsetzensschreie erklangen, als die Knochen begannen, die Seele zu verschlingen und sich Untertan zu machen. Er fügte sich perfekt ein. Es fehlte noch viel. Aber sie war geduldig.
Bald war sie frei.
Bald.
Und bis dahin würden ihre Seeelenfresser gute Dienste leisten.