Es dauert eine ganze Weile, bis die Tattoos fertig sind, ein jedes davon ein wundervolles, einzigartiges Kunstwerk. Devi erklärt mir jedes Symbol ausführlich, dessen sie sich bedient. Einige sind für die Stärkung von Körper und Seele hilfreich, einige dienen dem Schutz, andere fördern die innere Ruhe. Manchmal glaube ich das wirklich zu spüren, doch mein rationeller, westlicher Verstand fegt diese Eindrücke sogleich wieder beiseite. Ich fühle mich sicherer mit diesen Symbolen auf meinen Armen, Beinen und Schultern und doch glaube ich nicht wirklich daran. Es ist seltsam widersprüchlich. Devi scheint genau zu wissen, was in mir vorgeht. Doch sie lächelt nur vielsagend und setzt ihre Arbeit mit gleichbleibender Vorsicht und Liebe fort. Am Ende stehe ich sprachlos vor ihrem grossen, vergoldeten Spiegel und bewundere das Gesamtwerk. «Das sieht wirklich ganz toll aus!» freue ich mich und hole dann doch etwas Geld aus meinem Geldbeutel. Devi jedoch winkt ab: «Nein, es ist gut so. Ich will ihnen diese Tattoos zum Geschenk machen, immerhin sind sie eine von der Göttin Auserwählte.» Sie faltet ihre Hände vor der Brust und verneigt sich leicht vor mir. Ich erwidere den Gruss etwas unbeholfen. Devi lächelt erneut und spricht: «Dann hoffe ich inständig, dass sie ihren Weg finden werden. Denken sie stets daran: So lange sie nicht alle Teile ihrer Selbst, auch jene die ihnen Angst oder Kummer bereiten anerkennen, werden diese ihnen Schwierigkeiten bereiten. Die Tattoos unterstützen sie bei ihrem Weg der Selbstfindung, aber die nötigen Schritte müssen sie selbst machen. Vielleicht wäre es klug, wenn sie sich Hilfe holen, um all ihre Traumata zu bearbeiten.» «Sie meinen ich soll zu einem Seelenklempner?» frage ich etwas ironisch. «Nein, ich denke nicht, dass ich das tun werde. Ich halte nichts von derlei Dingen.» «Aber was wäre denn daran so verkehrt?» fragt Devi erstaunt. «Das mache ich einfach nicht! Bei uns in der Familie waren solche Dinge verpönt. Sie müssen wissen, meine Eltern und ich, sind aus einem fremden Land hierhergekommen, als Krieg war und dort hiess es immer, man müsse stark sein und dass Psychotherapie und all diese anderen Heilmethoden nur Humbug sind.» Devi nickt mit ernster Miene und erwidert: «Dann wollen sie sich also nur nicht helfen lassen, weil ihre Familie solche Dinge abgelehnt hat? Leben sie denn das Leben ihrer Familie, oder schon ihr eigenes?» Diese Frage bringt mich irgendwie in Verlegenheit und ich weiss nicht recht was antworten. «Hätte ihre Familie sich solche Tattoos von mir machen lassen, wie sie es getan haben?» «Nein, wohl eher nicht.» «Aber sie selbst haben es getan. Warum?» «Nun, man weiss ja nie zu was es nützen sein kann. Frei nach dem Motto: Nützt es nichts, so schadet es nichts.» «Dann sagen sie sich das doch auch, wenn sie zu einem Therapeuten gehen!» Darauf weiss ich nun wirklich nichts zu erwidern.
Tatsächlich hält mir Devi da gerade einen Spiegel vor… Mein Blick wandert automatisch zu dem Spiegel hinüber, der an der Wand hängt und in dessen prunkvollem, schweren Rahmen sich das sanfte Licht des Raumes bricht. Noch einmal stelle ich mich davor und unbewusst versuche ich zu erkennen, was sich in dem klaren Glas spiegelt, wenn ich hineinschaue. Bin wirklich ich das? Bin ich diese hagere, bleiche, von Leid gezeichnete Person, oder liegt noch etwas anderes dahinter. Und auf einmal erkenne ich diese anderen Menschen in meinem Gesicht, jene Menschen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin, oder scheine zu sein. Ich sehe Amir, in den tiefen Schatten unter meinen Augen. Die Schatten scheinen ein Überbleibsel zu sein, von den vielen Schlägen, all den blauen, blutunterlaufenen Augen, die er mir einst zugefügt hat. Die tiefen Falten sind wie die Narben, die seine Misshandlungen an mir zurückgelassen haben. Meine verkniffenen, dünnen Lippen rühren von der Strenge und Härte meinen Eltern her, die vor lauter selbst erlebtem Kummer und Schmerz, kalt geworden sind und zu keinen Gefühlen mehr fähig. Ich fühle mich wie eine halbtote Hülle, die schon in ganz jungen Jahren, angefangen hat zu sterben und all das zeigt dieses Gesicht. Es spiegelt sich in diesem wundervollen Spiegel und ich begreife, dass ich schon ewig lange nicht mein eigenes Leben gelebt habe, sondern nur das von all diesen anderen Menschen.
Tränen steigen in meine Augen und auf einmal beginne ich hemmungslos zu weinen. Immer weiter weine ich und es ist, als würden all die Tränen, die schon so lange versiegt waren nun gleichzeitig aus mir herausfliessen. Mein ganzer Körper wird geschüttelt, von einem Weinkrampf nach dem andren und ich sinke zu Boden. Ich spüre Devis warme, sanfte Arme, die mich festhalten und stützen und ich weine, weine immer weiter ihn ihren duftenden Sari hinein. Es ist als würde alles aus mir hervorbrechen, wie eine unaufhaltbare Flut, die alle Dämme auf einmal bricht. Mein ganzer Körper scheint zu weinen, mein Herz, meine Glieder, meine Bauchmuskeln, sind zu einer bebenden Masse geworden. Das Weinen strengt mich unglaublich an, doch zugleich spüre ich auch ganz deutlich, wie es mir dadurch immer leichter und leichter wird. Devi hält mich einfach fest, gibt mir Halt und lässt mich weinen. Ich weiss nicht, wie lange es gedauert hat, bis ich mich langsam wieder beruhigen kann. Ich habe richtigen Muskelkater von den heftigen Weinkrämpfen, meine Kehle ist rau, meine Nase läuft und ich fühle mich wie ausgekotzt. Devi bringt mich zu einem der Stühle und fordert mich auf, mich zu setzen, dann reicht sie mir ein Taschentuch und ein Glas Wasser. «Es… tut mir leid!» stammle ich «Ich weiss nicht was mit mir passiert ist. Auf einmal kamen die Tränen, denn mir wurde klar, wie viel ich in meinem Leben doch von andren abhängig gewesen bin. Ich… habe nie wirklich erfahren, was es heisst mich selbst zu sein. Ich weiss auch jetzt noch nicht, wie das gehen soll. Ich habe es nie gelernt. Mein Gott, ich habe das wirklich nie gelernt!» Schon wieder kommen mir die Tränen.
«Vielleicht ist es ja auch das worin sie die Göttin unterstützen will,» meint die Inderin. «Aber… so gewalttätig wollte ich doch niemals sein.» «Dennoch zeigt die Göttin ihnen etwas auf, vielleicht müssen sie nur zuerst herausfinden was genau und dann einen guten Umgang damit finde. Gehen sie doch zu einer Therapie. Es gibt da viele gute Leute. Ich kann ihnen ein paar Namen aufschreiben, wenn sie wollen. Ich kenne eine Menge Leute.» Ich wische mir meine Tränen ab und nicke dann. Ja. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Es zählt ja schliesslich nicht, was meine Eltern davon gehalten hätten, sondern nur, was ich selbst davon halte. Hilfe brauchte ich wohl, das lässt sich nicht mehr leugnen und darum beschliesse ich, mich gleich am nächsten Tag nach einem geeigneten Therapeuten umzuschauen. Dankbar verabschiede ich mich von Devi und gehe dann langsam heimwärts.
9. Kapitel
Die Kräfte nutzen
Meine Augen brennen immer noch von den vielen Tränen und mein Körper, auch mein Kopf schmerzen stark.
Ich will gerade in die nahegelegene Apotheke, um mir noch eine Packung Aspirin zu besorgen, als mir ein junges Paar entgegenkommt. Zuerst erkenne ich sie nicht sogleich, doch dann trifft es mich wie ein Schlag. Es ist die Service Angestellte Monica, von der ich die letzte Zeit so oft geträumt habe. Bei ihr ist ein dunkelhaariger Mann, der mich sogleich an Amir erinnert. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, als sie zusammen lachend an mir vorbeigehen und mich nur ganz flüchtig grüssen. Monica hat mich gar nicht richtig wahrgenommen! Ich schaue den beiden hinterher und Zorn sammelt sich in meinen Eingeweiden, wie übles Gewürm. Ich will schreien, will irgendwas kurz und klein schlagen, so sehr trifft mich die Erkenntnis, dass Monica bereits in festen Händen ist. Wie hätte es auch anders sein können? Plötzlich spüre ich Hass in mir aufsteigen, Hass welcher diesem Schnösel gilt, der Monica begleitet. Man sieht ihm doch an, dass er ein elender Macho ist und seine Freundin bestimmt nicht gut behandelt. Warum nur fallen immer alle Frauen, auf solche Typen herein? Die sind doch eh alle gleich. Der rote Nebel der Wut, verdichtet sich erneut vor meinen Augen. Ich merke bereits wieder, wie ich die Kontrolle zu verlieren drohe. Beinahe fluchtartig betrete ich die Apotheke und versuche mich dahingehend abzulenken, nach dem Aspirin in den vielen Gestellen zu suchen. Als die Verkäuferin in der weissen Apothekerschürze mich freundlich fragt, ob sie behilflich sein kann, beruhige ich mich wieder etwas. Sie kann ja nichts dafür, dass ich in so einem Zustand bin. Ich äussere meinen Wunsch und sie holt mir sogleich das Aspirin. «Vielleicht noch ein paar Baldrian Dragees dazu,» sage ich, denn ich brauche etwas zur Beruhigung. Die Apothekerin reicht mir auch die Dragees, ich bezahle und verlasse dann das Geschäft wieder.
Mit schnellem Schritt, als wäre ich auf der Flucht vor irgendetwas, gehe ich nach Hause und schliesse atemlos die Tür hinter mir zu. Dann werfe ich mich auf mein Sofa und beginne wieder hemmungslos zu weinen. Die ganze Wut, die Trauer und die Enttäuschung darüber, etwas nach dem ich mich so verzehrt habe, wieder an so einen Mistkerl, der Amir so ähnlich scheint, zu verlieren, ist beinahe unerträglich. Warum nur warum, ist das Leben so verdammt grausam? Wieder hole ich das Messer hervor und beginne mich zu ritzen, es ist das einzige was mir gerade wieder hilft um den Druck auf meiner Seele abzubauen. Immer wieder und wieder schneide ich mich. Blut quillt hervor, ich weine und schneide immer mehr immer heftiger, meine Tränen vermischen sich mit dem Blut. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit endlich tief genug zu schneiden und mich aus dieser Welt zu verabschieden, endgültig.
Aber… wenn ich das tue, dann kann ich Monica gar nicht mehr schützen und ich muss sie doch vor diesem Mann beschützen, der bestimmt keine guten Absichten hat. Ich werde nicht zulassen, dass Monica dasselbe passiert wie mir! Dieser Gedanke gibt mir auf einmal wieder Kraft und ich werfe das Messer von mir. Ich schaue in den Spiegel und durch meine Augen schimmern erneut die dunklen, funkelnden Auge der Rachegöttin...