"Es war die Zeit nachdem der flammende Berg ausgebrochen ist", erzählte Leila. "Es schien fast schon so, als wäre dieser Ausbruch ein Signal gewesen. Ein Signal für eine dunkle Ära, in der der Erdkontinent in die Flammen des Krieges gehüllt war. Chin der Eroberer wollte den damaligen Erdkönig stürzen und nahm die entlegensten Winkel des Erdkönigreiches ein. Er wollte so viel Land wie möglich besitzen, ehe er nach BaSingSe marschierte. En-Die kämpfte in den ersten Schlachten mit, doch dann…dann passierte etwas Schreckliches."
En-Die sah sich um. Überall in seinem Umfeld flogen Erdbrocken durch die Luft und Gestein erhob sich aus dem Boden, ehe es wieder verschwand. Die Schlacht war in vollem Gange, doch der Schatten war nicht wirklich bei der Sache. Es war erst ein halbes Jahr her, seit der flammende Berg ausgebrochen war. Er kämpfte nicht, um zu helfen, sondern um sich abzulenken und in seinem tiefsten Inneren schämte er sich dafür. Er wehrte einen weiteren Angriff ab und fegte den Erdbändiger mit einem Arm weg, wobei der Mann in hohem Bogen über das Schlachtfeld flog. Er schüttelte den Kopf und wollte sich gerade auf den Weg zurück hinter die Palisaden machen, da hörte er einen verzweifelten Schrei. Er fuhr herum, denn er erkannte diesen Schrei. Wie hätte er ihn auch nicht erkennen sollen, kam er doch nicht von einem Menschen, sondern dem Reittier des Schattens, Sanchandra. Er sah, dass der goldene Skorpion hinter den Palisaden hervorgekommen war, um zu ihm zu gelangen, doch eine Gruppe Erdbändiger hatte gemeinsam ihre Beine mit Gestein umhüllt und waren nun kurz davor einen spitzen Felsen in ihren Kopf zu treiben. Die Zeit schien in diesem Moment stehen zu bleiben. Die Geräusche um ihn herum verstummten und er konnte nichts anderes mehr sehen als Sanchandra, die dort auf dem Boden lag. Sie war das Einzige, was ihm von seinem Volk, von seiner Vergangenheit noch übriggeblieben war. Sie war die letzte ihrer Art und nun sah sie ihrem Tod ins Auge. En-Dies Zähne knirschten, als sie sich aneinander rieben. Sein Mantel breitete sich aus und ließ ihn noch größer erscheinen, als er sowieso bereits war und seine Augen flammten auf. Mit drei gewaltigen Sprüngen war er bei dem Skorpion, attackierte den ersten Erdbändiger mit einem lauten, brüllenden Schrei und zerschmetterte seinen Körper einfach, als er ihn passierte, als wäre er aus Luft. Mit Hieben, die die Mauern von BaSingSe zum Beben bringen hätten können, griff er die übrigen Bändiger an, von denen nichts anderes als Blutlachen zurückblieben, nachdem ihre Körper durch seine Attacken buchstäblich explodiert waren. Dann stampfte er auf den Boden und pulverisierte die Felszangen, die Sanchandra geschnappt hatten. Der Schatten atmete schwer, als er sich beruhigte, doch dann bemerkte er etwas. Er bemerkte, dass die Erdbändiger unter Chins Befehl nicht mehr angriffen. En-Die blickte in ihre Gesichter, wo er blankes Entsetzen und gewaltige Furcht sah. Dann wanderte sein Blick auf seine blutverschmierten Hände und er realisierte, was er gerade getan hatte. Sanchandra trat zu ihm, klackte mit ihren Kiefern und stupste ihn beruhigend an, um ihn zu trösten, da sie genau verstand, dass ihr Herr gerade unglücklich war. En-Die fiel auf seine Knie und schmetterte seine Hände in die Erde, die tiefe Risse bekam. Er blickte wieder vom Boden auf und sah die feindlichen Erdbändiger an. "Verschwindet! Bevor ich euch auch noch umbringe!", rief er und die Soldaten suchten eiligst das Weite. Sie hatten offenbar keinen Zweifel daran, dass der Schatten seine Drohung wahrmachen würde. Doch En-Die hatte nicht vor, irgendetwas zu tun. Er wollte nur, dass niemand in seiner Nähe war, damit er niemanden mehr verletzen konnte. "Was habe ich getan?", flüsterte er. "Was habe ich nur getan?"
"En-Die zog sich danach von den Kämpfen zurück. Er hatte Angst. Angst vor sich selbst", beendete Leila ihre Erzählung. Ihre Freunde sahen sie mit gemischten Gefühlen an. Sie konnten sich alle nicht wirklich vorstellen, dass ihr Freund zu so etwas in der Lage war, doch gleichzeitig wussten sie genau, wie mächtig En-Die war. "Er hält jeden Tag so viel seiner Kraft zurück", murmelte Toph und alle stimmten ihr zu. "Ihr erinnert euch noch daran, wie er die Feuernationsflotte am Nordpol angegriffen hat, oder?", fragte Aang und Katara nickte, während die Erdbändigerin ihren Freund fragend mit ihren blinden Augen ansah. "Stimmt, du warst damals noch gar nicht bei uns", erinnerte sich der Luftbändiger, der sich inzwischen schon so sehr an Toph gewöhnt hatte, dass er tatsächlich für einen kurzen Moment vergessen hatte, dass sie erst später zu ihnen gestoßen war. So erzählte er ihr von En-Dies erstem Einsatz seiner Schattenflammen. Toph, die diese Technik in BaSingSe bereits miterlebt hatte, war dennoch sehr überrascht, als sie von der Macht der komplett entfesselten Attacke hörte. "Dann hat er bei dem Bohrer…", begann sie und Aang nickte. Sie spürte sein Nicken und verstummte. "Er hat sich extrem zurückgehalten", bestätigte der Avatar ihre Vermutung. Toph schauderte, als sie realisierte, dass der Schatten den Bohrer durchaus komplett in die Luft jagen hätte können. Doch viel mehr erschreckte sie der Gedanke, was wohl mit dem untersten Ring von BaSingSe passiert wäre, wenn En-Die seine volle Kraft angewendet hätte. "Wisst ihr noch damals, als er mit Sokkas Bumerang fast einen ganzen Hain entwurzelt hat?", fragte Katara da, um die Stimmung etwas zu lockern. Die anderen mussten kichern. "Er hat mir davon erzählt", meinte Leila lächelnd. "Mir nicht", schloss Toph an. "Aber so eine Aktion kann ich mir bei ihm ziemlich gut vorstellen", fuhr sie dann fort und musste sich zurückhalten, um nicht zu lachen, was nur dazu führte, dass die Anderen in prustendes Gelächter ausbrachen.
Das Lachen seiner Freunde hallte durch die Schlucht und En-Die, der kopfüber von einer der höheren Etagen des Tempels hing musste leicht schmunzeln. Die Vergangenheit ist das, was sie ist. Vergangenheit. Er sah keinen großen Sinn darin, sie zu bereuen, oder sich zu fragen, ob er etwas anders hätte machen können. Er schloss seine Augen und erinnerte sich an jenen Abend, als der große Erdkrieg zu Ende ging.
Es war ein Abend wie jeder andere, seit En-Die sich aus den Kämpfen zurückgezogen hatte. Er saß in seinem Zimmer in einer abgelegen Hütte am Rande des großen nebeligen Sumpfes und bereitete sein Abendmahl zu, als die Türe geöffnet wurde. Jede andere Person hätte geklopft, aber da diejenige, die hereinkam Kyoshi war, wunderte den Schatten das Verhalten seines Besuches nicht wirklich. "En-Die, komm mit mir!", kam der Avatar direkt zur Sache. Der Schatten sah von seiner Holzschüssel auf und betrachtete sie nachdenklich. "Du kannst nicht ewig in dieser Hütte hier versauern, nur weil du fünf Menschen getötet hast." Er nahm einen weiteren Schluck von seiner Suppe, ohne auf sie einzugehen. Kyoshi knirschte genervt mit den Zähnen und trat zu ihm. Mit einem Schwung ihres Armes fegte sie die Holzschüssel aus seinen krallenartigen Händen. "Das ist nicht sehr höflich gewesen", meinte En-Die ruhig. Kyoshi schnaubte verächtlich. "Und? Was wirst du jetzt schon groß machen?", fragte sie ihn herausfordernd. "Ich werde die Schüssel aufheben und sie neu auffüllen", antwortete er bloß, was sie offensichtlich nicht zufrieden stellte. "Es reicht! Es sind über zwanzig Jahre vergangen! Zwanzig Jahre, die du hier verbracht hast!", rief sie. "Nichts als ein Wimpernschlag im Leben eines Schattens", entgegnete er. Kyoshi reichte es nun endgültig. Sie nahm ihre Fächer von ihrem Gürtel und stellte sich kampfbereit vor ihm auf. "Ich fordere dich heraus! Kämpfe gegen mich, oder stirb! Aber verschwende dein Leben nicht mit Nichtstun!" Der Schatten sah sie unbeeindruckt an. "Denkst du wirklich, dass du mich besiegen kannst, Kyoshi?", fragte er. "Ich habe keine Angst vor dir", erwiderte diese daraufhin. "Dann wirst du mutiger verlieren als die Meisten", seufzte er und verpasste ihr einen Hieb, den sie zwar mit ihren Fächern abwehrte, der sie aber dennoch durch die Holzwand nach draußen schmetterte, wo sie schlitternd zum Stehen kam.
En-Die trat aus der Hütte und erkannte, dass der Avatar ganz und gar nicht beeindruckt war. Im Gegenteil. Kyoshi knackte mit ihrem Genick, dann stürzte sie mit einem lauten Schrei auf ihn zu. Neben ihr schossen Felsen aus dem Boden, die auf En-Die zuschossen. Der Schatten wich gerade noch rechtzeitig aus und sprang gut zehn Meter in die Luft. Doch Kyoshi reagierte sofort und ließ einen Flammenstrahl auf ihn los. En-Die absorbierte die Flammen, so wie er es immer tat und sandte sie in Form eines Plasmaballes zu Kyoshi zurück. Doch der Avatar war ihm bereits einen Schritt voraus, denn der Plasmaball erreichte nicht mal sein vorgesehenes Ziel. Stattdessen prallte er gegen einen Magmabrocken, den Kyoshi aus der Erde geformt und zu ihm geschossen hatte, während er mit den Flammen abgelenkt gewesen war. Der Magmabrocken explodierte in En-Dies Gesicht und sandte den Schatten krachend zu Boden. "All die Jahre hier im Sumpf haben dich schwach gemacht, En-Die vom flammenden Berg! Eine Schande für alle Schatten!", rief die Frau und ging erneut auf ihn los. Er sprang auf und sein Mantel wurde zu mehreren peitschenartigen Gebilden mit messerscharfen Spitzen, die ihre Schläge auf Kyoshi niederregnen ließen. Der Avatar wehrte den Angriff mit ihren Fächern ab und bald schon folgte ein herber Schlagabtausch, bei dem keiner der beiden besonders hervorstach. "Kein Schatten ist mehr hier, für den ich eine Schande sein könnte!", rief En-Die wütend, während er still dastand und seinem Mantel das Austeilen überließ. Kyoshi erzeugte eine Druckwelle, die ihrem Gegner den Boden unter den Füßen wegzog. "Mit diesem Glauben ehrst du ihr Andenken nicht! Du beschmutzt es!", konterte sie. Der Schatten schrie auf und ein gewaltiger Plasmastrahl schoss aus seinen Händen. Die Bäume die getroffen wurden, wurden geradezu pulverisiert und Kyoshi selbst konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken. Sie richtete sich mithilfe eines Windstoßes wieder auf, den sie dann gleich verstärkte und auf ihren Gegner losließ, der offensichtlich Schwierigkeiten hatte, dagegen anzukämpfen. Er versank in seinem Schatten und huschte über den Boden, bis er schließlich aus dem Schatten seiner Hütte hervorkam. Mit einem raschen Blick auf seinen vorherigen Standpunkt erkannte er, dass alle Bäume, die hinter ihm gestanden hatten, entwurzelt worden waren. Lange konnte er jedoch nicht darüber nachdenken, denn Kyoshi attackierte ihn bereits erneut. En-Dies Augen funkelten genervt. "Es reicht!", rief er und loderndes Plasma ging von ihm aus. Es war das erste Mal, dass er diese Technik anwendete. Noch nie zuvor hatte er sie im Kampf genutzt. Die Flammen radierten über den Boden, schossen auf Kyoshi zu und verschlangen alles auf ihrem Weg. Der Avatar reagierte schnell. Ihre Augen leuchteten hell auf, als sie ihren Avatar-Zustand aktivierte. Mit einem einzigen Anheben ihrer Hände ließ sie eine Unmenge an Wasser aus dem Sumpf schießen. Wie eine Flutwelle ergoss sich das kalte Nass über den Schatten und seine Plasmaflammen versiegten zischend. En-Die selbst wurde gegen die Stämme der nächsten Bäume geschleudert, wo er liegenblieb. Kyoshi baute sich über ihm auf und richtete ihre Fächer drohend auf ihn. "Ich fordere dich auf, den Schwur zu erfüllen, den deine Ahnen dem Avatar gaben! Wann immer der Avatar euch brauchen würde, so würdet ihr an seiner Seite stehen!" En-Die rappelte sich hustend in eine sitzende Position auf und spuckte das Wasser aus, welches noch in seinem Hals war und dort schlimmer brannte als Säure. "Du…du willst mir weismachen, dass du mich brauchst?", fragte er sie ungläubig. Kyoshi ließ ihre Fächer sinken. "Es gibt einen Bauernaufstand in BaSingSe. Der Erdkönig ist wie Chin. Er wird nicht auf mich hören. Ich brauche jemanden, der mich davon abhält, ihn zu töten, wenn er mir widerspricht", erklärte sie ihm. "Du hast dich schon viel zu lange hier versteckt. Es wird Zeit, dass du zurückkehrst, alter Freund." En-Die lehnte sich kraftlos an den Baumstamm, gegen den er eben noch geprallt war und lachte leise. "Es wird niemals enden, habe ich recht?", fragte er sie. "All der Tod, die Konflikte, das wird niemals enden." Die Frau sah ihn an und ihre sonst so kalten Augen wurden plötzlich mitfühlend. "Du bist viel älter als ich, En-Die. Sag du es mir", meinte sie. Der Schatten seufzte. "Es wird nie der Tag kommen, an dem es enden wird", beantwortete er dann seine eigene Frage. "Doch…vielleicht…vielleicht ist das das Wundervolle daran. Nichts währt ewig und das macht es wertvoll. Der Tod gibt dem Leben Bedeutung." Kyoshi lächelte. In all den Jahren, die er sie schon kannte, hatte En-Die sie noch nie so lächeln gesehen, wie sie es nun tat. "Ich brauche dich En-Die. Die Welt braucht den letzten Schatten", meinte sie. Der Genannte richtete sich mühsam zu seiner vollen Größe auf. "Dann werde ich zu dem Schwur meines Volkes stehen", antwortete er und sie nickte. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr Gesichtsausdruck wieder hart wie Stein und sie drehte sich schwungvoll um, wobei ihre Roben majestätisch im Wind flatterten. "Beeil dich, wir brechen noch vor Sonnenaufgang auf", wies sie ihn an. Erst jetzt bemerkte En-Die, dass der Mond inzwischen hell am Himmel stand. Er atmete die frische Nachtluft ein und gab sich dann einen Ruck, um seiner Freundin zu folgen.
En-Die ließ stieß einen langen Atemzug aus und öffnete seine Augen wieder, um den westlichen Lufttempel zu erblicken. Es hatte wirklich keinen Sinn, der Vergangenheit nachzutrauern. Sein Blick wanderte auf den Mond, der auch in dieser Nacht hell am Himmel stand, als er sich an ein Sprichwort erinnerte, das die Schatten stets sagten, wenn einer der Ihren gestorben ist. Die Stille, die seit dem Anbruch der Nacht und dem Verstummen der Gespräche seiner Freunde in der Schlucht herrschte, wurde von der Stimme des letzten Schattens gebrochen, als er die alte Weisheit wiederholte.
"Schau nicht zurück. Blick nur ins Licht. Geh weiter vorwärts. Bereue nichts."