Bald waren sie in dem kleinen Fischerdorf angekommen und En-Die brachte Sanchandra zu dem sehr erstaunten Stalljungen, der so ein Tier offensichtlich noch nie zuvor gesehen hat. Danach gingen die beiden in das Zimmer, welches En-Die für die Nacht gemietet hatte. "Und wohin wirst du morgen aufbrechen?", fragte der Schatten das Mädchen, welches gerade ihren Mantel abnahm. "Ich weiß es noch nicht. Ich kann nie länger an einem Ort bleiben und meistens ist es vollkommener Zufall, wohin ich gelange", antwortete sie. En-Die sah von seinem Pergament auf, auf welches er gerade einige Zeilen für seinen Reisebericht schrieb. "Wieso kommst du nicht mit mir?", fragte er sie. Leila, die gerade versuchte ein Glas zu öffnen, in dem verschiedene Fleischstücke waren, sah ihn groß an. "Meinst du das Ernst?", fragte sie zurück. Der Schatten stand auf, trat zu ihr und öffnete für sie das Glas. "Ja. Ich bin auf einer Reise um die ganze Welt um die Elemente zu studieren. Und auf so einer langen Reise kann es ganz schön langweilig werden, wenn man alleine unterwegs ist." Leila überlegte kurz, dann antwortete sie: "Warum nicht? Ich habe ja sowieso nichts Besseres zu tun, und außerhalb des Erdkönigreiches war ich noch nie. Es wäre sicher spannend etwas Neues zu erkunden." En-Die schmunzelte. Schwer vorstellbar, dass sie mit ihren einundachtzig Jahren noch nie herumgereist war. Aber der Schatten freute sich, dass er ihr helfen konnte. Vielleicht war es ja das, was sein Schicksal war. Anderen zu helfen.
Der Mond fiel hell auf die Landstraße, welche zu einem kleinen, aber dennoch sehr eleganten Kloster führte. Sanchandra tappte gemächlich auf die Gebäude zu. Auch En-Die war es anzusehen, dass er ziemlich müde war. Leila hingegen war putzmunter und blickte sich aufgeweckt um. "Ist es das?", fragte sie den Schatten aufgeregt. "Ja, das ist das Kloster der Steinmönche", antwortete er gähnend. "Bist du wirklich so müde?", fragte Leila verwundert. En-Die nickte nur, gab ansonsten jedoch keine Antwort. "Also ich fühle mich super", plapperte das Mädchen weiter. "Um es genau zu sagen habe ich mich selten frischer gefühlt." "Das liegt daran, dass Vollmond ist", meinte En-Die und deutete auf die Runde Scheibe am Himmel, die die Landschaft in ein schwummriges Licht tauchte. "In solchen Nächten ist deine Rasse ganz besonders – naja, wach. Man könnte dich mit einem Wasserbändiger vergleichen. Deine Kraft nimmt zu und ab, genauso wie der Mond", erklärte der Schatten, während der riesige goldene Skorpion langsam durch den großen Steinbogen in den Innenhof des Klosters trottete. Eine Gestalt mit langer Kutte kam ihnen entgegen und verbeugte sich vor ihnen. "Seid gegrüßt Reisende. Was führt euch in unser bescheidenes Kloster?" En-Die sprang von Sanchandras Rücken und verneigte sich ebenfalls vor dem Mönch. Seine Müdigkeit schien auf einmal wie weggeblasen zu sein. "Seid gegrüßt, Mönch des Steinklosters. Mein Name ist En-Die, Gesandter und Krieger der Schatten. Dies ist meine Freundin Leila, eine Blutlose", stellte er sie vor. Leila sah den Schatten verwirrt an, beschloss jedoch, nicht nachzufragen, was eine Blutlose ist. Noch nicht. "Ich bin auf einer Wissensreise und bitte um Erlaubnis, in Eurem Kloster die Erde zu studieren." Der Mönch schwieg kurz. Er schien zu überlegen. "Was lässt euch annehmen, dass Ihr hier die Antworten auf eure Fragen findet?", fragte er dann. "Euer Kloster ist der größte Hort für Erdbändiger-Wissen der gesamten Welt. Die meisten Menschen mögen dies vielleicht vergessen haben, doch wir Schatten haben uns immer daran erinnert." Der Mönch lächelte unter seiner Kapuze. "Weise gesprochen. Und es ist uns eine Ehre, einem Schatten helfen zu dürfen. Bitte folgt mir, ich werde Euch zu euren Schlafgemächern führen. Was Euer Reittier angeht so seid unbesorgt, wir werden uns darum kümmern." En-Die verneigte sich dankbar, dann bedeutete er Leila, dass sie dem Mönch folgen würden. Er führte sie in ein kleines Zimmer, das so niedrig war, dass sich der zwei Meter große Schatten ganz schön bücken musste. Das einzige Mobiliar war ein Strohbett, welches in der Mitte des Raumes stand. "Wartet hier, ich werde gleich zurückkommen." Dann waren sie alleine. "Was ist eine Blutlose?", fragte Leila sofort, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. "Der Ausdruck der Menschen für jemanden wie dich. Einen Blutsauger, der kein Blut saugt", erklärte En-Die ihr. Gleich darauf ging die Tür auf und der Steinmönch trug einen kleinen Sarg herein. "Für die Dame. Kommt morgen bei Sonnenaufgang ins Haupthaus. Dort werdet ihr alles Weitere erfahren und die Antworten finden, die Ihr sucht."
Am nächsten Morgen standen die beiden im großen Haupthaus. Vor ihnen saß ein alter Mann in einem Steinthron und musterte sie. "Ihr wollt also die Geheimnisse des Klosters studieren?", fragte er schließlich. "Ja", antwortete En-Die. "Schwört Ihr, dieses Wissen nur einzusetzen, um zu schützen, um zu helfen und niemals, um zu töten, oder um Eure eigenen Ziele zu erfüllen?" "Ich könnte jetzt sagen, dass ich es schwöre, aber dann würde ich mir selbst widersprechen. Denn meine eigenen Ziele sind es, den Leuten zu helfen und ich habe bereits geschworen, dass ich niemals töten werde." Der alte Mönch lachte laut. "So eine Antwort kann auch nur von einem Schatten kommen. Jeder andere hätte sofort beteuert, es zu schwören, nur damit er auf unsere Schriften zugreifen kann. Und darum hätte ich ihn fortgeschickt. Doch nicht Ihr. Ihr sagtet uns die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Darum erlaube ich Euch, in unserer Bibliothek zu lesen." Er machte ein paar Handbewegungen und hinter ihm öffnete sich ein Loch in der Steinwand. Er griff hinein und holte einen silbernen Schlüssel heraus. "Nehmt dies hier. Es ist der Schlüssel zu all unserer Weisheit", sagte er und übergab En-Die den Schlüssel. "Ich danke Euch. Ich verspreche, ihn Euch zurückzugeben, sobald ich meine Studien abgeschlossen habe", antwortete der Schatten und nahm den Schlüssel an.
En-Die und Leila standen vor dem großen Langhaus, so wie die Mönche es nannten, welches Leila schon bei ihrer Ankunft aufgefallen war, weil es das einzige Gebäude des Klosters war, welches ein Obergeschoß hatte. "Was genau ist da drin?", fragte sie. "Da drin ist die größte Sammlung von Erdbändiger-Wissen der gesamten Welt, die ich gestern erwähnt habe", antwortete er ihr. "Die Mauern dieses Gebäudes sind die stärksten im ganzen Erdkönigreich, kein Bändiger kann sie durchdringen. Der einzige Weg hineinzukommen ist dieser Schlüssel." Mit diesen Worten steckte er den silbernen Schlüssel in das Schloss der goldenen Türe. Quietschend öffneten sich die Pforten des Langhauses und En-Die entfachte einen Plasmaball in seiner Hand, der den Innenraum der riesigen Bibliothek in spärliches Licht hüllte. "Leila, bist du so gut und hilfst mir, die Kerzen anzuzünden?", bat der Schatten und das Mädchen nickte. Nach einigen Minuten fiel flackerndes Kerzenlicht auf die unzähligen Pergamente, Schriftrollen und Bücher, die aus den Regalen quollen und hier und da auch auf dem Boden verteilt waren. Spinnweben blockierten einige der Gänge und jedes Buch, welches En-Die aus dem Regal nahm, setzte eine Staubwolke frei. Nun wurde auch sichtbar, warum das Gebäude ein Obergeschoß hatte. Die Bücherregale ragten bis unter das Dach und an der Wand verlief eine Galerie. "Was für ein Saustall", kommentierte Leila das Ganze und ihr Freund kicherte. "Hier drinnen war seit vielen Jahrzehnten niemand mehr", erklärte er ihr. "Und wie lange wirst du hier jetzt bleiben?", fragte sie. "Solange, bis ich alles gelesen habe", antwortete er und Leila blickte entgeistert auf die Unmengen an Schriftstücke, die sich in dem Gebäude stapelten. "W-wie lange wird das dauern?", fragte sie stotternd und En-Die sah von dem Buch auf, welches er gerade in der Hand hatte. "Wenn du mich alle drei Sekunden störst sicher länger", antwortete er und das Mädchen entschuldigte sich. "Ich werde mich beeilen, aber merke dir, dass hetzen beim Lernen nichts bringt. Es bewirkt nur, dass du alles wieder vergisst." Das Mädchen sah beschämt zu Boden und der Schatten schmunzelte. "Aber hey, ganz egal wie lange ich brauche, du musst dir keine Sorgen über graue Haare machen", scherzte er und Leila musste lachen. "Schon verstanden, schon verstanden. Wenn ich mit dir reise, dann muss ich wohl auch darauf gefasst sein, manchmal länger wo zu bleiben", meinte sie und der En-Die nickte. "Das ist kein Problem", fuhr sie fort. "Ich kann mich gedulden. Wie du bereits sagtest, ich habe Zeit. Alle Zeit der Welt."