Zwei Jahrzehnte waren vergangen und En-Die hatte inzwischen seine Studien bei den Steinmönchen und bei den Lufttempeln beendet. Nun waren er und Leila auf dem Weg zum nördlichen Wasserstamm. Sie befanden sich auf einem großen Holzboot, welches von einigen Wasserbändigern über das Meer bewegt wurde. Leila saß im Inneren, um der Sonne, die erbarmungslos auf die endlosen Gewässer schien, zu entkommen. En-Die hingegen ging am Deck umher und beobachtete die Wasserbändiger bei ihrer Arbeit. Plötzlich entdeckte er eine Person, die überhaupt nicht hierher passte. Es war eine Luftbändigerin, die ebenfalls einem der Wasserbändiger zusah. Der Schatten brauchte kurz, um zu begreifen, wen er da vor sich hatte. Dann trat er zu ihr. "Seid gegrüßt Avatar Yangchen", begrüßte er die Dame und verbeugte sich leicht vor ihr. "Wer seid Ihr?", fragte Yangchen freundlich, aber bestimmt. "Erlaubt, dass ich mich vorstelle, mein Name ist En-Die ich bin Gesandter und Krieger der Schatten." Die Augen des Avatars weiteten sich. "Der En-Die? Der, der die Welt umreist, um die Elemente zu studieren?", fragte sie ihn ungläubig. "Na sieh mal einer an, mein Ruf eilt mir wohl voraus", meinte En-Die schmunzelnd. "Ich nehme an, dass Ihr auch hier seid, um das Wasser zu studieren?", fragte Yangchen den Schatten. "Bitte sagt du zu mir. So hochrangig bin ich auch nicht. Und ja, ich bin hier, um dieses Element zu erforschen. Wie Ihr vielleicht wisst, ist Wasser für uns Schatten schlimmer als Säure." Yangchen musste kichern. "Bitte duz mich, wenn ich das bei dir tun darf", meinte sie. Bald saßen die beiden zusammen und erzählten sich von ihren Reisen. Yangchen war verblüfft von En-Dies Fähigkeiten Flammen zu absorbieren, über die Erde Dinge zu erspüren und wie mit einem Gleiter durch die Luft zu schweben, indem er die Luft unter seinem Mantel mit Plasmaenergie erwärmte und damit Auftrieb erschuf, so wie er es bei den Luftbändigern gelernt hatte. En-Die hingegen war unglaublich fasziniert, als Yangchen drei Elemente auf einmal bändigte und in ihren Händen schweben ließ. "Für das Wasser bin ich hier. Es ist mein letztes Element", erzählte sie ihm. „Was wirst du am Nordpol suchen?" "Wenn ich ehrlich bin hege ich nicht gerade viel Hoffnung, dass ich Wasser nutzen kann. Aber ich möchte zumindest die Kampfstile studieren um mich auch gegen Wasserbändiger wehren zu können", antwortete der Schatten ihr. "Wir werden sicher noch öfter die Gelegenheit haben uns auszutauschen, aber fürs erste sollten wir uns aufs Anlegen konzentrieren", meinte er dann als er sah, dass sie sich dem Hafen des nördlichen Wasserstammes näherten. Yangchen nickte und verabschiedete sich, um sich fertig zu machen, während der Schatten unter Deck ging, um Leila zu holen.
En-Die saß an dem großen Schreibtisch und las sich Schriftrolle um Schriftrolle durch. Der ganze Raum war mit Büchern vollgestopft, die der Schatten bereits gelesen hatte und überall lagen Notizen, die er sich gemacht hatte. Die Tür ging auf und Leila kam herein. Sie trug ein silbernes Tablett mit Früchten, Fisch und Wasser. "Du hast vergessen etwas zu essen", meinte sie vorwurfsvoll und stellte das Tablett auf En-Dies Schreibtisch ab. Der Schatten sah von seiner Schriftrolle auf. "Danke Leila", meinte er kurz, dann beugte er den Kopf wieder über die Dokumente. Leila sah ihn an und seufzte. "Hör mal En-Die, ich weiß dass die Sonne nicht gut für mich ist, aber für einen Schatten kann es doch nicht gesund sein, andauernd nur drinnen zu sitzen. Komm mal wieder raus." "Leila ich bin hier gerade am Studieren einer neuen Technik", antwortete En-Die geistesabwesend. Die Blutsaugerin runzelte verärgert die Stirn. "Schluss jetzt! Du kommst mit", meinte sie bestimmt und nahm seine Hand. Als sie ihn durch das halbe Zimmer gezerrt hatte merkte sie, dass En-Die sich gegen sie stemmte. "Leila, ich muss das noch zu Ende bringen!", rief er. Leila zerrte stärker an ihm. "Du kommst mit!", rief sie. "Geht nicht, ich bin noch nicht fertig!" Ihre Augen begannen rot zu leuchten. "Red doch keinen Quatsch!", rief sie und zerrte ihn mit einem gewaltigen Ruck aus dem Zimmer.
Einige Stunden vergingen, in denen Leila En-Die nicht aus den Augen ließ. "Du brauchst die frische Luft", meinte sie. "Du kannst nicht den ganzen Tag in dieser stickigen Kammer verbringen." "Sagt ausgerechnet die, die in einem Sarg schläft", murrte ihr Freund und klang dabei fast wie ein kleines Kind, dem seine Süßigkeiten weggenommen worden sind. "Komm schon, du hast ja fast schon einen Wasserschaden von der ganzen Lernerei." En-Die gab es zwar nicht gerne zu, doch vielleicht hatte sie ja recht. Er hatte in letzter Zeit nur sehr selten sein Zimmer verlassen, weil er zu beschäftigt gewesen war. Seine Gedanken wurden von Leilas Stimme unterbrochen. "Es ist genauso wie damals beim Lufttempel. Du hast nicht mal für eine Sekunde daran gedacht, die Luftbändiger in Aktion zu sehen, du bist nur über deinen Büchern gehangen", meinte das Mädchen gerade. "Du hast ja recht. Es tut mir leid", entschuldigte er sich und senkte seinen Kopf leicht vor ihr. Leila sah ihn mitfühlend an. "Du stresst dich zu sehr. Du musst nicht beweisen, dass du der Beste bist", sagte sie leise. Dann hob sie seinen Kopf sanft an. En-Die sah in ihre roten Augen und seufzte. "Wo ich herkomme unterliegt alles strengen Regeln. Wir schotteten uns von der Außenwelt ab und nur wenige Schatten durften jemals die Stadt verlassen. ‚Hier sind wir sicher. Hier gehören wir hin.‘ Diese Dinge haben uns die Ältesten immer gesagt, doch das war nie genug für mich. Ich wollte die Welt sehen, ich wollte nicht für alle Ewigkeiten in diesem Vulkan feststecken." "Vulkan?", fragte Leila neugierig. En-Die lehnte sich gegen das Brückengeländer und nickte. "Die ewige Stadt, so wie wir sie nennen, liegt in einem erloschenen Vulkan in der Feuernation. Der flammende Berg. Dort leben die Schatten schon seit Jahrtausenden in Frieden und Harmonie", erzählte er. "Das klingt doch eigentlich recht angenehm", meinte das Mädchen schmunzelnd. "Aber langweilig. So langweilig. Was nützt einem die Ewigkeit, wenn man nichts erlebt und immer dasselbe sieht, tagein tagaus? Ich hatte immer Angst, dass mein Leben so wird. Darum…darum stresse ich mich so sehr. Ich möchte unbedingt anders sein." Leila lächelte sanft und nahm En-Dies klauenartige Hände in ihre. "Du musst keine Angst haben En-Die. Für mich wirst du immer der Beste sein."