"Du warst schon mal in BaSingSe, oder?", fragte Katara den Schatten neugierig und En-Die nickte. "Ja das stimmt. Ich war schon öfter in der Stadt und es wurde mit jedem Mal schlimmer", antwortete er. Toph, die hinter den beiden herging kicherte. "Ich sagte doch, dass große Städte Mist sind", meinte sie. "Das letzte Mal, als ich dort war, stand die Stadt in Flammen", erzählte En-Die weiter, ohne die Erdbändigerin zu beachten. Sokka war der erste, der verstand, worauf der Schatten hinauswollte. "Willst du damit etwa sagen, dass du bei der letzten Schlacht von BaSingSe dabei warst?", fragte er aufgeregt. En-Die antwortete nicht, doch sein Gesicht sprach Bände. "Du warst dabei", stellte Katara fest. "Du musst uns davon erzählen!" "Was genau ist passiert?" "Wie ist der Drache des Westens durchgekommen?", bestürmten sie ihn mit Fragen. "Na schön von mir aus, heute Abend werde ich es euch erzählen", beruhigte er seine Freunde. "Der Schlangenpass ist kein Ort, wo man im Gehen Geschichten erzählen sollte." Damit bezog sich En-Die auf den gefährlichen Pass, den sie momentan passierten, weil sie zusammen mit Suki, Sokkas Freundin, die sie in dem geheimen Hafen der Fähre wiedergetroffen hatten, eine kleine Familie eskortierten, die nicht auf die Fähre nach BaSingSe durfte, weil man ihnen ihre Pässe gestohlen hatte. Und zu allem Überfluss war die Mutter auch noch schwanger. Der Pass war gefährlich, aber auch der einzige Weg in die große Hauptstadt des Erdkönigreiches, wenn man nicht die Fähre nutzte und so stimmten die anderen widerwillig zu. Die Zeit verging jedoch wie im Flug und bald schon saß das Team um ein Lagerfeuer herum, welches sie auf einem kleinen Plateau entfacht hatten. "So, dann fang mal an", drängte Toph und der Schatten seufzte. Wortlos formte er eine Plasmakugel, die immer größer wurde und ließ sie schließlich über dem Lagerfeuer in der Luft schweben. "Ich bin nicht gut im Erzählen von Geschichten", meinte En-Die. "Seht euch meine Erinnerung also einfach selbst an." Er deutete auf die Plasmakugel, in der sich Bilder verschwommen widerspiegelten. "Ansehen?", fragte Toph sarkastisch. "Ich garantiere dir, dass auch du etwas wahrnehmen wirst", versicherte der Schatten ihr und drehte ihren Kopf in Richtung Kugel. Die Bilder wurden plötzlich klarer und mit einem Mal hüllte sie das Licht ein und beförderte sie in die Erinnerung des Schattens.
Die aufgehende Sonne spiegelte sich in dem goldenen Panzer des Skorpiones, als das riesige Tier auf der Kuppe des Hügels erschien. En-Die saß auf Sanchandras Rücken und blickte auf die Mauern von BaSingSe hinunter. Die Armee der Feuernation prallte wie Wellen gegen die Stadt, doch die Mauern gaben immer noch nicht nach. Sanchandra klackte mit ihren Kieferzangen. "Mir gefällt der Anblick auch nicht. Komm schon, wir müssen auf die Mauer", meinte En-Die. Der Skorpion brüllte laut und preschte los. Doch weit kamen sie nicht. Eine Gruppe von Feuerbändigern hielt sie auf und umzingelte sie. "Halt! Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?", rief einer. "Mein Name ist En-Die", antwortete der Schatten ruhig und achtete genau auf seine Gegner. "Was wollt Ihr hier?", fragte einer der Männer. "Ich möchte diesem Kampf Einhalt gebieten. General Iroh, nehme ich an." Der General sah ihn kurz überrascht an, doch dann sagte er: "Ich habe von Euch gehört. Ihr seid der letzte Schatten. Doch wenngleich Euer Ziel nobel ist, so muss ich Euch bitten zu gehen. Wir dürfen Euch nicht durchlassen." En-Die war beeindruckt. Dieser General war ausgesprochen höflich dafür, dass er ein Feind von ihm war. "Ich gebe Euch eine Chance General. Zieht friedlich ab", meinte er. "Ich fürchte, das kann ich nicht", antwortete Iroh. "Ihr müsst wohl erst einen Verlust erleiden, bevor Ihr versteht, wie sinnlos dies alles ist." Die Feuerbändiger machten sich bereit zum Angriff. "Ihr könnt uns nicht besiegen. Ihr seid in der Unterzahl!", rief Iroh. "Mag sein. Doch Ihr seid ohne jeden Zweifel schwächer." Die Feuerbändiger schossen Flammenfontänen ab, die den Schatten einhüllten. Doch dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet haben. En-Die bündelte die Flammen in einem Plasmaball und absorbierte sie bis auf den letzten Funken. Dann ließ er die gesamte Energie in Form einer Druckwelle los, welche seine Gegner zu Boden gehen ließ. En-Die sah auf Iroh herab. "Danke für Eure Zeit General." Er gab Sanchandra die Sporen und ritt los. "Gib alles mein Mädchen!", rief der Schatten seinem Skorpion zu. Sanchandra durchbrach den hölzernen Verteidigungswall und fegte durch die Truppen der Feuernation. Alles und jeder, der sich ihnen in den Weg stellte wurde gnadenlos aus ihrer Bahn gefegt. Bei der Mauer angekommen sprang der Skorpion gut zehn Meter in die Luft und landete dann an der Wand, bevor er begann senkrecht nach oben zu klettern. Oben angekommen wurden sie auf der Stelle von Erdbändigern umstellt. Sanchandra klackte bedrohlich mit ihren Fangscheren, griff jedoch nicht an. Plötzlich trat ein Mann mit grünem Umhang zu ihnen. En-Die sprang ab und ging ihm entgegen. "Sei gegrüßt En-Die. Ich wünschte, wir könnten dich unter erfreulicheren Umständen willkommen heißen", begrüßte der Mann ihn. "Wären die Umstände erfreulicher, würde ich dich nicht beehren mein alter Freund", antwortete der Schatten. Plötzlich verblassten die Bilder.
Das Team saß wieder am Lagerfeuer. Die Erinnerung war zu Ende und nun lauschten sie gebannt dem Schatten, der weitererzählte. "Und was geschah dann?", fragten sie aufgeregt. "Die Belagerung dauerte noch zehn Tage an, doch schließlich gelang es der Feuernation, die Mauer zu durchbrechen. Zusammen mit den Erdbändigern hielten wir sie zurück, bis ich gezwungen war, all das Feuer zu absorbieren und zu schießen. Der Strahl sollte niemals jemanden töten, doch er tat es…" Der Schatten schwieg. Anstatt selbst fortzufahren, formte er den nächsten Plasmaball, um erneut eine Erinnerung mit seinen Freunden zu teilen.
Ein Schrei hallte über das Schlachtfeld. Alle Krieger hielten Inne, keine Flamme schoss, kein Stein flog. General Iroh kniete über seinem Sohn und Tränen stiegen ihm in die Augen. En-Die trat zu ihm. Iroh sah ihn an, doch in seinen Augen spiegelte sich nicht Hass, sondern tiefe Trauer. En-Die erkannte sofort, dass er wusste, dass er es nicht absichtlich getan hatte. Und doch war das Ausmaß dieses Vorfalls so enorm, dass Iroh einen einzigen Befehl gab. "Wir verlassen BaSingSe!", rief er über den Platz. Die Soldaten der Feuernation gehorchten ohne Widerrede. Sie erkannten, dass das, was Iroh gerade geschehen war, tiefer schnitt als jeder Schwerthieb. "Ich teile Euch mein Beileid mit. Das jemand stirbt war für den heutigen Tage nicht vorgesehen", meinte En-Die zutiefst betroffen. "Ihr hattet Recht. Ich musste erst einen Verlust erleben, bevor ich die Sinnlosigkeit erkenne. Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten." Der Schatten sah den Feuerbändiger erwartungsvoll an. "Begrabt meinen Sohn hier in BaSingSe, damit er immer im Inneren dieser Mauern sein darf." "Nein", antwortete En-Die. Iroh sah ihn verwirrt an. "Ihr werdet ihn selbst begraben. Ihr seid mein Gast." Und so geschah es, dass zum ersten Mal seit über neunzig Jahren ein Feuerbändiger friedlich in BaSingSe einkehrte. Sie begruben Irohs Sohn auf einem Hügel unter einem Kirschbaum. "Habt Dank", meinte Iroh. "Ich vergebe Euch." Er wollte gehen, doch En-Die hielt ihn zurück. "Ihr solltet nicht so vorschnell gehen. Ich sagte, dass Ihr mein Gast seid. Bleibt und betet für Euren Sohn, solange Ihr es wünscht." Und so verweilte der General bis die Sonne unterging bei dem Kirschbaum . Am Abend verabschiedete En-Die ihn am Tor. "Nehmt dies mit auf Euren Weg", sagte er und drückte Iroh einen kleinen Gegenstand in die Hand. "Weshalb?", fragte Iroh. Er öffnete seine Hand und blickte auf einen kleinen weißen Lotusstein. "Was soll ich mit diesem Pai-Sho Spielstein?" "Dieser Stein ist…ist…ist…" En-Dies Stimme verhallte.
Mit einem Mal saß das Team wieder beim Lagerfeuer. "Was war denn das für ein Ende?", fragte Sokka verwirrt. "Ja, es war irgendwie abgehackt und verzerrt", stimmte Katara ihrem Bruder zu. "Die letzten Worte waren nicht für eure Ohren bestimmt. Ich habe euch gezeigt, was geschehen ist, ich habe euch gezeigt, wie es zum Abzug kam und ich habe euch gezeigt, dass nicht alle Feuerbändiger böse sind." "Ausnahmen bestätigen die Regel", meinte Sokka. Der Schatten sah ihn plötzlich so wütend an, dass der Junge erschrocken zurückwich. "General Iroh hat an jenem Tag etwas getan, was schlimmer als alles andere für einen Menschen ist. Er hat demjenigen vergeben, der ihm das Wichtigste nahm", erklärte En-Die sauer. "Ich habe euch das gezeigt, damit ihr nicht in dem Glauben heranwachst, dass alle Menschen schlecht sind, nur weil sie dasselbe Element bändigen." "War das richtig gegenüber seinem Sohn, oder hätte er es lieber nicht tun sollen?", fragte Aang. "War es richtig gegenüber Appa, oder hättest du es lieber nicht tun sollen?", fragte der Schatten zurück und der Luftbändiger zuckte zusammen. "Wenn man die Wahl hat, zwischen Rache und Vergebung, dann ist es immer besser, den friedlichen Weg zu wählen, anstatt den leichten." En-Die hatte anscheinend nichts weiter zu sagen, denn mit diesen Worten stand er auf und ging zu einem knorrigen Baum, der am Klippenrand stand, um sich schlafen zu hängen. "Er ist manchmal echt seltsam", flüsterte Sokka. "War er schon immer so?", fragte Suki Aang und der Avatar nickte. "Eigentlich schon. Er war schon immer geheimnisvoll. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, dass er mehr weiß, als er zugibt, aber immer auf den richtigen Moment wartet, um es zu erzählen", antwortete er. "Er ist schon sehr alt", murmelte Toph leise. "Er hat mehr gesehen, als wir alle zusammen. Naja, es ist nicht schwer, mehr als ich zu sehen, aber ihr wisst, was ich meine. Er weiß darum auch mehr, als wir alle zusammen. Und je mehr jemand weiß, desto verschwiegener ist er." "Da hast du recht", stimmte Aang der Erdbändigerin zu und blickte auf seinen Freund, der inzwischen mit geschlossenen Augen an dem Baum hang. "Ich frage mich, ob ich jemals alles über dich wissen werde", flüsterte er. Unbemerkt von seinen Freunden seufzte En-Die leise. "Vielleicht in einem anderen Leben Aang."